Fleischeslust

Über Fleisch hatte ich mir nie viel Gedanken gemacht. Es war einfach da, im Supermarkt, in der Plastikfolie; es steckte zwischen Sandwichscheiben mit Mayo und Senf und Gewürzgurken; es rauchte und spritzte auf dem Grill, bis jemand es umdrehte, und dann lag es auf dem Teller, zwischen der Kartoffel in Alufolie und den Karottenstreifen, sauber eingeschnitten und in einer Pfütze aus rotem Saft. Rind, Lamm, Schwein, Wild, triefende Hamburger und saftige Rippchen – es war mir alles einerlei, es war eben Essen, der Brennstoff des Körpers, etwas, das man kurz mit der Zunge kostete, ehe das Verdauungssystem sich darüber hermachte. Was nicht heißen soll, daß mir die damit einhergehenden Implikationen völlig unklar gewesen wären. Hin und wieder kochte ich mir selbst etwas, ein halbes Huhn mit Instantsauce und dazu Tiefkühlerbsen, und wenn ich dann auf die pockige gelbe Haut und das rosa Fleisch so eines keimfreien Vogels einhackte, bemerkte ich durchaus die dunklen Organfetzen, die da an den Rippen baumelten –was war das, Leber? Niere? –, aber letzten Endes verleidete mir das keineswegs den Appetit auf Kentucky-Fried-Imbisse oder Chicken McNuggets. Sicher, auch ich sah die Anzeigen in den Zeitschriften, die Fotos von in ihrem eigenen Dreck angeketteten Kälbern, mit atrophierten Gliedmaßen und so vollgepumpt mit Antibiotika, daß sie ihren Darm nicht mehr unter Kontrolle hatten, aber wenn ich mit einer neuen Freundin ins Anna Maria ging, konnte ich den Kalbsmedaillons trotzdem nicht widerstehen.
Und dann lernte ich Alena Jorgensen kennen.
Es war letzten November, zwei Wochen vor Thanksgiving – ich erinnere mich an das Datum, weil es mein Geburtstag war, mein dreißigster; ich hatte mich krank gemeldet und war an den Strand gegangen, um mir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen, ein Buch zu lesen und mich ein wenig zu bemitleiden. Es wehte ein heißer Santa-Ana-Wind, und die Sicht reichte bis nach Santa Catalina Island, aber man spürte etwas in der Luft, den Geruch des Winters, der schon über Utah hing, und so weit ich in beiden Richtungen sehen konnte, hatte ich den Strand so ziemlich für mich. Ich suchte mir einen geschützten Platz zwischen Felsen, breitete eine Decke aus und machte es mir bequem, um erst einmal das Pastrami-Sandwich zu verputzen, das ich als Verpflegung mitgebracht hatte. Dann wandte ich mich meinem Buch zu – ein tröstlich apokalyptisches Traktat über den Untergang unseres Planeten – und ließ mich von der Sonne wärmen, während ich über den Kahlschlag der Regenwälder, die vergiftete Atmosphäre und die rasche, lautlose Ausrottung der Arten las. Über mir zogen die Möwen dahin. In der Ferne sah ich Düsenflugzeuge blinken.
Ich muß wohl eingedöst sein, hatte den Kopf nach hinten gelegt, das Buch aufgeschlagen im Schoß, denn als nächstes erinnere ich mich daran, daß ein fremder Hund über mir stand und die Sonne hinter den Felsen verschwunden war. Es war ein großer, wuschliger Hund, der mich aus einem blauen Auge starr fixierte, die Ohren leicht gespitzt, als erwartete er ein Plätzchen oder so etwas. Ich war durcheinander – nicht daß ich Hunde nicht mochte, aber da war dieses haarige Ding, das mir die Schnauze ins Gesicht stupste –, und ich muß wohl eine Art Abwehrgeste gemacht haben, denn der Hund tappte einen Schritt zurück und erstarrte. Selbst in der Verwirrung des Augenblicks merkte ich, daß irgend etwas mit diesem Hund nicht stimmte, da war eine Unsicherheit, ein Wanken, eine Schwäche der Beine. Ich empfand eine Mischung aus Mitleid und Abscheu – war er von einem Auto angefahren worden? –, als mir plötzlich die Nässe auf meinem Anorak bewußt wurde und mir ein unverwechselbarer Geruch in die Nase stieg: ich war soeben angepinkelt worden.
