Fleischeslust
Über Fleisch hatte ich mir nie viel
Gedanken gemacht. Es war einfach da, im Supermarkt, in der
Plastikfolie; es steckte zwischen Sandwichscheiben mit Mayo und
Senf und Gewürzgurken; es rauchte und spritzte auf dem Grill, bis
jemand es umdrehte, und dann lag es auf dem Teller, zwischen der
Kartoffel in Alufolie und den Karottenstreifen, sauber
eingeschnitten und in einer Pfütze aus rotem Saft. Rind, Lamm,
Schwein, Wild, triefende Hamburger und saftige Rippchen – es war
mir alles einerlei, es war eben Essen, der Brennstoff des Körpers,
etwas, das man kurz mit der Zunge kostete, ehe das Verdauungssystem
sich darüber hermachte. Was nicht heißen soll, daß mir die damit
einhergehenden Implikationen völlig unklar gewesen wären. Hin und
wieder kochte ich mir selbst etwas, ein halbes Huhn mit
Instantsauce und dazu Tiefkühlerbsen, und wenn ich dann auf die
pockige gelbe Haut und das rosa Fleisch so eines keimfreien Vogels
einhackte, bemerkte ich durchaus die dunklen Organfetzen, die da an
den Rippen baumelten –was war das, Leber? Niere? –, aber letzten
Endes verleidete mir das keineswegs den Appetit auf
Kentucky-Fried-Imbisse oder Chicken McNuggets. Sicher, auch ich sah
die Anzeigen in den Zeitschriften, die Fotos von in ihrem eigenen
Dreck angeketteten Kälbern, mit atrophierten Gliedmaßen und so
vollgepumpt mit Antibiotika, daß sie ihren Darm nicht mehr unter
Kontrolle hatten, aber wenn ich mit einer neuen Freundin ins Anna
Maria ging, konnte ich den Kalbsmedaillons trotzdem nicht
widerstehen.
Und dann lernte ich Alena Jorgensen
kennen.
Es war letzten November, zwei Wochen vor
Thanksgiving – ich erinnere mich an das Datum, weil es mein
Geburtstag war, mein dreißigster; ich hatte mich krank gemeldet und
war an den Strand gegangen, um mir die Sonne ins Gesicht scheinen
zu lassen, ein Buch zu lesen und mich ein wenig zu bemitleiden. Es
wehte ein heißer Santa-Ana-Wind, und die Sicht reichte bis nach
Santa Catalina Island, aber man spürte etwas in der Luft, den
Geruch des Winters, der schon über Utah hing, und so weit ich in
beiden Richtungen sehen konnte, hatte ich den Strand so ziemlich
für mich. Ich suchte mir einen geschützten Platz zwischen Felsen,
breitete eine Decke aus und machte es mir bequem, um erst einmal
das Pastrami-Sandwich zu verputzen, das ich als Verpflegung
mitgebracht hatte. Dann wandte ich mich meinem Buch zu – ein
tröstlich apokalyptisches Traktat über den Untergang unseres
Planeten – und ließ mich von der Sonne wärmen, während ich über den
Kahlschlag der Regenwälder, die vergiftete Atmosphäre und die
rasche, lautlose Ausrottung der Arten las. Über mir zogen die Möwen
dahin. In der Ferne sah ich Düsenflugzeuge blinken.
Ich muß wohl eingedöst sein, hatte den
Kopf nach hinten gelegt, das Buch aufgeschlagen im Schoß, denn als
nächstes erinnere ich mich daran, daß ein fremder Hund über mir
stand und die Sonne hinter den Felsen verschwunden war. Es war ein
großer, wuschliger Hund, der mich aus einem blauen Auge starr
fixierte, die Ohren leicht gespitzt, als erwartete er ein Plätzchen
oder so etwas. Ich war durcheinander – nicht daß ich Hunde nicht
mochte, aber da war dieses haarige Ding, das mir die Schnauze ins
Gesicht stupste –, und ich muß wohl eine Art Abwehrgeste gemacht
haben, denn der Hund tappte einen Schritt zurück und erstarrte.
Selbst in der Verwirrung des Augenblicks merkte ich, daß irgend
etwas mit diesem Hund nicht stimmte, da war eine Unsicherheit, ein
Wanken, eine Schwäche der Beine. Ich empfand eine Mischung aus
Mitleid und Abscheu – war er von einem Auto angefahren worden? –,
als mir plötzlich die Nässe auf meinem Anorak bewußt wurde und mir
ein unverwechselbarer Geruch in die Nase stieg: ich war soeben
angepinkelt worden.
Angepinkelt. Während ich so nichtsahnend
dalag, die Sonne, den Strand und die Einsamkeit genießend, hob
dieses dumme Vieh das Bein und benutzte mich als Pissoir – und
jetzt stand es erwartungsvoll am Rand meiner Decke, als hätte es
gern eine Belohnung. Plötzlich wallte Wut in mir auf. Fluchend
setzte ich mich auf, und erst jetzt schien in das andere Auge des
Hundes, das braun war, ein vages Begreifen zu sickern; das Tier
taumelte und fiel vornüber, direkt neben mir. Dann rappelte es sich
hoch, fiel erneut um und schleppte sich auf diese Weise im Sand
davon, wie ein Seehund im Trockenen. Ich war jetzt auf den Beinen,
voller Mordgier, und sah mit Freuden, daß das Vieh hinkte – so
konnte ich es leichter einholen und totschlagen.
»Alf!« rief eine Stimme, und während der
Hund vor mir im Sand zappelte, drehte ich mich um und sah, auf dem
Felsen hinter mir, Alena Jorgensen. Ich will den Augenblick jetzt
nicht allzusehr aufbauschen, will ihn weder mythologisieren noch
die Szenerie mit Anspielungen an die Schaumgeburt der Aphrodite
oder die Überreichung des goldenen Apfels durch Paris überladen,
aber sie war ein mächtig beeindruckender Anblick. Nackte Beine,
ebenmäßig gebaut, groß und aufrecht wie ihre skandinavischen
Vorfahren, bekleidet mit einem Gore-Tex-Bikini und einem
Kapuzen-Sweatshirt, dessen Reißverschluß bis zur Hüfte
offenstand... auf jeden Fall haute sie mich glatt um. Vor Pisse
triefend und völlig benommen starrte ich sie wortlos an.
»Du schlimmer Junge«, sagte sie tadelnd,
»los, geh weg da.« Sie sah zwischen dem Hund und mir hin und her.
»O du schlimmer Junge, was hast du da bloß gemacht?« schimpfte sie,
und ich hätte jede Schandtat zugegeben, aber ihre Schelte galt dem
Hund, welcher daraufhin in den Sand stürzte, als hätte ihn eine
Kugel getroffen. Alena hüpfte lässig von dem Felsen herunter, und
im nächsten Moment, bevor ich noch protestieren konnte, rieb sie
mit dem Saum ihres Sweatshirts an dem Fleck auf meinem Anorak
herum.
Ich versuchte sie zu bremsen – »Schon
gut«, sagte ich, »macht doch nichts«, als pinkelten pausenlos Hunde
auf meine Garderobe –, aber sie wollte nichts davon hören.
»Nein«, sagte sie, rieb weiter, und ihr
Haar wehte mir ins Gesicht, die nackte Haut ihres Oberschenkels
preßte sich unbewußt gegen mein Bein, »nein, das ist schrecklich,
es ist mir so peinlich – Alf, du schlimmer Junge! –, ich komme
selbstverständlich für die Reinigungskosten auf, das ist doch das
mindeste – nun sehen Sie sich das an, es geht durch bis auf Ihr
T-Shirt...«
Ich konnte sie riechen, den Fönschaum in
ihrem Haar, eine Seife oder ein Parfum mit Fliederduft, das
salzig-süße Aroma ihres Schweißes – sie war joggen gewesen,
deshalb. Ich murmelte irgend etwas davon, daß ich die Sachen selbst
zur Reinigung bringen wollte.
