Beat

Yeah, ich war Beat. Wir waren alle Beat. Shit, Mann, ich bin immer noch ein total fertiger Beat-Typ – war’s, bin’s und werd’s wohl immer bleiben. Ich meine, wie kann man damit je aufhören? Aber um mich geht’s hier nicht – ich bin niemand, echt, ich bin nur die Dekoration in diesem wahnwitzigen Mutter-des-Bop-Trip ins Herz der amerikanischen Nacht, in dieser Gratisfahrt auf Güterzügen, heiliger und higher als von einer Flasche Tokaier. Nein, erzählen will ich von Jack. Und von Neal und Allen und Bill und all den anderen, und wie alles gekommen ist, weil ich nämlich dabeigewesen bin, ich war mittendrin in dieser Szene, und kein Typ war mehr Beat als ich.
Stellt euch vor: siebzehn Jahre alt, die Haare ein wildes Gewirr, obendrauf eine kleine lodengrüne Baskenmütze, um die Locken im Zaum zu halten, dreiundachtzig Cents in der Tasche und eine abgefingerte Ausgabe von Unterwegs im Rucksack sowie eine Charlie-Parker-Platte mit genügend Kratzern und Rauschen in den Rillen, um den Soundtrack eines Science-fiction-Streifens zu füllen; ich bin den ganzen Weg von Oxnard, Kalifornien, hergetrampt, und jetzt steh ich vor Jacks Tür in Northport, Long Island. Dreiundzwanzigster Dezember neunzehnhundertachtundfünfzig. Es ist kalt. Trist. Die Stadt voller alter Monsterhäuser, von denen die Farbe abblättert, grau und abgenutzt und ganz einfach alt wie die ganze scheuklappenbestückte, abgeschlaffte Ostküste, die von Oktober bis April vom Nebel erdrückt wird, ohne Begnadigung wegen guter Führung. Unter meiner Jeansjacke hab ich drei Pullover an, und trotzdem schling ich die Arme um die Rippen und fühl den Rotz an der Nase gefrieren, und diese Fäustlinge, die ich von einer alten Lady am Busbahnhof von Omaha geschnorrt hab, sind ganz steifgefroren, und ich klopf an, wobei ich mich frage, ob es wohl ein offizielles cooles Klopfen gibt, irgendeinen Hipster-Klopfcode, ein geheimes Gammler-Zen-Zeichen, das ich nicht kenne.
Klopf-klopf. Kloppata-kloppata, klopf-klopf-klopf.
Mich traf die erste Überraschung: nicht Jack, der weggetretene Hep-Dichter auf der Suche nach dem Satori, der Gott von Schiene und Asphalt, öffnete mir die Tür, sondern eine breite, massige alte Frau mit einem Gesicht wie ein Wanderschuh von unten. Sie trug ein Kleid, das so groß war wie diese Dinger, die man übers Auto legt, um den Staub abzuhalten, mit einem Muster aus tausend kleinen roten und grünen Dreiecken, in denen sich goldene Trompeten und silberne Engel drängelten. Durch die nur einen Spaltbreit offene Tür musterte sie mich mit einem Blick, der einem runderneuerten Reifen den Gummi abgeschält hätte. Ich erschauerte: sie sah aus wie jedermanns Mutter.
Meine eigene Mutter war fünftausend Kilometer weit weg und so spießig, daß es einem die Schuhe auszog; der Hund, den ich seit meiner Kindheit hatte, war tot, vor einer Woche von einem Lastzug plattgefahren worden; und ich war durchgefallen: in Englisch, Geschichte, Mathe, Kunst, Sport, Musik und Mittagessen. Ich wollte Abenteuer, das Leben der Landstraße, dufte Bienen mit Baskenmützen und Bhang und Bongos und lange, benzedringetragene Diskussionen, die bis in den Morgen dauerten, ich wollte Jack und alles, wofür er stand, und statt dessen kam mir diese alte Lady. »Äh«, stammelte ich, um meine Stimme kämpfend, die endlich etwas tiefer wurde als das Teenager-Quietschen, mit dem ich hatte leben müssen, seit ich denken konnte, »wohnt hier vielleicht zufällig, äh, Jack Kerouac?«
»Geh zurück, wo du hergekommen bist«, sagte die alte Lady. »Mein Jacky hat keine Zeit für diesen Blödsinn.« Und das war’s: sie knallte einfach die Tür zu.
Mein Jacky!
Da wurde es mir klar: das war niemand anders als Jacks Mom gewesen, die wahnsinnswilde Madonna mit dem Bop in der Muttermilch, die Frau, die den Guru aufgezogen und geformt hatte, unser aller Urmutter. Und die hatte mich gerade zum Teufel geschickt. Ich war fünftausend Kilometer weit hergekommen, ihr Jacky war mein Jack, ich war bis auf die Knochen durchgefroren, total pleite, verängstigt, verzweifelt und nur eine knappe Lunge voll O2 davon entfernt, mich in den Matsch zu werfen und loszuschluchzen, bis jemand herauskäme und mich erschoß. Ich klopfte noch einmal.
»He, Ma!« hörte ich von tief im Innern des Hauses, und es klang wie der Brunftschrei eines gefährlichen Raubtiers, ein dumpfes, zorniges Bop-Speed-Rotwein-Gebrüll, die Stimme des Mannes selbst, »was soll denn das, ich versuch mich hier zu konzentrieren.«
Dann wieder die alte Lady: »Nichts, Jacky.«
Klopf-klopf. Kloppata-kloppata, klopf-klopf-klopf. Ich schlug Trommelwirbel auf die Tür, klopfte und pochte, hämmerte auf sie ein, als wäre es die kahle Schädelplatte meines verklemmten, bleistiftspitzenden Sesselpupers von Spießervater oder meinetwegen die von Mr. Detwinder, dem Direktor der Oxnard-High-School. Ich klopfte, bis mir die Knöchel bluteten, ein äußerst virtuoses Klopfen, und ich war so drin im Rhythmus und der Energie davon, daß es eine Weile dauerte, bis ich merkte, daß die Tür sich geöffnet hatte und Jack persönlich vor mir stand. Er sah aus, wie Belmondo in Außer Atem auszusehen versucht hatte, lässig und cool in einem zerknitterten T-Shirt und Jeans, in der einen Hand was zu rauchen, in der anderen eine Flasche Muskateller.