Angepinkelt. Während ich so nichtsahnend dalag, die Sonne, den Strand und die Einsamkeit genießend, hob dieses dumme Vieh das Bein und benutzte mich als Pissoir – und jetzt stand es erwartungsvoll am Rand meiner Decke, als hätte es gern eine Belohnung. Plötzlich wallte Wut in mir auf. Fluchend setzte ich mich auf, und erst jetzt schien in das andere Auge des Hundes, das braun war, ein vages Begreifen zu sickern; das Tier taumelte und fiel vornüber, direkt neben mir. Dann rappelte es sich hoch, fiel erneut um und schleppte sich auf diese Weise im Sand davon, wie ein Seehund im Trockenen. Ich war jetzt auf den Beinen, voller Mordgier, und sah mit Freuden, daß das Vieh hinkte – so konnte ich es leichter einholen und totschlagen.
»Alf!« rief eine Stimme, und während der Hund vor mir im Sand zappelte, drehte ich mich um und sah, auf dem Felsen hinter mir, Alena Jorgensen. Ich will den Augenblick jetzt nicht allzusehr aufbauschen, will ihn weder mythologisieren noch die Szenerie mit Anspielungen an die Schaumgeburt der Aphrodite oder die Überreichung des goldenen Apfels durch Paris überladen, aber sie war ein mächtig beeindruckender Anblick. Nackte Beine, ebenmäßig gebaut, groß und aufrecht wie ihre skandinavischen Vorfahren, bekleidet mit einem Gore-Tex-Bikini und einem Kapuzen-Sweatshirt, dessen Reißverschluß bis zur Hüfte offenstand... auf jeden Fall haute sie mich glatt um. Vor Pisse triefend und völlig benommen starrte ich sie wortlos an.
»Du schlimmer Junge«, sagte sie tadelnd, »los, geh weg da.« Sie sah zwischen dem Hund und mir hin und her. »O du schlimmer Junge, was hast du da bloß gemacht?« schimpfte sie, und ich hätte jede Schandtat zugegeben, aber ihre Schelte galt dem Hund, welcher daraufhin in den Sand stürzte, als hätte ihn eine Kugel getroffen. Alena hüpfte lässig von dem Felsen herunter, und im nächsten Moment, bevor ich noch protestieren konnte, rieb sie mit dem Saum ihres Sweatshirts an dem Fleck auf meinem Anorak herum.
Ich versuchte sie zu bremsen – »Schon gut«, sagte ich, »macht doch nichts«, als pinkelten pausenlos Hunde auf meine Garderobe –, aber sie wollte nichts davon hören.
»Nein«, sagte sie, rieb weiter, und ihr Haar wehte mir ins Gesicht, die nackte Haut ihres Oberschenkels preßte sich unbewußt gegen mein Bein, »nein, das ist schrecklich, es ist mir so peinlich – Alf, du schlimmer Junge! –, ich komme selbstverständlich für die Reinigungskosten auf, das ist doch das mindeste – nun sehen Sie sich das an, es geht durch bis auf Ihr T-Shirt...«
Ich konnte sie riechen, den Fönschaum in ihrem Haar, eine Seife oder ein Parfum mit Fliederduft, das salzig-süße Aroma ihres Schweißes – sie war joggen gewesen, deshalb. Ich murmelte irgend etwas davon, daß ich die Sachen selbst zur Reinigung bringen wollte.