Sie hörte mit dem Reiben auf und erhob
sich. Sie hatte meine Größe, war vielleicht sogar ein kleines Stück
größer, und ihre Augen waren etwas verschiedenfarbig, so wie die
des Hundes: ein ernstes Tiefblau in der rechten Iris, eine
meergrüne türkise Schattierung in der linken. Wir waren uns so
nahe, als würden wir miteinander tanzen. »Ich sag Ihnen was«,
meinte sie, und ein Lächeln hellte ihr Gesicht auf, »da Sie bei der
ganzen Sache so nett reagieren, und das würden wohl die wenigsten,
auch wenn sie wüßten, was der arme Alf alles durchgemacht hat,
warum lassen Sie mich den Anorak nicht für Sie waschen – und das
T-Shirt auch?«
Ich war momentan etwas aus der Fassung –
immerhin war ich gerade angepißt worden –, doch mein Ärger war
verflogen. Ich fühlte mich schwerelos, schwebend, wie ein Fussel,
der im Wind trieb. »Hören Sie«, sagte ich und konnte ihr dabei gar
nicht in die Augen sehen, »ich möchte Ihnen keine Umstände
bereiten...«
»Ich wohne zehn Minuten von hier am
Strand, und ich hab Waschmaschine und Trockner. Kommen Sie, das
macht keine Umstände. Oder haben Sie etwas vor? Ich meine, ich
zahle Ihnen auch die Reinigung, wenn Sie wollen...«
Ich war damals gerade solo – die Frau, mit
der ich das letzte Jahr hindurch öfter zusammengewesen war, rief
mich nicht einmal mehr zurück –, und meine Vorhaben für diesen Tag
bestanden darin, allein am späten Nachmittag ins Kino zu gehen, als
Geburtstagsgeschenk, und danach meine Mutter zu besuchen, bei der
es Abendessen und einen Kuchen mit Kerzen geben würde. Meine Tante
Irene wäre dort und meine Großmutter auch. Sie würden aufjuchzen,
wie groß ich doch geworden war und wie gut ich aussah, und dann
würden sie mein jetziges Ich mit meinen früheren, kindlicheren
Inkarnationen vergleichen, um sich schließlich in eine Flut von
Reminiszenzen hineinzusteigern, die mit unverminderter Heftigkeit
anhalten würden, bis meine Mutter die beiden nach Hause fuhr.
Danach würde ich vielleicht noch in eine Single-Bar gehen, wo ich,
wenn ich Glück hatte, die Bekanntschaft einer geschiedenen
Programmiererin von Mitte Dreißig mit Mundgeruch und drei Kindern
machte.
Ich zuckte die Achseln. »Ob ich was
vorhabe? Nein, eigentlich nicht. Ich meine, nichts
Besonderes.«
Alena hütete das Haus nur, einen
Einzimmer-Bungalow, der wie ein Baumstumpf aus dem Sand aufragte,
keine zwanzig Meter von der Flutlinie entfernt. Ein paar Bäume
standen in dem Gärtchen dahinter, das zwischen gläsernen Festungen
mit zinnenbewehrten Flachdächern, flatternden Fahnen und massigen
Betonpfeilern eingezwängt war. Wenn man im Haus auf dem Sofa saß,
spürte man die dumpfe Vibration jeder einzelnen brechenden Welle am
Strand – ein stetiger Puls, mit dem mir dieses Haus für immer
verbunden bleiben sollte. Alena gab mir ein verblichenes
Uni-Sweatshirt, das beinahe paßte, sprühte Fleckenentferner auf
T-Shirt und Anorak und schloß dann in einer einzigen gleitenden
Bewegung die Klappe der Waschmaschine und holte zwei Bier aus dem
Kühlschrank daneben.
Einen Moment lang herrschte verlegenes
Schweigen, als sie es sich in dem Sesssel mir gegenüber behaglich
machte und wir uns auf unsere Biere konzentrierten. Mir fehlte der
Gesprächsstoff. Ich war verwirrt, mir schwindelte, und ich hatte
immer noch Mühe zu verstehen, was geschehen war. Vor einer
Viertelstunde hatte ich am Strand gedöst, allein an meinem
Geburtstag und voller Selbstmitleid, und nun saß ich bequem in
einem gemütlichen Häuschen am Meer, in Gegenwart von Alena
Jorgensen und ihren endlosen nackten Beinen, und trank ein Bier.
»Also, was machst du so?« fragte sie und stellte ihre Flasche auf
dem Tisch ab.
Ich war dankbar für die Frage, womöglich
zu dankbar. Ausführlich beschrieb ich ihr, wie langweilig meine
Arbeit war, fast zehn Jahre war ich schon bei derselben Agentur, wo
ich Werbetexte schrieb und mein Hirn vor lauter Nichtgebrauch immer
abgestumpfter wurde. Ich war mitten in einem detaillierten Bericht
unserer derzeitigen Kampagne für einen ghanaischen Wodka, der aus
den Schalen des Kalebassenkürbisses hergestellt wurde, als sie
einwarf: »Ich versteh, was du meinst«, und mir dann erzählte, sie
selbst habe das Veterinärmedizinstudium hingeworfen. »Nachdem ich
gesehen habe, was sie mit den Tieren machen. Ich meine, kannst du
dir vorstellen, daß man Hunde sterilisiert, nur weil es bequemer so
ist, nur weil es einfacher für uns ist, wenn sie kein Sexualleben
haben?« Sie ereiferte sich. »Es ist immer dieselbe Geschichte:
Artenfaschismus hoch zehn.«
Alf lag leise schnaufend zu meinen Füßen
und blickte schwermütig aus seinem starren blauen Auge auf; eine
unschuldigere Kreatur hatte ich noch nie gesehen. Ich machte ein
mattes Geräusch der Zustimmung und brachte das Thema auf Alf. »Und
dein Hund?« fragte ich. »Hat er Arthritis? Oder Hüftdysplasie oder
so was?« Ich war stolz auf diese Frage – »Hüftdysplasie« war,
abgesehen von »Bandwurm«, der einzige veterinärmedizinische
Terminus, den ich in der Gedächtnisdatenbank ausgraben konnte, und
es war klar, daß Alf größere Probleme als Würmer hatte.
Alena fuhr plötzlich zornig auf. »Wenn’s
nur so wäre«, sagte sie. Verbittert holte sie tief Luft. »Alles,
worunter Alf leidet, wurde ihm zugefügt. Sie haben ihn gefoltert,
verstümmelt, verkrüppelt.«
»Gefoltert?« echote ich und fühlte die
Empörung in mir aufwallen – so eine schöne Frau, so ein
unschuldiges Tier. »Wer?«
Alena beugte sich vor, und ihre Augen
funkelten vor Haß. Sie nannte mir eine bekannte Schuhfirma – spie
den Namen geradezu aus. Es war ein banaler, vertrauter Name, und
nun hing er in der Luft zwischen uns, unvermittelt unheilvoll. Alf
hatte an einem Experiment teilgenommen, bei dem die
Vermarktungschancen von Stiefeletten für Hunde getestet worden
waren – Wildleder, Sämischleder, Lackleder, das volle Programm. Die
Hunde mußten dabei in den Stiefeletten auf einem Laufband
marschieren, um die Verschleißdauer zu überprüfen; Alf hatte zur
Kontrollgruppe gehört.
»Kontrollgruppe?« Ich spürte, wie sich
meine Nackenhaare aufrichteten.
»Sie haben die Laufbänder mit
Achtziger-Sandpapier beschichtet, um die Sache zu beschleunigen.«
Alena sah kurz zum Fenster hinaus, wo die Brandung auf den Strand
einhämmerte; sie biß sich auf die Lippe. »Alf war einer von den
Hunden ohne Schuhe.«
Ich war wie gelähmt. Ich wollte aufstehen
und sie trösten, aber ebensogut hätte ich auf den Sessel
aufgepfropft sein können. »Ich fasse es nicht«, sagte ich. »Wie
kann denn nur irgendwer...«
»Glaub’s mir«, sagte sie. Sie fixierte
mich einen Augenblick, dann stellte sie ihr Bier weg und ging durch
das Zimmer, um in einem Pappkarton in der Ecke zu wühlen. Mochte
ich auch sehr berührt sein durch die Emotionen, die sie wachgerufen
hatte, noch stärker berührte mich der Anblick, wie sie sich in
ihrem Gore-Tex-Bikini über den Karton beugte; ich klammerte mich an
die Sessellehne, als wäre es eine Achterbahn in voller Sturzfahrt.
Gleich darauf knallte sie mir ein Dutzend Aktenordner in den Schoß.
Auf dem obersten stand der Name der Schuhfirma, und er war
vollgestopft mit Zeitungsausschnitten, einer seitenlangen
Aufzeichnung von Arbeitsabläufen und Schichtplänen der Fabrik in
Grand Rapids sowie einem Grundriß des Laboratoriums. Die Ordner
darunter waren mit den Namen von Kosmetikfirmen, Kürschner- und
Lederbetrieben, biomedizinischen Forschungszentren und
Fleischgroßhändlern beschriftet. Alena saß auf dem Rand des
Beistelltischchens und sah mir zu, wie ich darin blätterte.