Ich hörte auf zu klopfen. Mein Mund stand offen, der Rotz gefror mir in den Nasenlöchern. »Jack Kerouac«, sagte ich.
Er grinste den einen Mundwinkel hinunter und den anderen wieder hinauf. »Kein anderer«, sagte er.
Der Wind fuhr mir in den Kragen, in dem Zimmer hinter ihm nahm ich bunte Blinklämpchen wahr, und auf einmal sprudelte es aus mir hervor, als hätte ich mein Leben daran geknabbert und gekaut: »Ich bin den weiten Weg von Oxnard hergetrampt, ich heiße Wallace Pinto, aber du kannst ruhig Buzz zu mir sagen, und ich wollte nur sagen – ich wollte dir nur sagen...«
»Yeah, ich weiß«, sagte er, winkte mit einer fahrigen Geste ab. Er wirkte wacklig, vom Muskateller etwas beeinträchtigt, der sich kräuselnde Rauch von seiner Kippe stach ihm in die zusammengekniffenen blauen Augen, die Worte kamen ihm langsam über die Lippen, schwer und getragen von der tiefen, ewigen Weisheit des Poeten, jenem Wissen von Landstraße, Seefahrerkneipe und Freudenhaus. »Aber ich sag dir, Junge, trommel nur weiter so auf dieser Tür rum, und du endest im Krankenhaus« – Pause – »oder in einer Jazzcombo.« Ich war wie in Trance, bis ich seine Hand – die abgefahrene, mit mexikanischen Bräuten vertraute Hand des Gammler-ZenEngel-Kif-Unterwegs-Bop-Meisters – an meiner Schulter spürte, sie zog mich herein, über die Schwelle und ins Haus. »Schon mal die Bekanntschaft von zwei echten, wahrhaftig straff gespannten Bongos gemacht?« fragte er und warf einen Arm um meine Schultern, während die Tür hinter uns zuknallte.
Zwei Stunden später saßen wir im Wohnzimmer, vor einem total abgefahrenen Weihnachtsbaum, der voller Cherubim und kleiner Christusse und so Zeug hing, führten uns gewaltige Sandwiches und ein oder zwei Joints zu Gemüte, meine Charlie-Parker-Platte rauschte und kratzte auf dem Plattenspieler, und zu unseren Füßen lag ein ständig anwachsender Berg aus rotem und grünem Millimeterpapier. Wir machten eine Girlande, um sie über den beatesten Baum zu drapieren, den man je gesehen hatte, und die Musik war eine coole Brise, durchweht von einem Hauch Yardbird, und der Duft nach Manna und Ambrosia drang aus der Küche herein, wo Mémère, die leibhaftige Beat-Madonna persönlich, uns ein erstklassiges, speicheltreibendes Zwei-Tage-vor-Weihnachten-Essen à la canadienne kochte. Ich hatte seit dem Vortag in New Jersey nichts mehr gegessen, und das waren bloß Pommes und ein einsames glibbriges Spiegelei in einem reichlich beschissenen Imbiß gewesen, und jetzt zerschnitt ich bunte Papierstreifen und klebte sie zu kleinen Ringen zusammen, während Jacks Girlande länger wurde und mein Kopf von Wein und Gras schwirrte.
Die große alte Lady in ihrem gemusterten Weihnachtskleid verschwand wieder, aber ihr Essen war da, und so aßen wir, Jack und ich, Seite an Seite, ließen unsere Beat-Teller auf dem Sofa stehen, warfen die Girlande über den Baum, und wir suchten die Mäntel in der Garderobe ab, um noch eine Flasche Tokaier aufzutreiben, als es an der Tür klopfte. Dieses Klopfen war nicht wie mein Klopfen. Ganz und gar nicht. Dies war ein zartes Klopfen, voller Understatement und Minimalismus, in dem jedoch ein großer Kontinent der Leidenschaft und Erwartung enthalten war – kurz gesagt: ein weibliches Klopfen. »Na«, sagte Jack, und seine Miene erhellte sich beatvergnügt, denn er hatte das schlanke Gefäß einer Halbliterflasche in der Innentasche seiner Seemannsjacke entdeckt, »willst du nicht aufmachen?«
»Ich?« fragte ich und grinste mein allerfertigstes Beat-Grinsen. Ich war dabei, gehörte voll dazu, ich war Jacks Landsmann und Vertrauter, wir standen im Flur seiner Bude in Northport auf Long Island, in unseren abgefahrenen Beat-Bäuchen eine gute, von Jacks Mutter gekochte, dampfend warme Mahlzeit, und er schickte mich an die Tür – mich, einen siebzehnjährigen Niemand. »Meinst du das ernst?« Mein Grinsen wurde breiter, so daß die Ostküstenkälte bis in die hinterste Füllung meiner reihenhausmäßig zahnarztgepflegten Backenzähne kroch.