Sie hörte mit dem Reiben auf und erhob sich. Sie hatte meine Größe, war vielleicht sogar ein kleines Stück größer, und ihre Augen waren etwas verschiedenfarbig, so wie die des Hundes: ein ernstes Tiefblau in der rechten Iris, eine meergrüne türkise Schattierung in der linken. Wir waren uns so nahe, als würden wir miteinander tanzen. »Ich sag Ihnen was«, meinte sie, und ein Lächeln hellte ihr Gesicht auf, »da Sie bei der ganzen Sache so nett reagieren, und das würden wohl die wenigsten, auch wenn sie wüßten, was der arme Alf alles durchgemacht hat, warum lassen Sie mich den Anorak nicht für Sie waschen – und das T-Shirt auch?«
Ich war momentan etwas aus der Fassung – immerhin war ich gerade angepißt worden –, doch mein Ärger war verflogen. Ich fühlte mich schwerelos, schwebend, wie ein Fussel, der im Wind trieb. »Hören Sie«, sagte ich und konnte ihr dabei gar nicht in die Augen sehen, »ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten...«
»Ich wohne zehn Minuten von hier am Strand, und ich hab Waschmaschine und Trockner. Kommen Sie, das macht keine Umstände. Oder haben Sie etwas vor? Ich meine, ich zahle Ihnen auch die Reinigung, wenn Sie wollen...«
Ich war damals gerade solo – die Frau, mit der ich das letzte Jahr hindurch öfter zusammengewesen war, rief mich nicht einmal mehr zurück –, und meine Vorhaben für diesen Tag bestanden darin, allein am späten Nachmittag ins Kino zu gehen, als Geburtstagsgeschenk, und danach meine Mutter zu besuchen, bei der es Abendessen und einen Kuchen mit Kerzen geben würde. Meine Tante Irene wäre dort und meine Großmutter auch. Sie würden aufjuchzen, wie groß ich doch geworden war und wie gut ich aussah, und dann würden sie mein jetziges Ich mit meinen früheren, kindlicheren Inkarnationen vergleichen, um sich schließlich in eine Flut von Reminiszenzen hineinzusteigern, die mit unverminderter Heftigkeit anhalten würden, bis meine Mutter die beiden nach Hause fuhr. Danach würde ich vielleicht noch in eine Single-Bar gehen, wo ich, wenn ich Glück hatte, die Bekanntschaft einer geschiedenen Programmiererin von Mitte Dreißig mit Mundgeruch und drei Kindern machte.
Ich zuckte die Achseln. »Ob ich was vorhabe? Nein, eigentlich nicht. Ich meine, nichts Besonderes.«
Alena hütete das Haus nur, einen Einzimmer-Bungalow, der wie ein Baumstumpf aus dem Sand aufragte, keine zwanzig Meter von der Flutlinie entfernt. Ein paar Bäume standen in dem Gärtchen dahinter, das zwischen gläsernen Festungen mit zinnenbewehrten Flachdächern, flatternden Fahnen und massigen Betonpfeilern eingezwängt war. Wenn man im Haus auf dem Sofa saß, spürte man die dumpfe Vibration jeder einzelnen brechenden Welle am Strand – ein stetiger Puls, mit dem mir dieses Haus für immer verbunden bleiben sollte. Alena gab mir ein verblichenes Uni-Sweatshirt, das beinahe paßte, sprühte Fleckenentferner auf T-Shirt und Anorak und schloß dann in einer einzigen gleitenden Bewegung die Klappe der Waschmaschine und holte zwei Bier aus dem Kühlschrank daneben.
Einen Moment lang herrschte verlegenes Schweigen, als sie es sich in dem Sesssel mir gegenüber behaglich machte und wir uns auf unsere Biere konzentrierten. Mir fehlte der Gesprächsstoff. Ich war verwirrt, mir schwindelte, und ich hatte immer noch Mühe zu verstehen, was geschehen war. Vor einer Viertelstunde hatte ich am Strand gedöst, allein an meinem Geburtstag und voller Selbstmitleid, und nun saß ich bequem in einem gemütlichen Häuschen am Meer, in Gegenwart von Alena Jorgensen und ihren endlosen nackten Beinen, und trank ein Bier. »Also, was machst du so?« fragte sie und stellte ihre Flasche auf dem Tisch ab.
Ich war dankbar für die Frage, womöglich zu dankbar. Ausführlich beschrieb ich ihr, wie langweilig meine Arbeit war, fast zehn Jahre war ich schon bei derselben Agentur, wo ich Werbetexte schrieb und mein Hirn vor lauter Nichtgebrauch immer abgestumpfter wurde. Ich war mitten in einem detaillierten Bericht unserer derzeitigen Kampagne für einen ghanaischen Wodka, der aus den Schalen des Kalebassenkürbisses hergestellt wurde, als sie einwarf: »Ich versteh, was du meinst«, und mir dann erzählte, sie selbst habe das Veterinärmedizinstudium hingeworfen. »Nachdem ich gesehen habe, was sie mit den Tieren machen. Ich meine, kannst du dir vorstellen, daß man Hunde sterilisiert, nur weil es bequemer so ist, nur weil es einfacher für uns ist, wenn sie kein Sexualleben haben?« Sie ereiferte sich. »Es ist immer dieselbe Geschichte: Artenfaschismus hoch zehn.«
Alf lag leise schnaufend zu meinen Füßen und blickte schwermütig aus seinem starren blauen Auge auf; eine unschuldigere Kreatur hatte ich noch nie gesehen. Ich machte ein mattes Geräusch der Zustimmung und brachte das Thema auf Alf. »Und dein Hund?« fragte ich. »Hat er Arthritis? Oder Hüftdysplasie oder so was?« Ich war stolz auf diese Frage – »Hüftdysplasie« war, abgesehen von »Bandwurm«, der einzige veterinärmedizinische Terminus, den ich in der Gedächtnisdatenbank ausgraben konnte, und es war klar, daß Alf größere Probleme als Würmer hatte.