»Kennst du den Draize-Test?«
Ich sah sie fragend an.
»Sie injizieren Chemikalien in die Augen
von Kaninchen, um zu prüfen, welche Menge nötig ist, damit sie
blind werden. Die Kaninchen sind in Käfigen, Tausende von ihnen,
und die nehmen eine Nadel und rammen sie ihnen in die Augen – und
weißt du auch, warum? Weißt du, im Namen welches großen humanitären
Anliegens so etwas geschieht, auch jetzt, während wir hier
sitzen?«
Ich wußte es nicht. Das Meer pulsierte
unter meinen Füßen. Ich sah zu Alf und dann wieder in ihre wütenden
Augen.
»Für Mascara. Nur für Mascara. Sie foltern
Abertausende Kaninchen, damit Frauen wie Nutten aussehen
können.«
Ich empfand diese Interpretation als etwas
hart, doch als ich ihre blassen Wimpern und den schmalen,
ungeschminkten Mund betrachtete, sah ich, daß sie es ernst meinte.
Auf jeden Fall brachte sie der Gedanke in Fahrt, und sie legte los
mit einem zweistündigen Vortrag, bei dem sie mit ihren makellosen
Händen gestikulierte, Zahlen zitierte, in ihren Unterlagen nach
einzelnen Fotos von Ratten ohne Beine oder von morphiumsüchtigen
Wüstenspringmäusen wühlte. Sie erzählte mir, wie sie Alf gerettet
hatte: bei einem Überfall auf ein Labor, gemeinsam mit sechs
weiteren Mitgliedern der Animal Liberation Front, der militanten
Tierbefreiungsgruppe, nach der Alf benannt worden war. Anfangs
hatte sie sich damit begnügt, Petitionen zu verschicken und
Transparente zu schwenken, doch inzwischen, da das Leben so vieler
Tiere bedroht war, hatte sie sich konkreten Taten verschrieben:
Störaktionen, Vandalismus, Sabotage. Sie schilderte mir ihre
Einsätze: mit der Gruppe »Earth First!« hatte sie in einem
Holzfällergebiet in Oregon Bäume mit Stahlnägeln gespickt, in
Nevada viele Kilometer Stacheldrahtzaun um Rinderfarmen
durchgeknipst, die Akten von biomedizinischen Forschungslabors
entlang der ganzen Westküste zerstört, und in den Bergen von
Arizona hatte sie sich zwischen die Jäger und die Dickhornschafe
gestellt. Ich konnte nur nicken und staunen, betrübt lächeln und
leise pfeifen, wie um »Alle Achtung« zu sagen. Schließlich hielt
sie inne, um den Blick ihrer beunruhigenden Augen auf mich zu
richten. »Weißt du, was Isaac Bashevis Singer gesagt hat?«
Wir waren beim dritten Bier. Die Sonne war
untergegangen. Ich hatte keine Ahnung.
Alena beugte sich ein Stück vor. »›Für die
Tiere ist jeder Tag wie Auschwitz.‹«
Ich senkte den Blick in die
bernsteinfarbene Öffnung meiner Bierflasche und nickte traurig. Der
Trockner stand seit anderthalb Stunden still. Ich fragte mich, ob
sie wohl mit mir ausgehen würde, und wenn ja, was sie überhaupt
essen konnte. »Äh, ich überlege gerade«, sagte ich, »ob... ob du
mit mir irgendwo was essen gehen möchtest.«
Diesen Augenblick wählte Alf dazu, sich
schwankend zu erheben und an die Wand hinter mir zu urinieren. So
hing mein Vorschlag in der Luft, während Alena vom Tischrand
hochschoß, um den Hund zu schelten und ihn dann behutsam zur Tür
hinaus ins Freie zu schubsen. »Armer Alf«, seufzte sie und wandte
sich achselzuckend wieder mir zu. Ȇbrigens, tut mir leid, wenn ich
dich hier so vollquatsche – das habe ich nicht vorgehabt, aber man
trifft eben selten jemanden, der auf der gleichen Wellenlänge
ist.«
Sie lächelte. Auf der gleichen
Wellenlänge: die Worte waren wie eine Erleuchtung für mich, sie
erregten mich, durchzuckten mich mit einem Beben, das ich bis in
die Tiefe meines Fortpflanzungstrakts verspürte. »Also wie steht’s
mit dem Essengehen?« beharrte ich. Diverse Restaurants gingen mir
durch den Kopf – es würde ja wohl vegetarisch sein müssen. Durfte
auch nur der geringste Hauch von gegrilltem Fleisch in der Luft
liegen? Vergorene Ziegenmilch und Tabbouleh, Tofu, Linsensuppe,
Sojasprossen: Für die Tiere ist jeder Tag wie Auschwitz.
»Kein Fleisch natürlich.«
Sie betrachtete mich wortlos.
»Ich meine, ich esse selbst kein Fleisch«,
log ich, »also, jedenfalls nicht mehr« – seit dem
Pastrami-Sandwich, um genau zu sein – »aber ich kenne eigentlich
kein Restaurant, das...« Ich ließ den Satz lahm in der Luft
hängen.
»Ich bin Veganerin«, sagte sie.
Nach zwei Stunden mit geblendeten
Karnickeln, niedergemetzelten Kälbern und verstümmelten Hundewelpen
konnte ich mir den Witz nicht verkneifen: »Und ich komm von der
Venus.«
Sie lachte, aber ich merkte, daß sie es
nicht besonders lustig fand. Veganer aßen weder Fleisch noch Fisch,
erläuterte sie, und auch Milch, Käse und Eier nicht, und sie trugen
weder Wolle noch Leder am Leib – und Pelz natürlich sowieso
nicht.
»Natürlich«, sagte ich. Wir standen
einander gegenüber, zwischen uns der Beistelltisch. Ich kam mir
allmählich etwas albern vor.
»Warum essen wir nicht einfach hier«,
schlug sie vor.
Das dumpfe Pulsieren des Meeres
vibrierte in meinen Knochen, als wir in dieser Nacht im Bett lagen,
Alena und ich, und ich mich mit der Gelenkigkeit ihrer Gliedmaßen
und der Süße ihrer Gemüsezunge vertraut machte. Alf lag auf dem
Boden, im Schlaf schnaufend und ächzend, und ich liebte ihn um
seiner Inkontinenz und seiner hündischen Blödheit willen. Etwas
passierte mit mir – ich spürte es, während die Dielen unter mir
knackten, spürte es mit jedem Pulsschlag der Brandung –, und ich
war bereit, mich darauf einzulassen. Am Morgen meldete ich mich
wieder krank.
Alena sah mir vom Bett aus zu, wie ich im
Büro anrief und genau beschrieb, wie die Grippe von meinem Kopf in
den Darm und noch weiter gewandert war, und sie musterte mich mit
einem Blick, der mir verhieß, daß ich den Rest des Tages dort neben
ihr zubringen, Weintrauben schälen und eine nach der anderen
zwischen ihre geöffneten, erwartungsvollen Lippen fallen lassen
würde. Ich irrte mich. Eine halbe Stunde später, nach einem
Frühstück aus Bierhefe und etwas, das an Baumrinde in
Joghurtmarinade erinnerte, fand ich mich unversehens auf einem
Gehsteig in Beverly Hills wieder, marschierte vor einem luxuriösen
Pelzgeschäft auf und ab und schwenkte ein Transparent mit dem Text
WIE FÜHLT MAN SICH MIT EINER LEICHE AM
LEIB? in Buchstaben, die wie Blut trieften.