Jack machte die Flasche auf, trank, reichte weiter. »Was da klopft, ist ’ne Biene, Buzz.«
Ich: »Ich steh auf Bienen.«
Jack: »Was da klopft, ist ’ne abgefahrene, süße Frühlingsblume von einer ausgeflippten, langbeinigen, stupsnäsigen, übermütigen, von zu Hause zum großen Jack Kerouac weggerannten flotten Biene mit Baskenmütze.«
Ich: »Ich bin ganz verrückt nach abgefahrenen, süßen Frühlingsblumen von ausgeflippten, langbeinigen, stupsnäsigen, übermütigen, von zu Hause zum großen Jack Kerouac weggerannten flotten Bienen mit Baskenmütze.«
Jack: »Dann mach ihr schon auf!«
Ich öffnete die Tür, und da war sie, alles wie beschrieben und noch mehr, sechzehn und mit großen, runden Augen und langen Haaren wie Mary Travers von Peter, Paul and Mary. Mit weit offenem Mund musterte sie mich: meine lodengrüne Baskenmütze, die darunter hervorlugende, strähnige Wildheit meines Haars, meine Beat-Levi’s-Jacke und die Jeans und meine kiffroten, glücklichen Bin-den-ganzen-Weg-von-Oxnard-bis-hierher-getrampt-Augen. »Ich wollte eigentlich zu Jack«, sagte sie, und ihre Stimme war brüchig und heiser und leise. Sie senkte den Blick.
Ich sah zu Jack, der hinter mir stand, so daß sie ihn nicht sehen konnte, und hob fragend die Augenbrauen. Jack musterte mich mit dem verhangenen, schwelenden Blick eines Buchumschlags aus der Hölle, dann trat er vor, nahm mir die Flasche ab, beugte sich zu der Biene runter, die jetzt zu ihm aufsah, und kitzelte ihr das Kinn mit einem gekrümmten, total abgefahrenen Beat-Zeigefinger. »Kille-kille-kille«, sagte er.
Sie hieß Ricky Keen (eigentlich Richarda Kinkowski, aber sie stellte sich uns lieber so vor), war den ganzen Weg von Plattsburgh hergetrampt und ebenso voll der Heldenverehrung und des unartikulierten Lobgesangs wie ich. »Dean Moriarty«, sagte sie am Ende einer langen, zusammenhanglosen Rede, die Anspielungen auf fast jede von Jack verfaßte Zeile und die Hälfte aller Titel von Zoot Sims enthielt, »der ist am coolsten, echt, mit dem will ich Kinder machen, hundertprozentig.«
Da standen wir also im Flur und hörten der Piepsstimme dieser abgefahrenen sechzehnjährigen Biene mit der fertigen Beat-Mähne und den runden Augen zu, die vom Kindermachen erzählte, während im Hintergrund Charlie Parker seine Riffs abzog und die Weihnachtsbaumlichter blinkten, und das Ganze war seltsam und irgendwie prägnant. Ich konnte nur immer wieder »Wow!« sagen, aber Jack wußte genau, was zu tun war. Er legte mir den einen und der Biene den anderen Arm um die Schultern, schob sein vom Alkohol entflammtes und leicht verquollenes, aber doch die Quintessenz des Beat versprühendes Gesicht dicht an uns heran und sagte, leise und heiser: »Was wir jetzt brauchen, wir drei hepsters, Kerle und Bienen gleichermaßen, das ist eine bewußtseinserweiternde Session bis in den frühen Morgen hinein, und zwar in der unbestritten einzigartigsten aller Kommunikationskneipen, in der Bodhisattva-Bar, oder, wie die Fellachen sie auch nennen, in Ziggys Seemannsgrill, gleich um die Ecke von hier. Na, was sagt ihr dazu?«
Was wir dazu sagten? Wir waren sprachlos – stumm, perplex und beinahe zu Tränen gerührt. Der große Mann persönlich – er, der die Halbe, das Viertel und den Cocktail praktisch erfunden und die Kunst, sich damit zuzuschütten, auf den Beat-Gipfelpunkt geführt hatte – wollte uns zwei schlaksige, verdatterte, von zu Hause weggelaufene Minderjährige tatsächlich auf eine echte Kerouac-Kneipentour mitnehmen, auf ein wildes, kreatives nächtliches Besäufnis. Alles, was ich zustande brachte, war ein zustimmendes Nicken, Ricky Keen sagte: »Yeah, klar, echt gut, ey!«, und schon standen wir zu dritt draußen im eisigen Eisregen, auf den Straßen das widerliche Ostküstenglatteis. Ricky auf der einen Seite von Jack, ich auf der anderen, und Jacks Arme vereinten uns. Die Flasche kreisen lassend, kosteten wir die Freiheit auf diesen eisglatten Straßen, in unseren Köpfen brodelte es wirr und fiebrig nach dem fetten Joint mit Mary Jane, der wie durch Zauberei zwischen Jacks Daumen und Zeigefinger aufgetaucht war, und den kleinen benzedringetränkten Filzstreifen, die er uns auf die Zunge legte wie ein Sakrament. Der Wind sang ein Klagelied. Eis prasselte aus dem Himmel auf uns herab. Uns war’s egal. Wir marschierten acht Block weit, unsere Beat-Jacken standen dem Ansturm der Elemente offen, und dennoch spürten wir die Kälte nicht.
Aus der frostig-schwarzen Wüstenei der Long-Island-Nacht schälte sich vor uns Ziggys Seemannsgrill wie eine Zikkurat, ein heiliger Tempel der Beat-Erleuchtung und tiefer Soul-Wahrheiten, erleuchtet nur von den schmalen Neonschleifen der Bierreklamen in den Fenstern. Ricky Keen kicherte. Mir pochte das Herz gegen die Rippen. Ich war noch nie in einer Kneipe gewesen und hatte Angst, mich irgendwie zu blamieren. Aber keine Sorge: wir waren mit Jack unterwegs, und Jack zögerte keine Sekunde. Er rammte gegen den Eingang von Ziggys Seemannsgrill wie ein Footballstürmer, der durch die Abwehrlinie bricht, die Tür zitterte in den Angeln und krachte gegen die Wand dahinter, und während ich nachdenklich die dreiundachtzig Cents in meiner Hosentasche betastete, stürmte Jack die Kneipe mit einem brüllenden »Mach auf die Bar, du Keeper – seht her, ihr verschlafenen Fellachen, hier kommt die Beat Generation!«.