Alena fuhr plötzlich zornig auf. »Wenn’s nur so wäre«, sagte sie. Verbittert holte sie tief Luft. »Alles, worunter Alf leidet, wurde ihm zugefügt. Sie haben ihn gefoltert, verstümmelt, verkrüppelt.«
»Gefoltert?« echote ich und fühlte die Empörung in mir aufwallen – so eine schöne Frau, so ein unschuldiges Tier. »Wer?«
Alena beugte sich vor, und ihre Augen funkelten vor Haß. Sie nannte mir eine bekannte Schuhfirma – spie den Namen geradezu aus. Es war ein banaler, vertrauter Name, und nun hing er in der Luft zwischen uns, unvermittelt unheilvoll. Alf hatte an einem Experiment teilgenommen, bei dem die Vermarktungschancen von Stiefeletten für Hunde getestet worden waren – Wildleder, Sämischleder, Lackleder, das volle Programm. Die Hunde mußten dabei in den Stiefeletten auf einem Laufband marschieren, um die Verschleißdauer zu überprüfen; Alf hatte zur Kontrollgruppe gehört.
»Kontrollgruppe?« Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten.
»Sie haben die Laufbänder mit Achtziger-Sandpapier beschichtet, um die Sache zu beschleunigen.« Alena sah kurz zum Fenster hinaus, wo die Brandung auf den Strand einhämmerte; sie biß sich auf die Lippe. »Alf war einer von den Hunden ohne Schuhe.«
Ich war wie gelähmt. Ich wollte aufstehen und sie trösten, aber ebensogut hätte ich auf den Sessel aufgepfropft sein können. »Ich fasse es nicht«, sagte ich. »Wie kann denn nur irgendwer...«
»Glaub’s mir«, sagte sie. Sie fixierte mich einen Augenblick, dann stellte sie ihr Bier weg und ging durch das Zimmer, um in einem Pappkarton in der Ecke zu wühlen. Mochte ich auch sehr berührt sein durch die Emotionen, die sie wachgerufen hatte, noch stärker berührte mich der Anblick, wie sie sich in ihrem Gore-Tex-Bikini über den Karton beugte; ich klammerte mich an die Sessellehne, als wäre es eine Achterbahn in voller Sturzfahrt. Gleich darauf knallte sie mir ein Dutzend Aktenordner in den Schoß. Auf dem obersten stand der Name der Schuhfirma, und er war vollgestopft mit Zeitungsausschnitten, einer seitenlangen Aufzeichnung von Arbeitsabläufen und Schichtplänen der Fabrik in Grand Rapids sowie einem Grundriß des Laboratoriums. Die Ordner darunter waren mit den Namen von Kosmetikfirmen, Kürschner- und Lederbetrieben, biomedizinischen Forschungszentren und Fleischgroßhändlern beschriftet. Alena saß auf dem Rand des Beistelltischchens und sah mir zu, wie ich darin blätterte.
»Kennst du den Draize-Test?«
Ich sah sie fragend an.
»Sie injizieren Chemikalien in die Augen von Kaninchen, um zu prüfen, welche Menge nötig ist, damit sie blind werden. Die Kaninchen sind in Käfigen, Tausende von ihnen, und die nehmen eine Nadel und rammen sie ihnen in die Augen – und weißt du auch, warum? Weißt du, im Namen welches großen humanitären Anliegens so etwas geschieht, auch jetzt, während wir hier sitzen?«
Ich wußte es nicht. Das Meer pulsierte unter meinen Füßen. Ich sah zu Alf und dann wieder in ihre wütenden Augen.