Es kam wie ein Schock. Protestmärsche,
Antikriegsdemos und Bürgerrechtsversammlungen kannte ich aus dem
Fernsehen, aber noch nie hatte ich selbst meine Sohlen auf dem
Straßenpflaster gewetzt, Parolen skandiert oder einen rauhen
Holzgriff in der Hand gespürt. Wir waren etwa vierzig, größtenteils
Frauen, fuchtelten mit unseren Transparenten vor den
vorbeifahrenden Autos herum und blockierten den Fußgängerverkehr
vor dem Laden. Eine der Frauen hatte sich Gesicht und Hände mit
Hautcreme beschmiert, die mit roter Farbe versetzt war, und Alena
hatte irgendwo eine verrottete Nerzstola aufgetrieben – die Sorte,
bei der mehrere Tiere Schnauze an Schweif miteinander vernäht sind,
die Miniaturbeinchen schlaff herabbaumelnd – und die Mäuler
karminrot angesprayt, so daß sie wie eben getötet aussahen. Dieses
grausige Banner steckte an der Spitze eines Stockes, und sie
schwenkte es und johlte dabei wie ein Krieger: »Pelz ist Mord, Pelz
ist Mord«, bis es den Demonstranten zu einem Mantra wurde. Es war
für November ungewöhnlich warm, die Jaguars blinkten im Sonnenlicht
und die Palmen neigten sich im Wind, und niemand – bis auf einen
einsamen, schmallippigen Verkäufer, der uns finster durch die
blitzblanken Fenster des Pelzgeschäfts anstarrte – schenkte uns
auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
So demonstrierte ich dort, fühlte mich
exponiert und unübersehbar, aber ich demonstrierte – Alena zuliebe,
den Füchsen und Mardern und all diesen Biestern zuliebe, und auch
mir zuliebe; mit jedem Schritt, den ich tat, spürte ich, wie mein
Bewußtsein größer wurde wie ein Ballon, und mehr und mehr
durchflutete mich der Atem der Heiligkeit. Bis zu diesem Tag hatte
ich Leder, ob rauh oder glatt, wie jeder andere getragen,
Halbstiefel und Laufschuhe und meine geliebte Fliegerjacke, die ich
schon seit der High-School hatte. Wenn ich bei Pelz eine Grenze
gezogen hatte, dann nur deshalb, weil ich keine Verwendung dafür
hatte. Hätte ich in Yukon gelebt – und manchmal, wenn ich in der
Agentur bei einer Besprechung halb einnickte, stellte ich es mir
vor –, wäre ich wohl in Pelzmänteln herumgelaufen, ohne Reue, ohne
groß nachzudenken.
Nun aber nicht mehr. Jetzt war ich ein
Protestierer, ein Spruchbandschwenker, kämpfte für das Recht auch
noch des letzten Wiesels und Luchses, in Frieden alt werden und
sterben zu können, ich war jetzt mit Alena Jorgensen zusammen und
ein Faktor, mit dem man rechnen mußte. Natürlich taten mir die Füße
weh, ich war schweißnaß und betete, es möge niemand von meiner
Firma vorbeifahren und mich hier auf dem Gehsteig sehen, in dieser
durchgedrehten Schar und mit den anprangernden Slogans.
Stundenlang demonstrierten wir dort,
marschierten hin und her, bis ich glaubte, wir würden eine Furche
ins Pflaster graben. Wir brüllten und johlten, und niemand sah uns
auch nur zweimal an. Wir hätten auch Hare-Krischnas sein können,
Obdachlose, Abtreibungsgegner oder Leprakranke, wo lag der
Unterschied? Für den Rest der Welt, für die ahnungslose Mehrheit,
deren kläglicher Zahl ich vierundzwanzig Stunden vorher noch
angehört hatte, waren wir unsichtbar. Ich war hungrig, erschöpft,
entmutigt. Alena beachtete mich nicht. Selbst die Frau mit der
roten Schminke ermattete jetzt, ihre Parolen nur noch ein heiseres
Flüstern, das vom Verkehrslärm aufgesogen und zunichte gemacht
wurde. Und dann, als der Nachmittag allmählich in die Rush-hour
überging, stieg am Bordstein eine verschrumpelte, silberhaarige
alte Frau, die vielleicht ein früherer Filmstar oder die Mutter
eines Filmstars oder gar die erste, fast vergessene Frau eines
Studiobosses sein mochte, aus einer langen weißen Limousine aus und
stolzierte unerschrocken auf uns zu. Trotz der Hitze – es mußten
immer noch über fünfundzwanzig Grad sein – trug sie einen
knöchellangen Silberfuchsmantel, eine buschige, breitschultrige,
wehende Masse aus Pelz, die die Füchse in der Tundra deutlich
dezimiert haben mußte. Das war der Moment, auf den wir gewartet
hatten.
Ein Schrei erhob sich, schrill und
klagend, und wir nahmen die einsame Greisin in die Zange, wie ein
Trupp Cheyenne auf dem Kriegspfad. Der Mann neben mir ließ sich auf
alle viere nieder und heulte wie ein Hund, Alena wirbelte ihren
schlaffen Nerz durch die Luft, und mir rauschte das Blut in den
Ohren. »Mörderin!« brüllte ich und steigerte mich hinein.
»Folterknechte! Nazi!« Meine Nackensehnen waren angespannt, ich
wußte nicht, was ich schrie. Die Menge raunte. Die Transparente
tanzten. Ich war der alten Dame so nahe, daß ich sie riechen konnte
– ihr Parfum, ein Hauch von Mottenkugeln aus dem Mantel –, und es
berauschte mich, machte mich glatt verrückt, und ich ging auf sie
los und versperrte ihr den Weg mit der ganzen bedrohlichen,
militanten Macht meiner dreiundachtzig Kilo aus Muskeln und
Sehnen.
Den Chauffeur bemerkte ich gar nicht.
Alena sagte mir später, daß er ein ehemaliger Champion im Kickboxen
war, den man wegen übermäßiger Brutalität aus dem Sportverband
ausgeschlossen hatte. Der erste Schlag schien von oben zu kommen,
wie eine Bombe, abgefeuert aus tiefstem Feindesland; die nächsten
trafen mich wie von einem Sturm angetriebene Windmühlenflügel.
Jemand kreischte. Ich erinnere mich noch an die makellosen
Bügelfalten in den Hosen des Chauffeurs, danach wurden die Dinge
ein bißchen schummrig.
Ich erwachte zum dumpfen Dröhnen der
Brandung, die auf den Strand eindrosch, und zu Alenas Lippen, die
sich auf meine preßten. Ich fühlte mich, als hätte man mich
gerädert, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. »Nicht
bewegen«, sagte sie, und ihre Zunge glitt über meine geschwollene
Wange. Ich konnte nur schmerzverzerrt den Kopf auf dem Kissen
drehen und in die Tiefen ihrer zweifarbigen Augen blicken. »Jetzt
gehörst du zu uns«, flüsterte sie.
Am nächsten Morgen rief ich nicht einmal
mehr an, um mich krank zu melden.
Gegen Ende der Woche hatte ich mich
genügend erholt, um Appetit auf Fleisch zu entwickeln – wofür ich
mich zutiefst schämte – und um beim nächsten Protestmarsch ein Paar
Strandsandalen aus Vinyl abzuwetzen. Gemeinsam mit Alena – und
diversen Koalitionen aus Antivivisektionisten, militanten Veganern
und Katzenfreunden – schritt ich hundert Kilometer Bürgersteig ab,
sprühte aufrührerische Slogans an die Fenster von Supermärkten und
Hamburgerbuden, protestierte gegen Gerbereien, Hufschmieden,
Geflügelfarmen und Wurstfabriken und fand irgendwie sogar die Zeit,
einen Hahnenkampf in Pacoima zu sprengen. Es war aufregend,
faszinierend, gefährlich. Wenn ich in der Vergangenheit
abgeschaltet gewesen war, dann stand ich jetzt voll unter Strom.
Ich fühlte mich rechtschaffen – zum erstenmal im Leben kämpfte ich
für eine gute Sache –, und ich hatte Alena, vor allem Alena. Sie
bezauberte und entzückte mich, verlieh mir das Gefühl eines Katers,
der durch ein Fenster im Obergeschoß hinaus- und wieder
hineinschlüpft, ohne an den freien Fall und den Staketenzaun zu
denken. Natürlich, sie war schön, ein Triumph der Evolution, der
gelungenste Genaustausch seit den Zeiten der Höhlenmenschen, aber
es war mehr als das – so richtig unwiderstehlich machte sie ihre
Hingabe an die Tiere, an den Kampf gegen alles Unrecht und für die
Moral. War es Liebe? Das ist ein Wort, mit dem ich schon immer
meine Probleme hatte, aber vermutlich war es das. Sicherlich.
Liebe, schlicht und einfach. Liebe war in mir, ich war in
ihr.
