Die 100 Gesichter
des Todes,
Folge IV
Er wußte, daß er echt Mist gebaut hatte.
Auf eine ganz gewaltige und nicht wiedergutzumachende Weise. Man
sah deutlich, wie diese Erkenntnis in seinen Augen Gestalt annahm –
die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen wie hartgekochte
Eier, die ihm durch den Schädel gepreßt wurden –, und die Kamera
blieb fest auf ihn gerichtet. Er war auf einer Bühne, hervorragend
beleuchtet, und ein breites Banner proklamierte DER GROSSE RENALDO – ENTFESSELUNGSKÜNSTLER. Der
Schweiß rann ihm herunter. Troff von ihm herab. Seine Poren waren
riesengroß, prall gefüllt, enorme Krater, die sein Gesicht wie
eitrige Pusteln übersäten. Zwei Meter über ihm hing an einem
Flaschenzug ein geschmolzener Meteorit aus Schrottmetall von der
Größe eines LKW-Motors, dessen
Unterseite mit den blitzenden spitzen Zähnen von einhundert
gehärteten Küchenmessern aus den Schmieden Guadalajaras gespickt
war. Renaldos Arme waren mit Handschellen an seine Fußknöchel
geschnallt, und etwas, das aussah wie die Ankerkette eines
Schleppdampfers, war sechs- bis achtmal um seinen Körper
geschlungen und dann mit dem Betonfußboden verschraubt. Seine
reizende Assistentin, eine stark geschminkte Frau, deren
Oberschenkel aus ihrem Röckchen hervorquollen wie große,
kupferfarben gebratene Keulen, machte ein Gesicht, als wäre jeder
Schrecken und jeder Alptraum ihres Lebens im bitteren Ausfluß
dieses Augenblicks destilliert. Dieser Teil gehörte eindeutig nicht
zu der Nummer.
»Jetzt sieh hin«, sagte Jamie. »Sieh dir
das an.«
Janine packte meine Hand fester. Das
Zimmer ringsherum wurde enger. Das Bier in meiner freien Hand war
warm geworden, und als ich es an die Lippen hob, schmeckte es nach
Hefe und Alu. Und was fühlte ich? Ich fühlte mich so, wie die
reizende Assistentin aussah, fühlte dieselbe kalte Mischung aus
Ekel und Erregung, von der ich erfaßt worden war, als ich mit
vierzehn meinen ersten Pornofilm sah, fühlte eine behaarte Hand,
die mir an die Kehle fuhr und dort einen kleinen Hebel
umlegte.
Als das Video anfing, noch während des
Vorspanns, steckte zwischen Renaldos Zähnen ein Reisighalm – ein
einzelner Reisigstrohhalm, gelb und starr, der kleinste Bestandteil
eines Besens. Er neigte sich vor und bugsierte den harten Halm in
die winzige Öffnung des Handschellenschlosses. Jetzt aber, wohl
weil ihm allmählich dämmerte, daß dies nicht sein Tag und die
Konsequenz dieser Tatsache unwiderruflich war, begannen seine
Lippen zu zittern, so daß ihm der Strohhalm aus dem Mund fiel. Die
reizende Assistentin grinste verkrampft in die Kamera und versuchte
dann, vorzupreschen und jenes unerläßliche Stückchen Vegetation in
den Mund des Artisten zurückzubugsieren, doch es war zu spät. Mit
einem dumpfen, schlürfenden Ton, dem Geräusch von Autoreifen, die
durch nassen Schnee rollen, löste der Zeitschalter den Mechanismus
aus, der den eisernen Monolithen herabfallen ließ, und Renaldo war
nicht mehr.