»Für Mascara. Nur für Mascara. Sie foltern Abertausende Kaninchen, damit Frauen wie Nutten aussehen können.«
Ich empfand diese Interpretation als etwas hart, doch als ich ihre blassen Wimpern und den schmalen, ungeschminkten Mund betrachtete, sah ich, daß sie es ernst meinte. Auf jeden Fall brachte sie der Gedanke in Fahrt, und sie legte los mit einem zweistündigen Vortrag, bei dem sie mit ihren makellosen Händen gestikulierte, Zahlen zitierte, in ihren Unterlagen nach einzelnen Fotos von Ratten ohne Beine oder von morphiumsüchtigen Wüstenspringmäusen wühlte. Sie erzählte mir, wie sie Alf gerettet hatte: bei einem Überfall auf ein Labor, gemeinsam mit sechs weiteren Mitgliedern der Animal Liberation Front, der militanten Tierbefreiungsgruppe, nach der Alf benannt worden war. Anfangs hatte sie sich damit begnügt, Petitionen zu verschicken und Transparente zu schwenken, doch inzwischen, da das Leben so vieler Tiere bedroht war, hatte sie sich konkreten Taten verschrieben: Störaktionen, Vandalismus, Sabotage. Sie schilderte mir ihre Einsätze: mit der Gruppe »Earth First!« hatte sie in einem Holzfällergebiet in Oregon Bäume mit Stahlnägeln gespickt, in Nevada viele Kilometer Stacheldrahtzaun um Rinderfarmen durchgeknipst, die Akten von biomedizinischen Forschungslabors entlang der ganzen Westküste zerstört, und in den Bergen von Arizona hatte sie sich zwischen die Jäger und die Dickhornschafe gestellt. Ich konnte nur nicken und staunen, betrübt lächeln und leise pfeifen, wie um »Alle Achtung« zu sagen. Schließlich hielt sie inne, um den Blick ihrer beunruhigenden Augen auf mich zu richten. »Weißt du, was Isaac Bashevis Singer gesagt hat?«
Wir waren beim dritten Bier. Die Sonne war untergegangen. Ich hatte keine Ahnung.
Alena beugte sich ein Stück vor. »›Für die Tiere ist jeder Tag wie Auschwitz.‹«
Ich senkte den Blick in die bernsteinfarbene Öffnung meiner Bierflasche und nickte traurig. Der Trockner stand seit anderthalb Stunden still. Ich fragte mich, ob sie wohl mit mir ausgehen würde, und wenn ja, was sie überhaupt essen konnte. »Äh, ich überlege gerade«, sagte ich, »ob... ob du mit mir irgendwo was essen gehen möchtest.«
Diesen Augenblick wählte Alf dazu, sich schwankend zu erheben und an die Wand hinter mir zu urinieren. So hing mein Vorschlag in der Luft, während Alena vom Tischrand hochschoß, um den Hund zu schelten und ihn dann behutsam zur Tür hinaus ins Freie zu schubsen. »Armer Alf«, seufzte sie und wandte sich achselzuckend wieder mir zu. »Übrigens, tut mir leid, wenn ich dich hier so vollquatsche – das habe ich nicht vorgehabt, aber man trifft eben selten jemanden, der auf der gleichen Wellenlänge ist.«
Sie lächelte. Auf der gleichen Wellenlänge: die Worte waren wie eine Erleuchtung für mich, sie erregten mich, durchzuckten mich mit einem Beben, das ich bis in die Tiefe meines Fortpflanzungstrakts verspürte. »Also wie steht’s mit dem Essengehen?« beharrte ich. Diverse Restaurants gingen mir durch den Kopf – es würde ja wohl vegetarisch sein müssen. Durfte auch nur der geringste Hauch von gegrilltem Fleisch in der Luft liegen? Vergorene Ziegenmilch und Tabbouleh, Tofu, Linsensuppe, Sojasprossen: Für die Tiere ist jeder Tag wie Auschwitz. »Kein Fleisch natürlich.«
Sie betrachtete mich wortlos.
»Ich meine, ich esse selbst kein Fleisch«, log ich, »also, jedenfalls nicht mehr« – seit dem Pastrami-Sandwich, um genau zu sein – »aber ich kenne eigentlich kein Restaurant, das...« Ich ließ den Satz lahm in der Luft hängen.
»Ich bin Veganerin«, sagte sie.
Nach zwei Stunden mit geblendeten Karnickeln, niedergemetzelten Kälbern und verstümmelten Hundewelpen konnte ich mir den Witz nicht verkneifen: »Und ich komm von der Venus.«
Sie lachte, aber ich merkte, daß sie es nicht besonders lustig fand. Veganer aßen weder Fleisch noch Fisch, erläuterte sie, und auch Milch, Käse und Eier nicht, und sie trugen weder Wolle noch Leder am Leib – und Pelz natürlich sowieso nicht.