Ich wechselte einen Blick mit Ricky Keen. Die Kneipe war still wie eine Leichenhalle, die Wände waren mit einem kitschigen Hawaiidesign bemalt, auf zwei Plastikpalmen lag der Staub so dick, als wären sie eingeschneit, und es war drinnen fast so finster wie draußen. Der Barkeeper, aufgeschreckt durch Jacks fröhliche vollkehlige Proklamation von Beat-Laune und ansteckender dionysischer Heiterkeit, sah aus der bläulichen Flimmertrance seines Fernsehers auf wie jemand, dem gerade der letzte Hinrichtungsaufschub verweigert worden war. Er hatte fleischige Hängebacken und trug ein dreckiges weißes Hemd, dazu eine kleine Frackschleife, die ihm wie ein totes Insekt auf dem Kragen klebte. Er zuckte zusammen, als Jack seine Beat-Faust krachend auf die Theke sausen ließ und dröhnend bestellte: »Für alle was von allem hier!«
Ricky Keen und ich folgten in Jacks Kielwasser, angeturnt durch die Nähe zum Urpunkt des Beats und von Wein, Marihuana und Speed, die durch unsere weggetretenen Teenie-Adern rasten. Wir blinzelten in das trübe Licht und bemerkten, daß die von Jack so bezeichneten »alle« eine Dreiergruppe bildeten: eine traurige, mystische, stark geschminkte Cocktailkellnerin in Netzstrümpfen und schwarzem Ballettröckchen und zwei stoppelhaarige Fernfahrertypen in blauen Arbeitshemden und braunen Hosen. Der größere der beiden, ein Mann mit einem Gesicht wie ein Stück Rindfleisch, sah mürrisch von seiner Zigarette auf und knurrte: »Maul halten, Arschloch – siehst du nicht, daß wir uns hier konzentrieren?« Dann rotierte der massige geriffelte Nacken zurück, und der Kopf fixierte wieder die Glotze.
Auf der Mattscheibe, die auf dem Wandregal zwischen großen Gläsern mit eingelegten Eiern und polnischen Würsten stand, schnitt der Komiker Red Skelton, eine Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf, Grimassen für all die toten, leeren, geistlosen Wohnzimmer Amerikas, und mir wurde mit einem tiefen Aufwallen von überwältigender beatuntypischer Trauer klar, daß auch meine eigenen Spießbürger-Eltern draußen in Oxnard jetzt vor ihrem Fernsehgerät hockten und demselben verzerrten Gummigesicht zusahen und sich vermutlich fragten, was aus ihrem heißgeliebten Sprößling geworden war. Ricky Keen mochten ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen, so trist und trübselig sah sie in diesem Moment aus, und ich wollte sie umarmen, ihr übers Haar streichen und die Wärme ihres süßen kleinen Beat-Körpers an meinem spüren. Nur Jack schien es nichts auszumachen. »Bier für alle«, beharrte er, trommelte mit der Faust auf die Theke, und ehe der Barkeeper sich noch von seinem Hocker aufraffen konnte, um dem Wunsch nachzukommen, erweckte Jack in der Musikbox Benny Goodman zum Leben, und wir suchten unser Kleingeld zusammen, während die Fernfahrer stoisch vor ihren frischen, von Jack bezahlten Bieren saßen und die Kellnerin uns aus ihren schwarzen, eingefallenen Augen musterte. Natürlich war Jack pleite, und meine dreiundachtzig Cents brachten uns auch nicht weit, aber zum Glück förderte Ricky Keen aus einem kleinen Portemonnaie in ihrem Stiefel ein paar zerknüllte Dollarscheine zutage, und das Bier floß wie herber Honig.
Irgendwann während der dritten oder vierten Runde erhob sich der kräftigere der beiden Fernfahrertypen abrupt von seinem Hocker, auf den Lippen die Worte »Kommunist« und »schwule Sau«, um Jack, Ricky und mich mit einem Windmühlenwerk von Schlägen, Fußtritten und Ellenbogenstößen plattzumachen. Wir gingen in einem marihuanageschwächten Geblöke zu Boden, dabei lachten wir wie die Irren und versuchten nicht einmal, uns zu wehren, als auch der andere Fernfahrer, der Barkeeper und sogar die Kellnerin mitmischten. Eine halbe Minute und viele blaue Flecke später kugelten wir drei in einem Gewirr von Gliedmaßen auf die eisige Straße hinaus, und meine Hand wanderte dabei wie zufällig zu Ricky Keens fester kleiner halbgeformter Brust, und zum erstenmal fragte ich mich, was aus mir werden sollte und – konkreter – wo ich die Nacht verbringen würde.