Jamie sagte etwas in der Art: »Der Typ hat
ganz schön was abgekriegt.« Und dann: »Noch jemand ein Bier?«
Ich sah mir noch weitere neunundneunzig
Permutationen des letzten Augenblicks an, unterschiedlich
beleuchtet und mal leidenschaftlich, mal ungerührt dargestellt, sah
mir an, wie der Bankräuber mit Skimütze und einer 44er-Magnum erst
seiner Geisel und dann sich selbst den Kopf wegschoß, als wären’s
reife Weintrauben, sah zu, wie die Feuerschluckerin sich selbst
anzündete und wie der Holzfäller zum letztenmal seine Kettensäge
ansetzte. Jamie, der das Video schon ein halbes dutzendmal gesehen
hatte, mußte dauernd loslachen. Janine sagte gar nichts, hielt aber
die ganze Zeit meine Hand fest. Ich meinerseits erinnere mich nur,
daß ich nach dem dritten oder vierten Tod nichts mehr spürte, aber
ich blieb trotzdem weiter sitzen, obwohl mir noch sechsundneunzig
bevorstanden.
Aber wer zählte schon mit?
Am Wochenende danach starb meine Tante
Marion. Oder »sie ging dahin«, wie meine Mutter es ausdrückte, ein
feiner Euphemismus, der ätherische Reiche heraufbeschwor und nicht
das öde Schwarzweißbild von feuchter Erde und wühlenden Würmern.
Meine Mutter war in New York, ich in Los Angeles. Und nein, ich
würde wegen des Begräbnisses nicht extra hinüberfliegen. Sie weinte
kurz und trocken, dann legte sie auf.
Ich war damals fünfundzwanzig, Absolvent
einer unbekannten Uni, ein junger Mann, der zur Arbeit ging und
Geld verdiente, die Gesellschaft junger Frauen suchte und
vielleicht zuviel Zeit mit alten Jugendfreunden verbrachte, vor
allem mit Jamie. Ich horchte eine Weile auf die Stille in der
Leitung, dann rief ich Janine an und lud sie zum Essen ein. Sie
hatte etwas vor. Und wie wäre es mit morgen? fragte ich. Da hatte
sie auch schon vor, etwas vorzuhaben.
Seit zehn Jahren hatte ich meine Tante
Marion nicht mehr gesehen. Ich hatte sie als zaundürre Frau im
Rollstuhl in Erinnerung, mit zitternder Lippe und einer Nase
darüber, die wie ein Felsvorsprung hervorragte, einer Nase, die
qualitativ nicht anders als die meiner Mutter war, und nach Ablauf
einer weiteren Generation würde auch meine so aussehen. Ihr Tod war
die Folge eines Unfalls – einer Nachlässigkeit, behauptete meine
Mutter –, und schon jetzt, keine vierundzwanzig Stunden danach, war
ein Rechtsanwalt im Spiel.
Anscheinend hatte Tante Marion einen
Ausflug ins Museum gemacht, zusammen mit ein paar anderen Insassen
des Altersheims, in dem sie seit Nixons Präsidentschaft
untergebracht war, und der Pfleger hatte sie oben auf der Rampe am
Hinterausgang der Museumscafeteria stehenlassen und dabei versäumt,
die Bremse hinten an den Rädern ihres Rollstuhls richtig
festzuklemmen. Tante Marion litt an einer progressiven
Nervenkrankheit, die ihre Gliedmaßen langsam unbrauchbar machte –
ihren motorisierten Rollstuhl konnte sie nur mit Hilfe eines
Joysticks steuern, den sie sich zwischen die Zähne nahm, und auch
das nur in ihren guten Momenten. Allein gelassen am höchsten Punkt
der Rampe, während der Pfleger den nächsten Patienten holen ging,
fühlte Tante Marion, wie ihr Stuhl sich unerbittlich vorwärts
bewegte. Allmählich wurde sie schneller, und eine der beiden
Zeuginnen des Unfalls behauptete, sie hätte sich mit dem Gesicht
über den Steuerknüppel gebeugt, um anzuhalten, während die andere
darauf beharrte, sie habe überhaupt nichts zu ihrer Rettung
unternommen, sondern sei ganz einfach die Rampe hinab und hinein in
die Ewigkeit gerollt, ein eingefrorenes schmales Lächeln auf den
Lippen. Auf jeden Fall ließ sich Schuld zuweisen, eine sehr
spezifische, unleugbare Schuld, eine Kette von Ursache und Wirkung,
die Tante Marions Entfernung aus dieser Daseinssphäre erklärte, und
letzten Endes verschaffte dies meiner Mutter einen gewissen
Trost.
Aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich
konnte mir Tante Marions Gesicht im Todeskampf nicht vorstellen.
Mein eigenes Blut war beteiligt, meine eigene Nase. Und doch war
alles irgendwie fern von mir, weit weg, und der Tod des Großen
Renaldo blieb mir auf eine Weise nahe, wie es der von Tante Marion
nie hätte sein können. Ich weiß nicht, was ich an diesem Wochenende
dann noch machte, aber in der Rückschau fällt mir die Küstenstraße
ein, ein offenes Kabriolett, Jamie, eine ganze Reihe von Bars mit
bunt angestrahlten Tanzflächen und Terrassen und Frauen, die
überaus lebendig waren.
Janine versank in Vergessenheit,
ebenso wie Carmen, Eugenie und Katrinka, und Jamie zog weiter durch
die große blutende Welt. Er verbrachte die nächsten acht Monate
damit, die finstersten Ecken von Ländern zu erforschen, die
zwischendurch mehrmals den Namen wechselten, die Sorte Gegend, in
deren Straßen Menschen so selbstverständlich den Tod fanden, wie
Blumen in der Erde keimten und Tauben die Denkmäler des
Generalissimo des Monats vollkackten. Ich arbeitete. Setzte Geld
um. Jemand schenkte mir eine Katze. Sie schiß in eine Kiste unter
der Spüle und erfüllte das Haus mit Friedhofsgestank.
Jamie war schon seit zwei Monaten zurück,
ehe er bei mir vorbeischaute, um mich zu einer Party in der
riesigen Nekropolis des San Fernando Valley einzuladen. Er hatte
jetzt eine Stelle: fünf Tage die Woche impfte er den Sechs- bis
Siebenjährigen an der Thomas-Jefferson-Grundschule von Pacoima
moralisches Denken ein, die Wochenenden behielt er seinen
pubertären Leidenschaften vor. Mir war nicht klar gewesen, wie sehr
er mir gefehlt hatte, bis ich ihn vor meiner Wohnung stehen sah. Er
sah aus wie früher – schlaksig, glubschäugig, ein gerupftes Huhn im
Surferdreß –, bis auf die Nase. Sie war entzündet, verstümmelt, ein
Klumpen Fleisch, den irgendein wahnsinniger Leichenräuber ihm auf
das Gesicht aufgepfropft hatte. »Was ist mit deiner Nase passiert?«
fragte ich, auf alles Vorgeplänkel verzichtend.
Er zögerte und brachte unter dem
Verandalicht langsam ein Grinsen zustande. »Hab in ’ner Bar Streit
gekriegt«, sagte er. »Der Kerl hat sie mir abgebissen.«
Sie hatten ihm die Nasenspitze wieder
angenäht – nicht ganz an der richtigen Stelle, denn sie würde wohl
für immer fast unmerklich nach links weisen –, aber etwas anderes
fand er viel interessanter. Er schob sich an mir vorbei ins
Wohnzimmer, kramte eine Zeitlang in der Tasche und reichte mir dann
eine Serie von Schnappschüssen: Nahaufnahmen seines Gesichts kurz
nach der Operation. Gestärkte weiße Laken, ein Nest aus Kopfkissen,
Jamies triumphierendes Grinsen und eine seltsame, glänzende
schwarze Linie auf seinem Nasenrücken, dort wo der Verband sein
sollte. Die Fotos zeigten das schwarze Ding von oben, von unten,
von vorn und im Profil. Jamie sah mir über die Schulter. Er sagte
kein Wort, atmete aber rasch und flach. »Also, was ist das?« fragte
ich und drehte mich herum. »Was soll das darstellen?«
Ein Wort, saftig wie Fruchteis:
»Blutegel.«
»Blutegel?«
Er kostete den Moment aus, das
Rampenlicht. »Genau, Alter, ist das Allerneueste. Die nehmen sie,
um die kleinen Blutgefäße wiederherzustellen, diese Kapillaren und
so, die sich nicht vernähen lassen. Das Saugen bringt’s«, und dabei