»Natürlich«, sagte ich. Wir standen einander gegenüber, zwischen uns der Beistelltisch. Ich kam mir allmählich etwas albern vor.
»Warum essen wir nicht einfach hier«, schlug sie vor.
Das dumpfe Pulsieren des Meeres vibrierte in meinen Knochen, als wir in dieser Nacht im Bett lagen, Alena und ich, und ich mich mit der Gelenkigkeit ihrer Gliedmaßen und der Süße ihrer Gemüsezunge vertraut machte. Alf lag auf dem Boden, im Schlaf schnaufend und ächzend, und ich liebte ihn um seiner Inkontinenz und seiner hündischen Blödheit willen. Etwas passierte mit mir – ich spürte es, während die Dielen unter mir knackten, spürte es mit jedem Pulsschlag der Brandung –, und ich war bereit, mich darauf einzulassen. Am Morgen meldete ich mich wieder krank.
Alena sah mir vom Bett aus zu, wie ich im Büro anrief und genau beschrieb, wie die Grippe von meinem Kopf in den Darm und noch weiter gewandert war, und sie musterte mich mit einem Blick, der mir verhieß, daß ich den Rest des Tages dort neben ihr zubringen, Weintrauben schälen und eine nach der anderen zwischen ihre geöffneten, erwartungsvollen Lippen fallen lassen würde. Ich irrte mich. Eine halbe Stunde später, nach einem Frühstück aus Bierhefe und etwas, das an Baumrinde in Joghurtmarinade erinnerte, fand ich mich unversehens auf einem Gehsteig in Beverly Hills wieder, marschierte vor einem luxuriösen Pelzgeschäft auf und ab und schwenkte ein Transparent mit dem Text WIE FÜHLT MAN SICH MIT EINER LEICHE AM LEIB? in Buchstaben, die wie Blut trieften.
Es kam wie ein Schock. Protestmärsche, Antikriegsdemos und Bürgerrechtsversammlungen kannte ich aus dem Fernsehen, aber noch nie hatte ich selbst meine Sohlen auf dem Straßenpflaster gewetzt, Parolen skandiert oder einen rauhen Holzgriff in der Hand gespürt. Wir waren etwa vierzig, größtenteils Frauen, fuchtelten mit unseren Transparenten vor den vorbeifahrenden Autos herum und blockierten den Fußgängerverkehr vor dem Laden. Eine der Frauen hatte sich Gesicht und Hände mit Hautcreme beschmiert, die mit roter Farbe versetzt war, und Alena hatte irgendwo eine verrottete Nerzstola aufgetrieben – die Sorte, bei der mehrere Tiere Schnauze an Schweif miteinander vernäht sind, die Miniaturbeinchen schlaff herabbaumelnd – und die Mäuler karminrot angesprayt, so daß sie wie eben getötet aussahen. Dieses grausige Banner steckte an der Spitze eines Stockes, und sie schwenkte es und johlte dabei wie ein Krieger: »Pelz ist Mord, Pelz ist Mord«, bis es den Demonstranten zu einem Mantra wurde. Es war für November ungewöhnlich warm, die Jaguars blinkten im Sonnenlicht und die Palmen neigten sich im Wind, und niemand – bis auf einen einsamen, schmallippigen Verkäufer, der uns finster durch die blitzblanken Fenster des Pelzgeschäfts anstarrte – schenkte uns auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
So demonstrierte ich dort, fühlte mich exponiert und unübersehbar, aber ich demonstrierte – Alena zuliebe, den Füchsen und Mardern und all diesen Biestern zuliebe, und auch mir zuliebe; mit jedem Schritt, den ich tat, spürte ich, wie mein Bewußtsein größer wurde wie ein Ballon, und mehr und mehr durchflutete mich der Atem der Heiligkeit. Bis zu diesem Tag hatte ich Leder, ob rauh oder glatt, wie jeder andere getragen, Halbstiefel und Laufschuhe und meine geliebte Fliegerjacke, die ich schon seit der High-School hatte. Wenn ich bei Pelz eine Grenze gezogen hatte, dann nur deshalb, weil ich keine Verwendung dafür hatte. Hätte ich in Yukon gelebt – und manchmal, wenn ich in der Agentur bei einer Besprechung halb einnickte, stellte ich es mir vor –, wäre ich wohl in Pelzmänteln herumgelaufen, ohne Reue, ohne groß nachzudenken.