»Weißt du was?« sagte Alena eines Abends,
als sie an ihrem Miniaturherd Tofu in Öl und Knoblauch schmorte. Am
Nachmittag hatten wir vor einer Tortillafabrik demonstriert, die
ausgelassenes tierisches Fett als Bindemittel verwendete; danach
waren wir von dem übergewichtigen Geschäftsführer eines
Supermarktes, der etwas dagegen hatte, daß Alena über die
Sonderangebote auf seinem Schaufenster den Slogan FLEISCH IST TOD gesprayt hatte, drei
Häuserblocks weit gejagt worden. Mir war richtig schwindlig von der
pubertären Lust an alldem. Jetzt sank ich mit einem Bier in der
Hand auf die Couch und sah zu, wie Alf heranhinkte, seitlich umfiel
und an einem verdächtigen Fleck auf dem Fußboden leckte. Die
Brandung dröhnte wie dumpfer Donner.
»Was?«
»Bald ist Thanksgiving.«
Ich überlegte einen Augenblick, ob ich
Alena zu meiner Mutter einladen sollte, zu dem mit Austern aus der
Dose und in Butter geschwenkten Semmelbröseln gefüllte, in leckerer
Bratensoße schwimmenden Truthahn, doch dann wurde mir klar, daß das
wohl keine gute Idee war. Also sagte ich gar nichts.
Sie sah über die Schulter. »Die Tiere
haben nicht viel, wofür sie dankbar sein können, das ist mal
sicher. Das Ganze ist nur eine Ausrede für die Fleischindustrie, um
ein paar Millionen Truthähne niederzumetzeln, sonst nichts.« Sie
hielt inne; heißes Distelöl brutzelte in der Pfanne. »Ich glaube,
es ist Zeit für einen kleinen Ausflug«, sagte sie. »Können wir dein
Auto nehmen?«
»Klar, aber wohin fahren wir denn?«
Sie schenkte mir ihr Lächeln der Gioconda.
»Truthähne befreien.«
Am Morgen rief ich meinen Chef an, um
ihm zu sagen, daß ich Bauchspeicheldrüsenkrebs hätte und eine
Zeitlang nicht kommen würde, dann warfen wir ein paar Sachen in den
Wagen, halfen Alf dabei, auf den Rücksitz zu krabbeln, und nahmen
die Schnellstraße 5 zum San Joaquin Valley. Wir fuhren drei Stunden
lang durch so dichten Nebel, daß die Fenster ebensogut in Watte
hätten verpackt sein können. Alena tat geheimnisvoll, aber ich
spürte ihre Erregung. Ich wußte nur, daß wir bald einen gewissen
»Rolfe« treffen sollten, einen alten Freund von ihr, der inzwischen
eine wichtige Rolle in der Öko-Szene und bei »Rechte für Tiere«,
spielte, und danach würden wir eine verzweifelte, gesetzwidrige
Handlung begehen, für die uns die Truthähne ewig dankbar
wären.
Ein Lastwagen verdeckte das Schild, das
die Abfahrt nach Calpurnia Springs anzeigte, und ich mußte abrupt
bremsen und das Lenkrad zweimal herumreißen, um auf der Fahrbahn zu
bleiben. Alena fuhr auf dem Sitz hoch, und Alf knallte gegen die
Armlehne wie ein Mehlsack, aber wir schafften die Kurve. Bald
danach glitten wir durch die gespenstische Leere der Ortschaft, in
einem Nimbus aus Nebel zogen Lichter vorbei und glühten rosa, gelb
und weiß, dann war nur noch der schwarze Asphalt da und die bleiche
Leere, die alles verschluckte. Nach etwa fünfzehn Kilometern bat
mich Alena, langsamer zu fahren und musterte mit scharfem,
unverwandtem Blick die rechte Straßenbankette.
Die Erde atmete Dunst. Ich spähte
angestrengt in das weiche, wabernde Licht unserer Scheinwerfer.
»Da, da!« rief sie, ich bog scharf nach rechts ab, und wir
rumpelten einen mit Schlaglöchern übersäten Feldweg entlang, der
von der Asphaltstraße abzweigte, eine Art Ziegenpfad, der den Berg
hinaufführte. Fünf Minuten später setzte sich Alf auf der Rückbank
auf und fing an zu winseln, dann schälte sich ein primitiver, roh
gezimmerter Schuppen aus der Unschärfe rings herum.
Rolfe empfing uns vor dem Haus. Er war
groß und wettergegerbt, um die Fünfzig, schätzte ich, mit einem
wilden Haarschopf und zerfurchten Zügen, die mich an Samuel Beckett
erinnerten. Er trug Gummistiefel, Jeans und ein verblichenes
kariertes Holzfällerhemd, das aussah, als wäre es hundertmal
gewaschen worden. Alf pinkelte hastig das Haus an, dann wackelte er
die Verandastufen hinauf, um sich geifernd vor Rolfes Füßen zu
rollen.
»Rolfe!« rief Alena, mit für meinen
Geschmack etwas zuviel Begeisterung und Vertrautheit in der Stimme.
Sie nahm alle Stufen auf einmal und warf sich in seine Arme. Ich
sah ihnen beim Küssen zu, und das war kein Vater-Tochter-Kuß, ganz
und gar nicht. Es war ein Kuß, in dem Bedeutung lag, und die gefiel
mir überhaupt nicht. Rolfe, dachte ich, was ist denn das für ein
Name?
»Rolfe«, keuchte Alena, immer noch außer
Atem, weil sie die Stufen wie zu einer Siegerehrung hinaufgehetzt
war, »ich möchte dir Jim vorstellen.«
Das war mein Stichwort. Ich ging die
Treppe hinauf und streckte die Hand aus. Rolfe betrachtete mich aus
tiefliegenden Augen und packte dann meine Hand mit festem,
schwieligem Griff, einem Griff, mit dem man Holz hackte,
Zaunpfosten einschlug und gepeinigte Truthähne oder weiße
Labormäuse befreite: »Freut mich sehr«, sagte er mit einer Stimme,
die wie Sandpapier kratzte.
Im Haus brannte ein Feuer, und Alena und
ich setzten uns davor und wärmten uns die Hände, während Alf
winselte und jaulte und Rolfe uns in fingerhutgroßen japanischen
Täßchen Früchtetee kredenzte. Seit wir eingetreten waren, hatte
Alena mit dem Plappern nicht aufgehört, und Rolfe brabbelte mit
seiner hölzernen Kratzstimme: die beiden tauschten Namen und
Neuigkeiten und Klatsch aus, als hätten sie eine Art Geheimcode.
Ich studierte Reproduktionen von Krick- und Pfeifenten, die an den
abblätternden Tapeten hingen, und registrierte eine Kiste mit
vegetarischen Heinz-Bohnendosen in der Ecke sowie eine
Riesenflasche Jack Daniels auf dem Kaminsims. Endlich, nach der
dritten Tasse Tee, lehnte sich Alena in ihrem Sessel zurück – einem
gewaltigen alten Ding mit fleckigem Schonbezug – und fragte: »Also,
wie sieht dein Plan aus?«
Rolfe warf mir wieder einen Blick zu, ein
rasches, raubtierhaftes Huschen seiner Augen, als wäre er nicht
sicher, ob er mir vertrauen könne, dann ging er auf Alenas Frage
ein. »Wir nehmen uns die Freilandputenranch ›Toller Koller‹ vor«,
sagte er. »Und nein, ich finde den Namen nicht witzig, überhaupt
nicht.« Er musterte mich jetzt, lange, stetig und prüfend. »Die
verarbeiten die Köpfe zu Katzenfutter, und den Hals und die
Innereien wickeln sie in Papier ein und stopfen das Ganze in die
Körperhöhle, wie bei irgendwelchen Kriegsgreueln. Was in aller Welt
hat ein Truthahn getan, um so ein Schicksal zu verdienen?«
Obwohl er mich direkt ansprach, war es
wohl eine rhetorische Frage, deshalb reagierte ich darauf nur,
indem ich eine Miene machte, in der sich Kummer, Empörung und
Entschlossenheit vermengten. Ich dachte an die vielen Truthähne,
die ich selbst ins Jenseits befördert hatte, an die abgenagten
Brustknochen, die fetten Bürzel und die knusprige braune Haut, die
ich als Kind am liebsten gemocht hatte. Es verursachte mir einen
Klumpen in der Kehle, und noch etwas: ich merkte, daß ich Hunger
hatte.
»Ben Franklin wollte den Truthahn zum
nationalen Wahrzeichen machen«, flötete Alena, »wußtet ihr das?