machte er ein schmatzendes Geräusch. »Saug, saug, saug. Ich habe
sie drei Tage lang auf der Nase mit rumgeschleppt – und jedem im
Krankenhaus einen Heidenschreck damit eingejagt.« Er sah mir in die
Augen. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich ab. »Nur mit nach
Hause durfte ich sie nicht nehmen – das war echt Scheiße.«
Auf der Party waren sieben Leute –
drei Frauen und vier Männer, uns eingeschlossen –, wir saßen um
einen bürgerlichen Eßtisch und knabberten Carnitas, dazu spielte
die Stereoanlage leise, kaum hörbar, einen aufrührerischen Rap. Die
Gastgeber hießen Hilary und Stefan, ihr Haus lag in Hörweite des
Ventura Freeway, und sie lehrten zusammen mit Jamie an der
Grundschule von Pacoima. Hilarys Schwester Judy war auch da, das
Endprodukt von psychosomatischen Diäten und Bräunungsstudios,
zusammen mit ihrer Freundin Marsha und einem Mann Mitte Vierzig mit
aufgeföntem Haar und Ziegenbärtchen, dessen Namen ich nie recht
verstand. Wir tranken Bier mit etlichen Tequilas dazwischen und
aßen Flan zum Nachtisch. Die Unterhaltung drehte sich um Jamies
Nase, Blutegel, geregelten Stuhlgang und den Tod. Ich weiß nicht,
wie wir eigentlich darauf kamen, aber nach dem Essen setzten wir
uns gemächlich in zwei weiche avocadofarbene Sofas und eröffneten
unsere Anthologie der letzten Augenblicke. Ich machte vom Klo den
Umweg über die Küche, um mir ein neues Bier zu holen, und kam
wieder dazu, als Judy, in ihre Sonnenbräune eingehüllt, als wäre
sie einem Sarkophag von Karnak entstiegen, die Geschichte eines
Studentenpärchens erzählte, die beide die Natur und einander
liebten und von Point Dume aus eine Kajaktour unternahmen.
Es war Winter, und das Wasser war kalt.
Eine ganze Serie von Stürmen war aus dem Golf von Alaska
herangezogen, und von den Hügeln troff der Schlamm. Im San Fernando
Valley hatte es Frost gegeben, und Judys Mutter war eine zwanzig
Jahre alte Bougainvillea eingegangen. Ein fatales Ingredienz, die
Kälte. Die gefährlichen Haie – die großen weißen – blieben
normalerweise weit im Norden, in der Nähe der San Francisco Bay, um
die Farallon Islands und jenseits davon, bei den Seehunden. Denn
davon ernährten sie sich: von Seehunden.
In Judys Geschichte hatte das Pärchen die
Kajaks aneinandergebunden und sich dann ausgeruht, ein Sandwich
gegessen, vielleicht waren sie sogar aufeinander scharf geworden –
hatten sich geküßt und durch die Neoprenanzüge hindurch befummelt.
Der Hai hätte eigentlich nicht dasein sollen. Er hätte die Rümpfe
ihrer Kajaks nicht für die Silhouetten von zwei fetten, saftigen,
träge herumdümpelnden Seehunden halten sollen, aber er tat es. Das
Mädchen ertrank, weil sie wegen des Blutverlusts und der Kälte des
Wassers das Bewußtsein verlor. Ihr Freund wurde nie gefunden.
»Meine Güte«, sagte der ältere Typ und hob
die Hände. »Schlimm genug, den Löffel abgeben zu müssen, aber als
Haifischkacke zu enden...«
Jamie, der leise in seine Bierflasche
gepustet hatte, wirkte irritiert. »Aber woher weißt du das alles?«
wollte er wissen und sah dabei Judy an. »Ich meine, bist du
dabeigewesen? Hast du zugesehen, vielleicht von einem anderen
Schiff aus?«
Sie hatte nicht zugesehen. War nicht
dabeigewesen. Hatte nur in den Zeitungen davon gelesen.