Nun aber nicht mehr. Jetzt war ich ein Protestierer, ein Spruchbandschwenker, kämpfte für das Recht auch noch des letzten Wiesels und Luchses, in Frieden alt werden und sterben zu können, ich war jetzt mit Alena Jorgensen zusammen und ein Faktor, mit dem man rechnen mußte. Natürlich taten mir die Füße weh, ich war schweißnaß und betete, es möge niemand von meiner Firma vorbeifahren und mich hier auf dem Gehsteig sehen, in dieser durchgedrehten Schar und mit den anprangernden Slogans.
Stundenlang demonstrierten wir dort, marschierten hin und her, bis ich glaubte, wir würden eine Furche ins Pflaster graben. Wir brüllten und johlten, und niemand sah uns auch nur zweimal an. Wir hätten auch Hare-Krischnas sein können, Obdachlose, Abtreibungsgegner oder Leprakranke, wo lag der Unterschied? Für den Rest der Welt, für die ahnungslose Mehrheit, deren kläglicher Zahl ich vierundzwanzig Stunden vorher noch angehört hatte, waren wir unsichtbar. Ich war hungrig, erschöpft, entmutigt. Alena beachtete mich nicht. Selbst die Frau mit der roten Schminke ermattete jetzt, ihre Parolen nur noch ein heiseres Flüstern, das vom Verkehrslärm aufgesogen und zunichte gemacht wurde. Und dann, als der Nachmittag allmählich in die Rush-hour überging, stieg am Bordstein eine verschrumpelte, silberhaarige alte Frau, die vielleicht ein früherer Filmstar oder die Mutter eines Filmstars oder gar die erste, fast vergessene Frau eines Studiobosses sein mochte, aus einer langen weißen Limousine aus und stolzierte unerschrocken auf uns zu. Trotz der Hitze – es mußten immer noch über fünfundzwanzig Grad sein – trug sie einen knöchellangen Silberfuchsmantel, eine buschige, breitschultrige, wehende Masse aus Pelz, die die Füchse in der Tundra deutlich dezimiert haben mußte. Das war der Moment, auf den wir gewartet hatten.
Ein Schrei erhob sich, schrill und klagend, und wir nahmen die einsame Greisin in die Zange, wie ein Trupp Cheyenne auf dem Kriegspfad. Der Mann neben mir ließ sich auf alle viere nieder und heulte wie ein Hund, Alena wirbelte ihren schlaffen Nerz durch die Luft, und mir rauschte das Blut in den Ohren. »Mörderin!« brüllte ich und steigerte mich hinein. »Folterknechte! Nazi!« Meine Nackensehnen waren angespannt, ich wußte nicht, was ich schrie. Die Menge raunte. Die Transparente tanzten. Ich war der alten Dame so nahe, daß ich sie riechen konnte – ihr Parfum, ein Hauch von Mottenkugeln aus dem Mantel –, und es berauschte mich, machte mich glatt verrückt, und ich ging auf sie los und versperrte ihr den Weg mit der ganzen bedrohlichen, militanten Macht meiner dreiundachtzig Kilo aus Muskeln und Sehnen.
Den Chauffeur bemerkte ich gar nicht. Alena sagte mir später, daß er ein ehemaliger Champion im Kickboxen war, den man wegen übermäßiger Brutalität aus dem Sportverband ausgeschlossen hatte. Der erste Schlag schien von oben zu kommen, wie eine Bombe, abgefeuert aus tiefstem Feindesland; die nächsten trafen mich wie von einem Sturm angetriebene Windmühlenflügel. Jemand kreischte. Ich erinnere mich noch an die makellosen Bügelfalten in den Hosen des Chauffeurs, danach wurden die Dinge ein bißchen schummrig.
Ich erwachte zum dumpfen Dröhnen der Brandung, die auf den Strand eindrosch, und zu Alenas Lippen, die sich auf meine preßten. Ich fühlte mich, als hätte man mich gerädert, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. »Nicht bewegen«, sagte sie, und ihre Zunge glitt über meine geschwollene Wange. Ich konnte nur schmerzverzerrt den Kopf auf dem Kissen drehen und in die Tiefen ihrer zweifarbigen Augen blicken. »Jetzt gehörst du zu uns«, flüsterte sie.
Am nächsten Morgen rief ich nicht einmal mehr an, um mich krank zu melden.