Aber die Fleischfresser waren dagegen.«
»Es geht um fünfzigtausend Vögel«, sagte
Rolfe, sah kurz zu Alena und ließ dann seinen brennenden Blick
wieder auf mir ruhen. »Ich habe Informationen, daß sie morgen mit
dem Schlachten anfangen wollen, für das
Frischfleischgeschäft.«
»Yuppie-Geflügel!« In Alenas Stimme
schwang Ekel mit.
Eine Zeitlang sprach niemand. Ich hörte
das Knistern des Feuers. Der Nebel drängte gegen die Fenster. Es
wurde dunkel.
»Man kann die Farm von der Straße aus
sehen«, sagte Rolfe schließlich, »aber hin kommt man nur über
Calpurnia Springs. Es sind gut fünfunddreißig Kilometer –
siebenunddreißig Komma neun, um genau zu sein.«
Alenas Augen leuchteten. Sie starrte Rolfe
an, als wäre er soeben vom Himmel gefallen. Ich spürte, wie sich
mir etwas im Magen umdrehte.
»Wir schlagen noch heute nacht zu.«
Rolfe bestand darauf, daß wir mein
Auto nahmen – »Meinen Pick-up kennt jeder in der Gegend hier, und
wegen einer so kleinen Aktion kann ich kein Risiko eingehen« –,
aber wenigstens verdeckten wir die Kennzeichen hinten und vorn mit
einer dicken Schicht Schlamm. Dann schwärzten wir uns die
Gesichter, als wären wir Mitglieder eines Spezialkommandos, und
luden aus dem Schuppen hinter Rolfes Haus das Werkzeug ein:
Drahtschere, Brecheisen und zwei 25-Liter-Kanister voll Benzin.
»Benzin?« fragte ich und hob das schwere Gefäß probeweise an. Rolfe
fixierte mich unverwandt. »Als Ablenkungsmanöver«, sagte er. Alf
blieb aus verständlichen Gründen in der Hütte zurück.
War der Nebel am Tag schon dicht gewesen,
so schien er jetzt undurchdringlich: der Himmel stürzte einfach auf
die Erde herab. Sogar die Scheinwerfer wurden davon gepackt und auf
mich zurückgeworfen, bis mir von der Anstrengung, den Wagen auf der
Straße zu halten, die Augen tränten. Wären die Spurrillen und
Schlaglöcher nicht gewesen, hätte man meinen können, wir trieben im
Nichts. Alena saß vorn zwischen Rolfe und mir, merkwürdig
schweigsam. Auch Rolfe hatte wenig zu sagen, gelegentlich knurrte
er Anweisungen: »Da vorne rechts«, »Scharf links jetzt«, »Langsam,
langsam«. Ich dachte an Fleisch, ans Gefängnis und an die
heroischen Dimensionen, die ich in Alenas Augen bald annehmen
würde, und daran, was ich mit ihr tun würde, wenn wir doch
irgendwann ins Bett kämen. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte zwei
Uhr früh.
»So«, sagte Rolfe so abrupt, daß ich davon
aufschreckte, »fahr hier rechts ran – und mach das Licht
aus.«
Wir stiegen aus, in die Stille der Nacht,
und drückten leise die Türen hinter uns zu. Sehen konnte ich
nichts, aber ich hörte das nicht so ferne Rauschen des Verkehrs auf
der Straße – und ein anderes Geräusch, gedämpft und undeutlich, das
leise, unbewußte Atmen von Tausenden und Abertausenden meiner
Mitgeschöpfe. Und ich konnte sie riechen: den gärenden, ranzigen
Gestank nach Kot und Federn und nackten schuppigen Füßen, der mir
in der Nase brannte und in die Kehle fuhr. »Puhh!« flüsterte ich.
»Ich kann sie riechen.«
Rolfe und Alena waren verschwommene
Gestalten neben mir. Rolfe öffnete den Kofferraum, und im nächsten
Moment spürte ich das Gewicht eines Brecheisens und eines
Seitenschneiders in der Hand. »Hör zu jetzt, Jim«, raunte Rolfe,
packte mit eisernem Griff mein Handgelenk und führte mich ein
halbes Dutzend Schritte vorwärts. »Spürst du das?«
Ich spürte Maschendraht, den er im selben
Moment zerschnitt: knips, knips, knips.
»Das hier ist ihre Umfriedung – tagsüber
sind sie hier draußen und scharren im Dreck. Wenn du dich verirrst,
folg einfach diesem Draht. Also: du wirst jetzt den Zaun in dieser
Richtung aufschneiden, Alena geht nach Westen und ich nach Süden.
Wenn wir fertig sind, gebe ich ein Zeichen mit der Taschenlampe,
und wir treten die Tür zu den Truthahnställen ein – das sind diese
niedrigen weißen Bauten, du wirst sie sehen, wenn du nahe dran bist
– und scheuchen die Vögel hinaus. Hab keine Angst um mich oder
Alena. Wichtig ist nur, daß du so viele Truthähne rausscheuchst wie
möglich.«
Ich hatte aber Angst. Vor praktisch allem:
vor einem halbverrückten Bauern mit einer Schrotflinte, einer
Kalaschnikow oder was immer die heutzutage mit sich rumschleppten,
davor, daß ich Alena im Nebel verlieren könnte, und vor den
Truthähnen selbst. Wie groß waren die eigentlich? Waren sie
aggressiv? Immerhin hatten sie ja wohl Klauen und scharfe Schnäbel?
Was würden sie wohl davon halten, wenn ich mitten in der Nacht in
ihr Schlafzimmer eindrang?
»Und wenn die Benzinkanister hochgehen,
dann rennst du zurück zum Wagen, verstanden?«
Ich konnte die Puten im Schlaf zappeln
hören. Auf der Schnellstraße wechselte ein Lastwagen krachend den
Gang. »Glaube schon«, flüsterte ich.
»Und noch was – laß auf jeden Fall den
Zündschlüssel stecken.«
Dies ließ mich innehalten. »Aber –«
»Zum Abhauen.« Alena war mir so nahe, daß
ich ihren Atem im Ohr spürte. »Ich meine, wir wollen doch nachher
nicht lange nach den Schlüsseln wühlen müssen, wenn da draußen die
Hölle los ist, oder?«
Ich öffnete die Tür noch einmal und
steckte den Zündschlüssel wieder ein, obwohl mich der
Automatiksummer davor warnte. »Gut«, murmelte ich, aber sie waren
schon weg, aufgesogen von den Schatten und vom Nebel. Inzwischen
hämmerte mein Herz so laut, daß ich kaum noch das Kratzen der Tiere
hörte – das ist Wahnsinn, sagte ich mir, es ist falsch und
verkehrt, und illegal ist es obendrein. Aufgesprayte Slogans waren
eine Sache, aber das hier war etwas völlig anderes. Ich dachte an
den schlafenden Truthahnfarmer in seinem Bett: ein
Kleinunternehmer, der mit seiner Arbeit Amerika stark machte, ein
Mann mit Frau und Kindern und einer Hypothek im Nacken... aber dann
dachte ich an all die unschuldigen Puten und Puter, die dem Tode
geweiht waren, und schließlich dachte ich an Alena, an ihre langen
Beine und ihre zärtliche Art und wie sie aus dem Dunkel des
Badezimmers und dem Rauschen der Brandung zu mir kam. Ich setzte
die Blechschere am Drahtzaun an.
Ich mußte wohl eine halbe oder dreiviertel
Stunde lang drauflosgeschnitten haben und näherte mich langsam den
großen weißen Ställen, die sich inzwischen vor mir aus der
Dunkelheit schälten, als ich links von mir Rolfes Taschenlampe
aufblinken sah. Das war das Signal für mich, zum nächstgelegenen
Stall zu laufen, das Schloß aufzubrechen, die Tür aufzureißen und
den ganzen Trupp mißtrauischer, griesgrämiger Kollerer in die Nacht
hinauszuscheuchen. Jetzt oder nie. Ich blickte mich zweimal um und
lief dann linkisch und leicht gebückt auf den nächsten Stall zu.
Die Puten dürften gespürt haben, daß etwas im Busch war – hinter
der langen weißen, fensterlosen Mauer erhob sich ein argwöhnisches
Brabbeln, das Geraschel von Federn brauste auf wie ein Windstoß in
den Baumwipfeln. Harret aus, ihr Puter und Puten, dachte
ich, die Freiheit ist nah! Ein kurzer Ruck mit der
Brechstange, und das Vorhängeschloß fiel zu Boden. Während mir das
Blut in den Ohren pochte, packte ich die Schiebetür und riß sie mit
einem mächtigen, dumpfen Donnern auf – und da waren sie auf einmal:
Truthähne, Tausende und Abertausende von ihnen, aufgeplustertes
weißes Gefieder im Schein einer Reihe mattgelber Glühbirnen. Das
Licht funkelte in ihren Reptilienaugen. Irgendwo begann ein Hund zu
bellen.