»Mm-mh«, sagte Jamie vorwurfsvoll und hob
mahnend den Zeigefinger. »Das gilt nicht. Man muß dabeigewesen
sein, es tatsächlich selbst gesehen haben.«
Der ältere Typ beugte sich vor, zündete
sich eine Zigarette an und erzählte von einem Unfall, den er auf
der Autobahn beobachtet hatte. Er war auf dem Rückweg aus der
Wüste, es war Montag abend, irgendein Feiertag, und wegen des
langen Wochenendes herrschte viel Verkehr, aber man kam noch zügig
voran. Vier Burschen in einem Pritschenwagen hatten ihn überholt –
drei vorn im Führerhaus, der vierte hinten auf der Ladefläche,
neben ihm ein Motorrad, stehend aufgebockt. Sie fuhren rechts an
ihm vorbei, und zwar mit ziemlichem Tempo. Der Junge, der hinten
saß, fühlte sich wohl etwas gelangweilt und einsam, deshalb schwang
er sich zum Spaß auf das Motorrad. Er nahm auf dem Sitz Platz,
lehnte sich gegen den Fahrtwind, der über das Führerhäuschen pfiff,
und tat so, als hätte er die letzte Runde in einem Moto-Cross vor
sich. Bedauerlicherweise – und dies war der morbide Kitzel bei der
Erzählrunde: immer war der Geschichte ein empathisches Adverb
angefügt, ein »Leider«, ein »Dummerweise« oder ein
»Bedauerlicherweise«, das den Zuhörern das Herz schneller schlagen
ließ – bedauerlicherweise also staute sich in diesem Moment der
Verkehr abrupt, der Fahrer trat voll auf die Bremse, und der
Eben-noch-Moto-Cross-Champion knallte seitlich gegen die
Fahrerkabine und segelte dann durch die Luft wie ein Akrobat. Und
akrobatengleich rappelte er sich wie durch ein Wunder gänzlich
unversehrt auf. Der ältere Typ machte ein Pause, schnippte die
Asche weg. Bedauerlicherweise jedoch – da war es wieder – erwischte
ihn das nächste Auto mit hundert Sachen an der Hüfte und
schleuderte ihn unter die Räder eines Sattelschleppers auf der
Nebenspur. Acht weitere Wagen überrollten ihn, ehe der Verkehr zum
Stillstand kam, und dann war nichts mehr von ihm übrig außer einem
Fettfleck mit Haaren.
Hilary erzählte die Geschichte vom
»Tigermann«: dieser Bursche hatte ein ganzes Jahr täglich acht
Stunden lang vor dem Tigergehege im Zoo von L.A. gestanden und war
dann plötzlich auf dem Ast eines Eukalyptusbaums entdeckt worden,
der zehn Meter in das offene Gehege hineinragte – genau in dem
Augenblick, als er das Gleichgewicht verlor. Sie hatte damals an
dem Erfrischungsstand gleich daneben gearbeitet, als Sommerjob
während des Studiums, und sie hörte die Leute rings um die
Einfassungsmauer schreien und das Brüllen und Fauchen der Tiger und
dachte erst, die Tiere würden miteinander kämpfen. Als sie dazukam,
war der Tigermann schon in zwei Stücke gerissen, und seine Gedärme
lagen auf dem Gras verstreut wie blaue Würste. Einen der Tiger
hatten sie erschießen müssen, um den war es schade gewesen,
jammerschade.
Als nächster war Jamie an der Reihe. Er
legte mit der Story vom Großen Renaldo los, als wäre es ein
Augenzeugenbericht. »Also, das Ganze passierte in diesem Zirkus in
Guadalajara«, begann er, und meine Gedanken schweiften ab.