Aber Jack, dieser heldenhafte, fertige Beat-Typ, murmelte halblaut etwas über Spießer und Philister und kam mir dann zuvor. Er stand torkelnd auf, streckte seine eisenbahnschwielige Hand, die Spontanprosa zu produzieren gewohnt war und jetzt eine Flasche Tokaier hielt, erst Ricky und dann mir entgegen und sagte: »Mitsucher und Sparringspartner, der Weg zur Erleuchtung ist ein steiniger, aber heute, heute werdet ihr bei Jack Kerouac übernachten.«
Ich erwachte am Nachmittag auf dem Sofa im Wohnzimmer in der Wohnung, die Jack mit seiner Mémère teilte. Das Sofa war ein hartes Terrain, zerfurcht und zerklüftet von tiefen Tälern und hohen, harten, vom Durchzug gepeitschten Gipfeln, doch meine magere, unempfindliche Siebzehnjährigengestalt war dennoch auf eine Weise eins mit ihm geworden, die geradezu der Seligkeit nahekam. Immerhin war es ein Sofa und nicht der schmale Vordersitz eines über die Straßen rumpelnden Sattelschleppers oder Pkws, außerdem umwehte es die zerknitterte Aura von Jacks spätnächtlichem Büchergeblätter, Jointgedrehe, Bongogetrommel, die es empfahl, ja die es weihte. Was tat es da schon, daß mein Kopf größer war als ein Wetterballon und der restliche Körper sich anfühlte wie ein Klumpen Hackfleisch? Was tat es, daß mir vom billigen Wein, vom Gras und Benzedrin so übel war, daß mir die Zunge wie ein Klettverschluß am Gaumen klebte und daß Ricky Keen, statt mit mir das Sofa zu teilen, auf dem Boden schnarchte? Was tat es, daß aus dem Küchenradio spießige Weihnachtslieder von Bing Crosby und Mario Lanza schmetterten und daß Jacks massige, gewaltige Seele von Mutter alle fünf Sekunden ihren breitschultrigen Leib ins Zimmer schob, um mir einen Blick von sprühendem Haß und mütterlicher Ungeduld zuzuwerfen? Was tat es? Ich war bei Jack. Eingetroffen im Nirwana.
Als ich endlich die merkwürdige, verfilzte, nach Waschpulver riechende, total fertige Canuck-Häkeldecke zurückschlug, die irgendeine gute Seele – Jack? – im Zwielicht der frühen Morgenstunden über mich gebreitet hatte, bemerkte ich, daß Ricky und ich nicht allein im Zimmer waren. In dem Lehnsessel direkt vor mir saß reglos wie ein Totempfahl ein Fremder, ein hagerer, drahtiger, langnasiger, irgendwie brahmanisch aussehender Typ mit starrem Hundertmeilenblick und einem stumpfbraunen Beat-Anzug, der ohne weiteres einem Versicherungsvertreter aus Hartfort, Connecticut, hätte gehören können. Er atmete kaum und blinzelte aus glasigen Augen in irgendeine dunkle, unergründliche Vision, wie jemand, der den Blick in einen endlosen Tunnel richtet – einen so echsenartigen Menschen hatte ich noch nie gesehen. Und wer konnte das sein, fragte ich mich, der da an Heiligabend in Jacks abgefahrener Beat-Wohnung saß und offenbar im Einklang mit einer völlig anderen Realität stand? Ricky Keen schnarchte leise in ihrem Nest am Boden. Ich studierte den Mann auf dem Sessel, als wäre er ein wissenschaftliches Projekt, bis es mir schlagartig klar wurde: das war niemand anders als Bill persönlich, der Scharfschütze, der sich den weiten Weg über die Beat-Wogen des blaukalten Atlantiks von Tanger hierher verfrachtet hatte, um Jack und seiner fertigen Beat-Madonna frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr zu wünschen!
»Bill!« rief ich und sprang vom Sofa, um seine hölzerne, tote Hand zu schütteln, »das ist ja echt... also, ich kann gar nicht sagen, was für eine Ehre das ist«, und auf diese weggetretene, ehrfürchtige Weise machte ich gut zehn Minuten lang weiter, vielleicht hatte ich auch noch einen Rest Benzedrin in mir, und dann klappte Ricky Keen ihre Augen aus purem Gold auf, wie zwei Butterflocken, die auf einem Stapel Pfannkuchen schmolzen, und ich merkte, daß ich hungrig und gerädert und verkatert war, und Bill zeigte ohnehin keine Regung und sagte kein Wort.
»Wer ist denn das?« stieß Ricky Keen in ihrer brüchigen, kratzigen, heiseren Kehlkopfkrebsstimme hervor, die ich inzwischen unglaublich sexy fand.
»Wer das ist?« erwiderte ich ungläubig. »Na, das ist Bill.«
Ricky Keen reckte sich, gähnte und schob ihre Baskenmütze zurecht. »Welcher Bill?«
»Du meinst, du weißt nicht, wer Bill ist?« quietschte ich, und die ganze Zeit über saß Bill wie eine Leiche vor uns, seine Iris trocknete aus und seine Lippen waren fest um seinen kleinen nuggetförmigen Mund zusammengekniffen.
Ricky Keen ignorierte meine Frage. »Haben wir gestern abend eigentlich was gegessen?« knurrte sie. »Ich hab derart Hunger, daß ich kotzen könnte.«
In diesem Augenblick wurde ich mir eines total fertigen, scharfen, speicheltreibenden, wilden Geruchs bewußt, der aus der Küche herüber auf denselben Beat-Luftwellen daherwehte, der auch die verkitschten Sangeskünste von Bing und Mario herantrug: jemand machte Pfannkuchen!
Trotz unserer tiefen Soul-Bruder- und auch -Schwesternschaft mit Jack und seiner Mémère waren Ricky und ich uns doch nicht ganz sicher, ob wir so einfach die Küche stürmen und uns dort einen Teller jener Pfannkuchen erschmeicheln durften, daher hielten wir kurz inne und klopften zunächst gegen die hölzerne Schwingtür. Von drinnen keine Antwort. Wir hörten Mario Lanza, das Zischen von Fett in der Pfanne und Stimmen, die redeten oder trällerten. Eine von ihnen schien Jack zu gehören, also klopften wir noch einmal an und stießen die Tür dann kühn auf.