Ich stählte mich und hechtete mit einem
Schrei durch die Tür, die Brechstange wild über dem Kopf
schwenkend: »Also los!« brüllte ich, und das Echo wiederholte
meinen Ruf gleich mehrere hundert Male, »es ist soweit, Truthähne!
Macht euch auf die Beine!« Nichts. Keine Reaktion. Hätten sie nicht
mit den Federn geraschelt und die Köpfe so wachsam emporgereckt,
hätten es Skulpturen sein können, ausgeschüttelte Kissen, sie
hätten ebensogut längst tot und geschlachtet sein können, auf einer
Servierplatte angerichtet mit Yams und Zwiebeln. Das Hundegebell
wurde eine Spur lauter. Ich glaubte, Stimmen zu hören.
Die Truthähne kauerten auf dem
Betonfußboden, Welle um Welle von ihnen, dumpf und ungerührt; sie
hockten auf den Dachsparren, auf Brettern und Vorsprüngen, drängten
sich in hölzernen Gestellen. Wild entschlossen stürmte ich auf die
vorderste Reihe zu, meine Brechstange schwenkend, mit den Füßen
stampfend und johlend wie der Knochennager, der ich einst gewesen
war. Das war genug. Der erste Vogel stieß einen Schrei aus, den die
anderen sofort aufnahmen, bis ein unheiliges Krakeelen den Stall
erfüllte, und jetzt kamen sie in Bewegung, torkelten von ihren
Schlafplätzen herunter, flatterten mit den Flügeln und wirbelten
dabei getrocknete Exkremente und zerpickte Körner auf, ergossen
sich über den Betonboden, bis nichts mehr davon zu sehen war. Mit
neuem Mut brüllte ich noch einmal – »Yiii-ha-ha-ha!« – und
klapperte mit der Brechstange gegen die Aluminiumwände, während die
Truthähne zur Tür hinaus in die Nacht stoben.
In diesem Augenblick flammte in der
dunklen Öffnung des Ausgangs grelles Licht auf, und das Krachen der
explodierenden Benzinkanister ließ die Erde erzittern. Renn
weg! schrie eine Stimme in meinem Kopf, Adrenalin schoß ein,
und mit einemmal hastete ich auf die Tür zu, inmitten eines
Truthahn-Hurrikans. Sie waren überall, flügelschlagend, kollernd
und kreischend, in Panik ihren Darm entleerend. Etwas traf mich in
der Kniekehle, und plötzlich lag ich auf dem Boden, im Mist,
zwischen den Federn und dem feuchten Truthahndreck. Ich war ein
Weg, eine Truthahn-Autobahn. Ihre Klauen bohrten sich mir in Rücken
und Schultern, in meine Schädelhaut. Selbst in Panik geraten, an
Federn, Staub und noch Schlimmerem würgend, kämpfte ich mich auf
die Beine, während die großen, schreienden Vögel ringsherum auf
mich losgingen, und stolperte in den Hof hinaus. »Da! Wer ist das
dort?« rief eine Stimme, und ich rannte los, so schnell ich
konnte.
Was soll ich sagen? Ich sprang über
Truthähne, andere kickte ich beiseite wie Fußbälle, schlug wild auf
sie ein, noch während sie durch die Luft segelten. Ich rannte, bis
meine Lungen sich anfühlten, als würden sie sich gleich durch das
Brustfell brennen, ich war desorientiert und durcheinander und
fürchtete das Krachen der Schrotflinte, die mich jeden Moment
niederstrecken mußte. Hinter mir toste das Feuer und erhellte die
Nacht, bis der Nebel blutrot und höllisch glühte. Aber wo war der
Zaun? Und das Auto?
Irgendwann hatte ich wieder Kontrolle über
meine Beine und blieb stocksteif stehen, um in die Nebelwand zu
spähen. Dort vorn? War das mein Auto? In diesem Augenblick hörte
ich irgendwo hinter mir einen Motor starten – ein vertrautes
Geräusch mit einem vertrauten gurgelnden Spotzen in der Kehle des
Vergasers –, dann waren dreihundert Meter weit entfernt kurz die
Scheinwerfer zu sehen. Der Motor heulte auf, dann hörte ich hilflos
zu, wie der Wagen in entgegengesetzter Richtung davonraste. Einen
Moment lang stand ich noch einsam und verlassen da, bevor ich
blindlings in die Nacht losrannte, um das Feuer, die Schreie, das
Bellen und das pausenlose, geistlose Kreischen der Truthähne so
weit hinter mir zu lassen wir nur möglich.
Als der Tag endlich anbrach, bemerkte
ich es kaum, so dicht war der Nebel. Ich war auf eine Asphaltstraße
gestoßen – welche das war und wohin sie führte, wußte ich
allerdings nicht – und kauerte zitternd auf einem Unkrautbüschel
dicht neben der Bankette. Alena würde mich nicht im Stich lassen,
dessen war ich sicher – sie liebte mich, so wie ich sie liebte;
brauchte mich so sehr wie ich sie –, und ich war mir auch sicher,
daß sie alle Straßen und Feldwege nach mir absuchte. Dennoch war
natürlich mein Stolz verletzt, und wenn ich Rolfe nie wiedersehen
würde, wäre ich nicht allzu traurig, aber wenigstens hatte ich
keine Schrotladung im Körper, war weder von Wachhunden zerrissen
noch von erzürnten Putern zu Tode gehackt worden. Mir tat alles
weh, mein Schienbein schmerzte, weil ich damit auf meiner
nächtlichen Flucht gegen etwas Massives gekracht war, ich hatte
Federn in den Haaren, und Gesicht und Arme waren ein Mosaik aus
Schrammen, Kratzern und langgezogenen Dreckspuren. Während ich
scheinbar stundenlang so dasaß, verfluchte ich Rolfe, verdächtigte
Alena und stellte wenig schmeichelhafte Theorien über die
Öko-Bewegung im allgemeinen auf, bis ich endlich ein vertrautes
Schlürfen und Spotzen hörte und mein Chevy Citation sich aus dem
Nebel vor mir schälte.
Rolfe saß am Steuer, mit ungerührter
Miene. Ich sprang auf die Straße wie ein zerlumpter Bettler,
fuchtelte mit den Armen in der Luft, um meiner Freude Ausdruck zu
verleihen, und er hätte mich beinahe überfahren. Alena stürzte aus
dem Wagen, ehe er noch richtig hielt, schlang die Arme um mich,
schob mich auf den Rücksitz zu Alf, und schon waren wir auf der
Rückfahrt zu Rolfes Versteck. »Was war denn bloß los?« rief sie,
als wäre das nicht leicht zu erraten. »Wo warst du nur? Wir haben
gewartet, solange wir konnten.«
Ich fühlte mich mürrisch und
sitzengelassen und meinte, mir weit mehr verdient zu haben als eine
flüchtige Umarmung und eine Serie banaler Fragen. Trotzdem: während
ich meine Geschichte erzählte, fand ich sie sogar aufregend – sie
waren im Auto geflüchtet, Heizung und Gebläse auf vollen Touren,
und ich war zurückgeblieben, um gegen die Truthähne, die Farmer und
die Elemente zu kämpfen, und wenn das nicht heroisch war, was dann?
Ich blickte in Alenas bewundernde Augen und stellte mir Rolfes
Baracke vor, ein oder zwei Schlückchen aus der
Jack-Daniels-Flasche, vielleicht ein Sandwich mit Erdnußbutter und
Tofu, und dann das Bett, mit Alena drin. Rolfe sagte kein
Wort.
Bei ihm angekommen, duschte ich und
schrubbte mir den Putendreck aus den Poren, dann genehmigte ich mir
etwas von dem Bourbon. Es war zehn Uhr vormittags, und im Haus war
es stockdunkel – wenn die Welt je ohne Nebel existiert hatte, hier
merkte man davon nichts. Als Rolfe auf die Veranda hinaustrat, um
eine Ladung Brennholz zu holen, zog ich Alena auf meinen Schoß.