Danach war ich dran, und der einzige Tod,
von dem ich erzählen konnte, der einzige, den ich von Angesicht zu
Angesicht miterlebt und nicht nur auf irgendeinem voyeuristischen
Video oder den Seiten von Newsweek oder Soldier of
Fortune gesehen hatte – ein richtiger Tod, das Erlöschen des
Blickes, der schlaff werdende Druck der Hände, der Übergang vom
Belebten zum Leblosen –, von dem hatte ich noch nie gesprochen, zu
niemandem. Sein Gesicht ging mir in seltsamen Momenten durch den
Kopf: beim Aufwachen, beim Starten des Autos, im unpersönlichen
Dunkel des Kinos, ehe der Vorspann über die Leinwand lief. Ich
wollte nicht davon erzählen. Und würde es auch nicht tun. Wenn
Jamie geendet hatte, würde ich mich entschuldigen, die Klotür
hinter mir verriegeln, mich über die Schüssel beugen und die
Spülung drücken und nochmals drücken, bis sie mich alle vergessen
hatten.
Ich war sechzehn. Ich war in der
Schwimmermannschaft unserer Schule, eine aufsteigende Hoffnung, ich
trainierte, bis ich keine Puste mehr hatte, und malte mir aus, wie
ich im Sommer um das Schwimmbad unserer Gemeinde stolzieren würde,
eine Trillerpfeife um den Hals. Den Rettungsschwimmerkurs der
Küstenwache hatte ich mit glänzendem Ergebnis absolviert. Es war
Mai, ein ungewöhnlich sengend heißer Tag, und ich fuhr mit dem
tuberkulösen Ford meiner Mutter ans Meer, zu einem relativ
abgeschiedenen Strand, den ich kannte. Ich hatte vor, im Sand ein
paar Sprints gegen den Wind hinzulegen und meine kantigen Schultern
und stählernen Beine mit den elementaren Wogen des Pazifiks zu
messen. Aber soweit kam es nicht. Bedauerlicherweise. Als ich von
der Straße zum Strand hinunterging, lief mir ein neun- oder
zehnjähriger Mexikanerjunge entgegen, hektisch und in blinder
Flucht rannte er den Trampelpfad auf mich zu. Er hatte spindeldürre
Arme und Beine, seine Augen waren rotgerändert, und die Panik ritt
ihn wie ein Jockey. »Socorro!« rief er, die Silben blieben
ihm in der Kehle stecken, würgten ihn. »Socorro!«
wiederholte er, stellte sich auf die Zehenspitzen, um mich mit
festem, feuchtem Griff am Arm zu packen, und dann rannten wir beide
los.
Auf dem Sand waberten die Lichtreflexe,
die Gischt schäumte bis zum Horizont unter dem blendenden,
schmerzhaft gleißenden Himmel. Ich spürte meine Beine, und da war
er, der Moment, das Gesicht des Todes, dort vor mir in der
Brandung, wie ein sorgfältig arrangiertes Opfer an die Seemöwen.
Ein dicker dunkler Mann, seine Haut glänzte vor Nässe, lag mit dem
Gesicht nach unten im Sand, als wäre er aus den Wolken
herabgeplumpst. Der Junge bettelte mit erstickter Stimme, sogar zum
Weinen war er zu aufgeregt, die Geschichte, die ich nicht hören
wollte, brach aus ihm heraus in einer Sprache, die ich nicht
verstand, und ich beugte mich über den Mann, um ihn
umzudrehen.
Er schlief nicht. So sah Schlaf nicht aus.
Die Augen des Mannes waren weit nach hinten gerollt, Erbrochenes
klebte als weiße Flecken an seinen Lippen und beschmutzte den
schlaff herabhängenden Schnurrbart, und sein Gesicht war riesengroß
und aufgedunsen, als wäre es mit Gas aufgepumpt, als wäre in einer
Minute eine ganze Woche verstrichen und als preßte die Fäulnis in
seinem Innern bereits gegen die Haut. Am Strand war niemand sonst
zu sehen. Ich hockte mich rittlings vor den monströsen Kopf, strich
den dunklen Lappen der Zunge sauber und drückte das Ohr an die
sandverklebte Brust. Vielleicht war da etwas zu hören, ganz leise
und tief drin, das Wispern des Ozeans in einer glatten
Porzellanschnecke, aber sicher war ich mir nicht.