Wenn alles bisher Geschehene einen Höhepunkt haben konnte, die Beat-Epiphanie, der Inbegriff von heiligem, irrem Moment, dann war es das: Jack saß am Küchentisch, seine Mutter stand am Ofen, ja, aber da war noch eine dritte Person anwesend, erschienen unter uns wie einer dieser bärtigen Mystiker aus dem Orient. Und wer konnte das sein, mit dieser wahnsinnigen, gescheiten, glubschäugigen, dicklippigen Mischung aus Zen-Weisheit und froschartiger Anmut? Ich wußte es sofort: es war Allen. Allen persönlich, der Dichterfürst des Beat, den weiten Weg von Paris hergekommen für diesen abgefahrenen Augenblick mit Jack und seiner Mutter in ihrer bescheidenen, aber total fertigen Beat-Küche an der kalten Nordküste von Long Island. Er saß mit Jack am Tisch, vor sich einen wirbelnden Kreisel und sang dazu mit seiner verwaschenen, blubbrigen, von süßem Wein befeuchteten Stimme:
»Kreisel, Kreisel, Kreiselchen,
Gemacht bist du aus Ton,
Und wenn ich dich mal tanzen laß,
Dann kreiselst du auch schon.«
Jack winkte Ricky und mich herein und schob uns auf zwei leere Stühle am Küchentisch. »Abgefahren«, murmelte er, während der Kreisel über die Tischplatte sauste, und goß jedem von uns ein Wasserglas mit koscherem Brombeerwein ein, von dem sich mir beim ersten klebrigen Schluck die Kehle zusammenzog. »Trink aus, Mann, es ist Weihnachten!« dröhnte Jack und klopfte mir auf den Rücken, damit die Speiseröhre wieder durchlässig würde.
Hier nun bekam Mémère ihre Rolle in der Geschichte. Irgendwas brodelte in ihr, sie war zornrot im Gesicht, zog die Schultern hoch und in ihr loderte eine weißglühende, siedendheiße, nicht zu bändigende Wut, aber sie servierte uns die Pfannkuchen, und wir aßen sie in einer gabelschwenkenden, sirupvergießenden, butterverstreichenden Beat-Kommunion, während Allen über den inneren Weg rhapsodisierte und Jack uns Wein einschenkte. Im nachhinein betrachtet, hätte ich ein bißchen besser auf Jacks Mutter und ihre Launen achtgeben sollen, aber ich schob mir die Pfannkuchen nur so rein, aalte mich im abgefahrenen Beat und achtete einfach nicht auf ihre stechenden Blicke und das Pfannengeklapper. Anschließend ließen wir unsere Beat-Teller stehen, wo wir sie leer gegessen hatten, und stürmten ins Wohnzimmer, um ein paar Scheiben abzuhören und auf die Bongos einzutrommeln, während Allen einen wirbligen Tanz tanzte und auf der Holzflöte blies und Bill die ganze Zeit in den langen Tunnel seines Ichs hineinstarrte.
Was soll ich sagen? Die Legenden waren versammelt, wir schnitten die Benzedrininhalatoren auf und schluckten die kleinen sattgetränkten Filzstreifen darin, feierten ein Fest mit grünem Gras und machten auch noch einen fertigen Beat-Gang zum Schnapsladen, um Wein und noch mehr Wein zu holen. Als es Abend wurde, spürte ich, wie die Flügel des Bewußtseins von meinem Rücken abkoppelten, und meine Erinnerung an die Ereignisse danach ist grandios, aber verschwommen. Irgendwann – gegen acht? neun? – wurde ich durch ein Schnüffeln und mühsam niedergekämpftes Schluchzen aus der Beatnik-Benommenheit eines siebzehnjährigen Newcomers geweckt. Ich öffnete die Augen und sah vor mir die bis auf eine Seemannsjacke nackte Gestalt von Ricky Keen. Offenbar lag ich auf dem Boden hinter dem Sofa, begraben unter einer dicken Schicht Spitzendeckchen, Sesselschoner und zerknüllten Zeitungen, die Lichter des Weihnachtsbaums flackerten an den Wänden, und Ricky Keen stand mit ihren nackten Beinen über mir, weinend und schluchzend, und betupfte sich die feuchten Seen ihrer Augen mit den Enden ihres langen, abgefahrenen Haars. »Was«, fragte ich, »was ist denn los?« Sie schwankte hin und her, wiegte sich auf den bloßen Füßen, und ich bewunderte unwillkürlich ihre Knie und die Art, wie ihre nackten jungen Tramperschenkel daraus emporstrebten, um im Faltenwurf der Jacke zu verschwinden.
»Es ist wegen Jack«, jammerte sie, und das süße Schaben ihrer Stimme blieb ihr in der Kehle stecken, und dann kniete sie über meinen ausgestreckten jeansumhüllten Beinen wie eine Büßerin.
»Jack?« wiederholte ich dümmlich.
Ein Augenblick der Stille, tief und hingebungsvoll. Keine kitschigen Choräle erklangen aus dem Küchenradio, ich hörte weder wilden zähnefletschenden Jazz noch dröhnende indische Sutras vom Plattenspieler, da war kein Allen, kein Jack und keine Mémère. Wäre ich in der Lage gewesen, mich aufzusetzen und den Kopf über die Sofalehne zu strecken, hätte ich gesehen, daß das Zimmer völlig leer war bis auf Bill, der immer noch in seinem komatösen Tagtraum verharrte. Ricky Keen saß auf meinen Knien. »Jack will mich nicht«, sagte sie ganz leise, so daß ich kaum merkte, daß sie überhaupt sprach. Und dann, schmollend: »Er ist betrunken!«
Jack wollte sie nicht. Ich verdaute diese Information, stellte schildkrötenartig langsam Verbindungen her, während Ricky Keen mit ihren goldenen Augen und den langen Haaren auf meinen Knien hockte, und schließlich fragte ich mich: Wenn Jack sie nicht will, wer dann? Ich hatte in dieser Hinsicht nicht allzuviel Erfahrung – meine Abenteuer mit dem anderen Geschlecht beschränkten sich auf sehnsüchtige Blicke in der Schule und gelegentliches Gefummel im Kino –, aber ich war bereit, etwas dazuzulernen. Ach was, begierig war ich.