»He«, murmelte sie, »ich dachte, du wärst invalide.«
Sie trug knallenge Jeans und einen
übergroßen Pullover ohne Unterwäsche. Ich fuhr mit der Hand
darunter und bekam etwas zu fassen. »Invalide?« fragte ich und rieb
mir die Nase an ihrem Ärmel. »Was denn, ich bin doch der
Truthahnbefreier und Öko-Guerillero, ein Freund der Tiere und der
Umwelt dazu.«
Sie lachte, doch zugleich entzog sie sich
mir, ging durch das Zimmer und starrte aus dem verhangenen Fenster.
»Hör mal, Jim«, begann sie. »Was wir letzte Nacht getan haben, war
großartig, echt großartig, aber es ist erst der Anfang.« Alf sah
erwartungsvoll zu ihr auf. Auf der Veranda hörte ich Rolfe
herumwursteln, das Schlagen von Holz auf Holz. Sie wandte sich um
und sah mich jetzt direkt an. »Also, äh – Rolfe will, daß ich eine
Zeitlang nach Wyoming gehe, an die Grenze zum
Yellowstone-Nationalpark...«
Ich? Rolfe will, daß ich? Darin lag
keinerlei Aufforderung, kein Plural, keine Würdigung dessen, was
wir miteinander unternommen hatten und füreinander bedeuteten.
»Warum?« fragte ich. »Was soll das heißen?«
»Da gibt es diesen Grizzlybären,
eigentlich sind es zwei, die haben außerhalb des Parks ein paar
Häuser heimgesucht. Neulich hat einer von ihnen den Dobermann des
Bürgermeisters zerfleischt, und jetzt bewaffnen sich die Leute
dort. Wir – also, ich meine Rolfe und ich und ein paar Leute von
den alten Öko-Kämpfern aus Minnesota –, wir wollen hinfahren, um
dafür zu sorgen, daß die Park-Ranger – oder die Kerle aus dem Ort –
sie nicht einfach abknallen. Die Bären, meine ich.«
Meine Stimme klang ätzend. »Du und
Rolfe?«
»Zwischen uns läuft nichts, wenn du das
meinst. Hier geht es nur um Tiere, um nichts anderes.«
»Tiere wie wir?«
Sie wiegte langsam den Kopf. »Nicht wie
wir, nein. Wir sind der Pesthauch dieses Planeten, weißt du das
nicht?«
Plötzlich wurde ich zornig. Kochte vor
Wut. Da hatte ich die ganze Nacht in den Büschen gekauert, über und
über voll mit Truthahnkacke, und jetzt war ich Teil eines
Pesthauchs. Ich stand auf. »Nein, das wußte ich nicht.«
Sie warf mir einen Blick zu, der mich
davon unterrichtete, daß ihr das egal war, daß sie bereits fort
war, daß ich, jedenfalls für die nächste Zeit, nicht in ihrem Plan
vorkam und daß es keinen Sinn hatte, deswegen zu streiten. »Also«,
sagte sie, jetzt etwas leiser, denn Rolfe polterte wieder zur Tür
herein, eine Ladung Holz im Arm, »wir sehen uns in L.A. wieder, ja?
So in einem Monat ungefähr.« Sie lächelte mich bittend an. »Gießt
du meine Pflanzen?«
Eine Stunde später war ich wieder auf
der Straße. Ich hatte Rolfe geholfen, das Brennholz neben dem Ofen
zu stapeln, ließ meine Lippen von Alenas Abschiedskuß streifen und
sah dann von der Veranda aus zu, wie Rolfe die Hütte abschloß, Alf
auf die Ladefläche seines Pick-ups hob und über die ausgefahrene
Piste davonrumpelte, Alena an seiner Seite. Ich sah ihnen nach, bis
ihre Bremslichter im treibenden grauen Nebel verloschen, dann ließ
ich den Citation aufröhren und schlingerte ihnen hinterher. In
einem Monat ungefähr: ich fühlte mich innerlich hohl. Ich
stellte sie mir mit Rolfe vor, wie sie Joghurt und Weizenkeimmüsli
aßen, in Motels übernachteten, mit Grizzlys rangen und Stahlnägel
in Baumstämme hämmerten. Die Hohlheit wurde größer und entkernte
mich geradezu, bis ich mir vorkam, als hätte man mich gerupft,
ausgenommen und auf einer silbernen Platte serviert.
Ich fand den Rückweg durch Calpurnia
Springs ohne Zwischenfall – keine Straßensperren, keine blinkenden
Lichter oder grimmigen Streifenpolizisten, die Kofferräume und
Rückbänke nach einem schlaksigen, dreißigjährigen Öko-Terroristen
durchsuchten, dessen Rücken von Truthahnkrallen gezeichnet war –,
doch nachdem ich auf die Schnellstraße nach Los Angeles eingebogen
war, erlebte ich einen Schock. Nach etwa fünfzehn Kilometern
schälte sich mein Alptraum aus dem Dunst: überall blinkten rote
Warnlampen, waren Absperrungen, und am Straßenrand standen
reihenweise Polizeiwagen. Ich war einer Panik nahe, kaum einen
Herzschlag davon entfernt, mit Vollgas den Mittelstreifen zu
durchbrechen und sie zu einer Verfolgungsjagd aufzufordern, als ich
den verunglückten Sattelschlepper weiter vorn sah. Ich wurde
langsamer, sechzig, fünfzig, dann mußte ich heftig bremsen. Im
nächsten Moment steckte ich in einem Stau, und vor mir war die
Straße mit etwas bedeckt, das gespenstisch weiß im Nebel
schimmerte. Zuerst dachte ich, es sei die Ladung des LKW,
Klopapierrollen oder Kisten mit Waschpulver, die beim Herabfallen
aufgeplatzt waren. Aber es war etwas anderes. Als ich im
Kriechtempo näher heranfuhr, die pulsierenden Lichter flackerten
mir ins Gesicht, sah ich, daß die Straße mit Federn übersät war –
mit Truthahnfedern. Ein weißer Sturm. Ein Blizzard. Und nicht nur
das: es war auch alles voller Fleisch, glitschig und glibbrig, eine
rote Schmiere, die mit dem Straßenpflaster fest verklebt war, von
den Rädern meiner Vordermänner wie Schlamm wegspritzte und von den
mächtigen Zwillingsreifen der Sattelschlepper zerquetscht wurde.
Truthähne, Truthähne überall.
Das Auto rollte langsam weiter. Ich
schaltete die Scheibenwischer ein, drückte auf den Knopf der
Waschanlage, und einen Moment lang wurde die Scheibe von einem Film
aus Blut und Schleim verfinstert, und das Hohle in meinem Innern
öffnete sich wieder, so daß ich glaubte, es würde mich in sich
aufsaugen. Hinter mir drückte jemand auf die Hupe. Im Zwielicht
wurde ein Streifenpolizist sichtbar und winkte mich mit dem toten
gelben Auge seiner Taschenlampe vorbei. Ich dachte an Alena, und
mir wurde schlecht. Von allem, was zwischen uns gewesen war, blieb
das hier übrig: sauer gewordene Hoffnungen, Glitsch auf der Straße.
Ich wollte aussteigen und mich erschießen, mich der Polizei
stellen, die Augen schließen und im Knast aufwachen, in einem
härenen Hemd, einer Zwangsjacke, egal. Aber es ging vorbei. Die
Zeit blieb nicht stehen. Nichts rührte sich. Und dann, ganz
wundersam, schälte sich vor der schlierigen Scheibe eine Vision aus
dem grauen Bauch des Nebels: goldgelb schimmernde Lichter in der
Ödnis. Ich sah das Hinweisschild »Tanken – Motel – Restaurant«, und
schon war meine Hand am Blinker.
Ich zögerte einen Augenblick, stellte mir
den Raum vor, die häßlichen Fliesen, die falsche Fröhlichkeit der
Beleuchtung, den Geruch nach verschmortem Fleisch, der schwer in
der Luft hing, Big Mac, Grillhähnchen, Carne asada, Cheeseburger.
Der Motor spotzte. Die Lichter schimmerten. In diesem Moment dachte
ich nicht an Alena oder an Rolfe oder an Grizzlybären, dachte weder
an todgeweihte blökende Herden noch an blinde Kaninchen oder
krebskranke Mäuse – ich dachte nur an die Höhlung, die sich in mir
auftat, und wie ich sie füllen konnte. »Fleisch«, ich sagte das
Wort laut vor mich hin, sprach es wie zu meiner eigenen Beruhigung
aus, als wäre ich aus einem bösen Traum erwacht, »es ist doch nur
Fleisch.«