»Mi padre«, rief der Junge, »mi
padre.« Ich war Rettungsschwimmer. Ich wußte, was ich zu tun
hatte. Ich wußte, daß der Augenblick gekommen war, diese klaffenden
Nasenlöcher zuzukneifen, meine Lippen auf das dunkle Loch unter dem
kotzfleckigen Schnurrbart hinabzubeugen und der reglosen Gestalt
vor mir Leben einzuhauchen, Mund zu Mund.
Mund zu Mund. Ich war sechzehn Jahre alt.
Fünfeinhalb Milliarden von uns lebten auf dem Planeten, und hier
war dieser Mann, dieser fremde dunkelhäutige Mensch mit dem starren
Blick und den schleimglitzernden Lippen, und ich konnte es nicht
tun. Ich sah den Jungen an, und es war, als hätte ich eine Pistole
gezogen und ihn zwischen die Augen geschossen, und dann kam ich mit
verzweifeltem Strampeln auf die Beine – denkt euch ein schlafendes
Kätzchen, das aus dem kuschligen Nest seiner Geschwister gerissen
wird, blindlings mit allen vier Pfoten in der Luft fuchtelnd –, ich
kam auf die Beine und rannte davon.
Mein eigener Vater starb, als ich noch
ein Säugling war, bei einem Flugzeugabsturz, und obwohl ich mir
Fotos von ihm angesehen habe, als ich älter war, stellte ich ihn
mir immer als gesichtslosen, zerfetzten Leichnam vor, aus dem Grab
wiederauferstanden wie der ertrunkene Sohn in »Die Affenpfote«. Es
war kein sehr appetitliches Vaterbild, aber so war es eben.
Mit meiner Mutter war es anders. In meiner
Erinnerung ist sie ständig in Bewegung, schnitzelt irgendwas auf
der Arbeitsfläche klein, während hinter ihr die Waschmaschine
rumpelt, oder sie telefoniert geschäftlich – sie war
Steuerberaterin –, dabei greift sie zu einem Schwämmchen, um
imaginäre Fingerabdrücke von dem weißen Telefon in der Küche zu
entfernen, alles gleichzeitig und in einem nie endenden Gewirbel.
Sie starb, als ich zweiunddreißig war – oder »sie ging dahin«, wie
sie wohl lieber gesagt hätte. Ich war nicht dabei. Ich weiß es
nicht. Aber nach allem, was ich hörte, nachdem ich die Kruste von
Höflichkeit und Euphemismen durchstoßen hatte, war es kein
Dahingehen, kein sanftes Scheiden, keine angenehme Reise.
Sie starb in der Öffentlichkeit, an
Herzschlag. Ein Anfall. Ein Krampf. Ein Infarkt. Gewalttätig und
schnell, ein heftiges Reißen in der Brust, kein Dahinscheiden, kein
Nachlassen, keine Intimität, keine Würde, keine Hoffnung. Sie war
beim Einkaufen. Im Supermarkt. Halb sechs Uhr abends, der Laden war
rappelvoll, blinkende Einkaufswagen, hier etwas und da etwas,
kleine Entscheidungen, einundfünfzig Cents pro Packung gegen
achtundsechzig. Sie krümmte sich auf dem Boden. Zerbiß sich die
Zunge. Starb. Und all diese Gesichter, die auf sie hinabstarrten,
lebendig, aber selbst zum Tode verdammt, all die verpatzten
Abendessen, all die vergeudete Zeit an der Kasse.