»Jungfrau sein ist total beschissen«, stieß sie hervor, dabei knöpfte sie die Jacke auf, und ich setzte mich auf und nahm sie in die Arme – drückte mich keuchend und schwitzend und sexhungrig und teeniehaft an sie, ja wirklich –, und wir küßten einander und erforschten keuchend unsere Körper in einer wabernden Wolke aus abgefahrener Beat-Glückseligkeit und heiliger Verzückung. Viel später lag ich ausgestreckt da, noch bebend von dem süßen Zauber und Reiz, während Ricky sich sanft in meinen rechten Arm schmiegte, als plötzlich die Eingangstür aufflog und die weltweit wildeste, benzedrinbedröhnte, ostwestküstenweite Hep-Stimme das Zimmer erhellte wie ein Buschfeuer. Ich setzte mich auf. Tastete nach meiner Hose. Hielt den Kopf der verdatterten Ricky im Arm.
»Ho, ho, ho«, donnerte die Stimme. »All ihr kleinen Jungs und Mädels, seid ihr auch schön brav gewesen? Ich hab alles gesehen!«
Ich schob den Kopf über die Sofalehne, und da war er, cool und geheimnisvoll. Ich traute meinen Augen nicht: es war Neal. Gerade entlassen aus San Quentin, stampfte er jetzt als Weihnachtsmann verkleidet ins Haus, einen Sack voll Schnaps, Drogen, Zigaretten und Dosenschinken über die Schulter geworfen, mit den Händen auf unsichtbare Bongos eintrommelnd. »Rauskommen, rauskommen, wo immer ihr seid!« rief er und zerfloß in einem Meer aus Gekicher. »Ich find schon raus, wer hier brav und wer böse gewesen ist, ja, das werd ich.«
In diesem Augenblick stürmte Jack aus der Küche herein, wo er und Allen ein kleines Schläfchen bei einem Krug Wein gehalten hatten, und nun fingen die wilden Zeiten erst richtig an, die Zeit des Schulterklopfens und des abgefahrenen Abklatschens, des Kiffens und des improvisierten Singens, eben die Beat-Fete des Jahrhunderts. Ricky Keen erwachte schnaubend, wickelte die Seemannsjacke um sich und tauchte hinter dem Sofa auf wie eine Beat-Prinzessin, ich griff nach dem Wein, Jack heulte wie ein Hund, und sogar Bill rollte kurz die Augen im Schädel, um so zu tun, als wäre er am Leben. Neal konnte einfach nicht aufhören zu reden und zu trinken und zu rauchen und wie ein Derwisch durchs Zimmer zu wirbeln, Allen brüllte: »Miles Davis!« Der Plattenspieler sprang an, und dann tanzten wir alle, sogar Bill, obwohl er nie aus seinem Sessel aufstand.
Das war der krönende Augenblick meines Lebens – ich war Beat, endgültig und absolut –, und ich wollte, es würde immer so weitergehen. Und das wäre es auch, wäre da nicht Jacks Mom gewesen, jene breitschultrige, wutschnaubende alte Frau in dem Kleid mit dem weihnachtlichen Muster. Die ganze Zeit war sie nicht zu sehen gewesen, und ich hatte sie in der wahnwitzigen Explosion des Augenblicks völlig vergessen – erst als Jack seinen Moralischen kriegte, tauchte sie auf einmal wieder auf.
Es war ungefähr gegen zwölf. Jack, der etwas weinerlich geworden war, stimmte eine A-cappella-Version von »Vom Himmel kam der Engel Schar« an und versuchte uns zu bequatschen, gemeinsam zur Mitternachtsmesse in die Sankt-Columbanus-Kirche zu gehen. Allen meinte, er habe nichts dagegen, außer daß er Jude sei; Neal veralberte das Ganze als Gipfelpunkt kitschiger, bürgerlicher Sentimentalität, Bill hatte Probleme, seine Lippen zu bewegen, und Ricky Keen sagte, sie sei Unitarierin und nicht ganz sicher, ob sie das brächte. Dann wandte sich Jack tränenüberströmt an mich. »Buzz«, sagte er, und er hatte einen irren schmeichlerischen Unterton in der Stimme, als wär’s die riesigste Sache der Welt, »Buzz, du bist ein guter Katholik, ich weiß, daß du das bist – was meinst du
Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Plötzlich dröhnte Stille durchs Haus. Ich war sturzbesoffen, voll drüber, siebzehn Jahre alt. Jack wollte zur Mitternachtsmesse gehen, und es lag an mir, ja oder nein dazu zu sagen. Ich stand reglos da und überlegte mir, wie ich Jack beibringen konnte, daß ich Atheist war und Gott, Jesus und meine Mutter haßte, die mich fünfmal die Woche in die Kirchenschule geschickt hatte, seitdem ich laufen konnte, und jeden Sonntag zum Kindergottesdienst. Mein Mund bewegte sich, aber es kam nichts heraus.