Wir alle wußten, daß Jamie der erste
von uns sein würde. Keiner zweifelte daran, Jamie am
allerwenigsten. Er hofierte den Tod, protzte mit ihm, lieh sich
seine Videos aus und versuchte auf seine eigene besessene,
unnachgiebige Weise, ihn zu Tode zu quatschen. Jedesmal wenn er in
sein Auto stieg, um sich beim Laden an der Ecke Zigaretten zu
holen, war es wie der Start zu den 500 Meilen von Indianapolis. Er
ließ sich auf Schlägereien ein, obwohl er dreißig war und es besser
hätte wissen müssen, er sprang aus Flugzeugen und stürzte zweimal
beim Drachenfliegen ab. Als er mit dem Bergsteigen anfing, mußte es
gleich Freeclimbing sein – ohne Karabiner, ohne Seil, ohne Haken,
nur der vage, ungewisse Halt von Fingern und Zehen. Ich hatte ihn
seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Er war schon lange nicht mehr
in L.A., hatte den Lehrerjob, jede Art von fester Arbeit, festem
Einkommen, festem Leben aufgegeben. Er war in Aspen, Dakar,
Bangkok. Dann und wann bekam ich eine verschmierte Postkarte aus
den absonderlichsten Orten, exotische Briefmarken, ein irres,
wirres, hastiges Gekrakel, in dem nur noch das Wort »Alter« zu
lesen war.
Dies war das Gesicht von Jamies Tod: ein
strahlender Nachmittag im Winter, Jamie an einer Bushaltestelle in
Studio City, auf einer Bank sitzend. Es hatte geregnet – die ganze
Woche davor –, und die mächtigen knorrigen Äste der Eukalyptusbäume
waren schwer vor Nässe. Sie neigen dazu, einfach abzubrechen, diese
Äste, deshalb läßt die Stadt sie auch regelmäßig stutzen.
Jedenfalls war das früher so, als es noch Geld dafür gab. Ein Wind
kam auf, ein großartiger, federleichter, knochentrockener Wind
direkt aus der Wüste – die Bäume warfen tanzend ihr Laub ab. Und
ein einzelner Ast, so dick wie ein Baum, gab seine Verbindung mit
dem Stamm auf und erschlug meinen Freund Jamie, zerquetschte ihn,
machte Hundefutter aus ihm.
Bin ich zu plastisch? Sollte ich das Bild
abmildern? Schönere Worte finden? Zu Gott im Himmel beten?
Als das Telefon klingelte und ich die
längst vergessene, aber unverwechselbare Stimme eines alten
Schulkameraden hörte – Victor, Victor Cashaw –, da wußte ich schon,
was er mir sagen würde, ehe er selbst es noch wußte. Ich legte auf
und sah durch die Küche auf die Veranda hinaus, wo meine Frau Linda
auf einem Rattansofa ausgestreckt lag, vertieft in eine
Zeitschrift, die all die kleinen Geheimnisse über Acrylnagellack
und Rouge preisgab und Ratschläge erteilte, welches Handtuch
sie benutzen sollte, wenn sie in seiner Wohnung
auftauchte. Vielleicht war sie ja auch schwanger. Ich ging wortlos
zur Tür hinaus, stieg ins Auto und fuhr zum Video Giant.
Irgendwie bereitete es mir eine perverse
Freude, zu sehen, daß die Serie der 100 Gesichter des Todes
inzwischen auf zwanzig Kassetten angewachsen war, aber ich wollte
nur Folge IV, keine andere. Zu Hause schlich ich leise in mein
Zimmer – Linda lag weiterhin auf dem Sofa auf der Veranda, immer
noch reglos, bis auf die Bewegung ihrer Augäpfel – und schob die
Kassette in den Recorder. Es war neun Jahre her, aber ich erkannte
Renaldo, als hätte ich ihn eben erst gesehen, sein Dilemma war
ewig, sein Schweiß unerschöpflich, seine Augen glitzerten für
immer. Ich sah, wie die reizende Assistentin zunehmend in Panik
geriet, konzentrierte mich auf den Strohhalm, der zwischen Renaldos
weißen Zähnen steckte. Wann wurde es ihm klar? fragte ich mich. War
es jetzt? Oder jetzt?
Ich wartete bis zu dem Augenblick, in dem
er den Halm fallen ließ. Armer Renaldo. Ich stoppte das Video bei
diesem Bild.