Jack zitterte. Über dem rechten Auge hatte ein Zucken eingesetzt. Er ballte die Fäuste. »Laß mich nicht im Stich, Buzz!« brüllte er, und als er auf mich losging, versuchte Neal, ihn aufzuhalten, doch Jack wischte ihn beiseite, als wäre er gar nichts. »Mitternachtsmesse, Buzz, Mitternacht!« grölte er, und dabei stand er direkt vor mir, total fertig und beatirre, und ich konnte den Fuselgestank seines Atems riechen. Er senkte die Stimme. »Dafür verfaulst du in der Hölle, Buzz«, zischte er, »verfaulen sollst du.« Allen packte ihn am Arm, aber Jack schüttelte ihn ab. Ich wich einen Schritt zurück.
In diesem Augenblick erschien Mémère auf der Bildfläche.
Sie stürmte ins Zimmer wie eine Figur aus einem japanischen Monsterfilm, massig in ihrem Nachthemd, die fetten Altweiberzehen darunter hervorlugend wie Würstchen, und sie ging direkt auf den Kamin zu und packte den Schürhaken. »Raus!« kreischte sie, die Augen tief im Schädel versunken. »Raus aus meinem Haus, ihr schwulen Verbrecher und Rauschgiftsüchtigen, und auch ihr« – hier wandte sie sich an mich und Ricky –, »ihr sogenannten Fans und Verehrer, ihr seid ja noch viel schlimmer. Geht zurück, wo ihr hergekommen seid, und laßt meinen Jacky in Frieden.« Sie erhob den Schürhaken gegen mich, ich duckte mich automatisch, und sie zertrümmerte die Tischlampe. Mit einem Blitz und Krachen explodierte die Lampe, die Furie trat einen Schritt zurück, schwang den Schürhaken wie ein Lasso über dem Kopf. »Raus!« keifte sie, und die ganze Truppe, sogar Bill, hastete in Richtung Tür.
Jack tat nichts, um sie zu bremsen. Er sah uns mit seinem grüblerischen, lässig-angelehnten Beat-Holzfällerblick an, aber da war noch etwas anderes, etwas Neues, und während ich rückwärts zur Tür hinauswich, in die eklige, rauhe Ostküstennacht, wußte ich, was es war: der Blick eines verzogenen, schmollenden Muttersöhnchens. »Geht heim zu euren Müttern, ihr allesamt!« krakeelte uns Mémère hinterher und fuchtelte noch einmal mit dem Schürhaken in unsere Richtung, als wir mit offenem Mund auf der toten, braunen, eisüberzogenen Grasnarbe vor ihrem Haus standen. »Du lieber Gott«, schluchzte sie, »es ist Weihnachten!« Und dann knallte sie die Tür zu.
Ich war wie im Schock. Ich sah zu Bill, Allen und Neal, und die waren ebenso verdattert wie ich. Und die arme Ricky – sie hatte nichts weiter an als Jacks Seemannsjacke, und ich sah die winzigen nackten perfekten Zehen an den süßen Füßen dieser kessen Beat-Biene, die an der Erde festfroren wie kleine Skulpturen aus Eis. Ich faßte mir an den Kopf, um meine Baskenmütze zurechtzurücken, und merkte, daß sie nicht da war, und das war, als hätte jemand die Luft aus mir herausgelassen. »Jack!« rief ich, und meine brüchige Teenagerstimme wurde zu einem verzweifelten Blöken. »Jack!« schrie ich. »Jack!« aber die Nacht ballte sich um uns zusammen, und es kam keine Antwort.
Was von da an passierte, ist eine lange Geschichte. Um es kurz zu machen: ich befolgte Mémères Rat und ging heim zu meiner Mutter, und als wir dort ankamen, war bei Ricky schon die Periode ausgeblieben. Meine Mutter war zwar nicht eben erfreut, aber wir zogen zu zweit in mein Zimmer ein, wohnten dort einen Monat lang unter den labbrigen Footballwimpeln und Dinosaurierpostern und all diesem Zeug, bis wir es einfach nicht mehr aushielten, und dann suchte sich Ricky, diese abgefahrene, herrlich süße Beat-Madonna-von-der-Straße, eine ultrabeatmäßige Einzimmerwohnung am anderen Ende der Stadt, ich besorgte mir bei der Southern Pacific Railroad einen Job als Bremser, und sie ließ mich bei sich unterschlüpfen, und das war’s dann. Wir kifften, zündeten Kerzen und Räucherstäbchen an, schütteten uns Wein rein und vögelten, bis wir wund waren. Die ersten vier Jungs nannten wir Jack, Neal, Allen und Bill, obwohl wir ihre Namensvettern nie wieder zu Gesicht bekamen, außer Allen, bei einer dieser Dichterlesungen, aber da tat er so, als hätte er uns noch nie gesehen. Das erste der Mädchen nannten wir Gabrielle, nach Jacks Mutter, und danach haben wir wohl irgendwie den Überblick verloren und nannten sie einfach nach dem Monat, in dem sie geboren wurden, ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht, und so hatten wir am Ende gleich zwei Junes – June den Jungen und June das Mädchen –, aber das war nicht weiter schlimm.
Yeah, ich war Beat, ich war noch viel mehr Beat als sie alle – oder jedenfalls genauso Beat. Wenn ich so zurückblicke, nach den vielen Jahren, wenn ich an die Hypothekenzahlungen denke und an Rickys Entzug und daran, wieviel Geld die Kinder im College kosten, und wie meine Schreinerwerkstatt über der Garage abgebrannt ist und wie verflucht kleinbürgerlich-vorrevolutionär-schweinemäßig knausrig die Frühinvalidenrente von der Eisenbahn ist, dann frag ich mich manchmal, ob ich heute noch ein abgefahrener, fertiger Beat-Typ bin oder einfach nur fix und fertig. Andererseits – ich fände vermutlich nicht die Worte, das zu beschreiben.