Gegen Ende der Woche hatte ich mich genügend erholt, um Appetit auf Fleisch zu entwickeln – wofür ich mich zutiefst schämte – und um beim nächsten Protestmarsch ein Paar Strandsandalen aus Vinyl abzuwetzen. Gemeinsam mit Alena – und diversen Koalitionen aus Antivivisektionisten, militanten Veganern und Katzenfreunden – schritt ich hundert Kilometer Bürgersteig ab, sprühte aufrührerische Slogans an die Fenster von Supermärkten und Hamburgerbuden, protestierte gegen Gerbereien, Hufschmieden, Geflügelfarmen und Wurstfabriken und fand irgendwie sogar die Zeit, einen Hahnenkampf in Pacoima zu sprengen. Es war aufregend, faszinierend, gefährlich. Wenn ich in der Vergangenheit abgeschaltet gewesen war, dann stand ich jetzt voll unter Strom. Ich fühlte mich rechtschaffen – zum erstenmal im Leben kämpfte ich für eine gute Sache –, und ich hatte Alena, vor allem Alena. Sie bezauberte und entzückte mich, verlieh mir das Gefühl eines Katers, der durch ein Fenster im Obergeschoß hinaus- und wieder hineinschlüpft, ohne an den freien Fall und den Staketenzaun zu denken. Natürlich, sie war schön, ein Triumph der Evolution, der gelungenste Genaustausch seit den Zeiten der Höhlenmenschen, aber es war mehr als das – so richtig unwiderstehlich machte sie ihre Hingabe an die Tiere, an den Kampf gegen alles Unrecht und für die Moral. War es Liebe? Das ist ein Wort, mit dem ich schon immer meine Probleme hatte, aber vermutlich war es das. Sicherlich. Liebe, schlicht und einfach. Liebe war in mir, ich war in ihr.
»Weißt du was?« sagte Alena eines Abends, als sie an ihrem Miniaturherd Tofu in Öl und Knoblauch schmorte. Am Nachmittag hatten wir vor einer Tortillafabrik demonstriert, die ausgelassenes tierisches Fett als Bindemittel verwendete; danach waren wir von dem übergewichtigen Geschäftsführer eines Supermarktes, der etwas dagegen hatte, daß Alena über die Sonderangebote auf seinem Schaufenster den Slogan FLEISCH IST TOD gesprayt hatte, drei Häuserblocks weit gejagt worden. Mir war richtig schwindlig von der pubertären Lust an alldem. Jetzt sank ich mit einem Bier in der Hand auf die Couch und sah zu, wie Alf heranhinkte, seitlich umfiel und an einem verdächtigen Fleck auf dem Fußboden leckte. Die Brandung dröhnte wie dumpfer Donner.
»Was?«
»Bald ist Thanksgiving.«
Ich überlegte einen Augenblick, ob ich Alena zu meiner Mutter einladen sollte, zu dem mit Austern aus der Dose und in Butter geschwenkten Semmelbröseln gefüllte, in leckerer Bratensoße schwimmenden Truthahn, doch dann wurde mir klar, daß das wohl keine gute Idee war. Also sagte ich gar nichts.
Sie sah über die Schulter. »Die Tiere haben nicht viel, wofür sie dankbar sein können, das ist mal sicher. Das Ganze ist nur eine Ausrede für die Fleischindustrie, um ein paar Millionen Truthähne niederzumetzeln, sonst nichts.« Sie hielt inne; heißes Distelöl brutzelte in der Pfanne. »Ich glaube, es ist Zeit für einen kleinen Ausflug«, sagte sie. »Können wir dein Auto nehmen?«
»Klar, aber wohin fahren wir denn?«
Sie schenkte mir ihr Lächeln der Gioconda. »Truthähne befreien.«
Am Morgen rief ich meinen Chef an, um ihm zu sagen, daß ich Bauchspeicheldrüsenkrebs hätte und eine Zeitlang nicht kommen würde, dann warfen wir ein paar Sachen in den Wagen, halfen Alf dabei, auf den Rücksitz zu krabbeln, und nahmen die Schnellstraße 5 zum San Joaquin Valley. Wir fuhren drei Stunden lang durch so dichten Nebel, daß die Fenster ebensogut in Watte hätten verpackt sein können. Alena tat geheimnisvoll, aber ich spürte ihre Erregung. Ich wußte nur, daß wir bald einen gewissen »Rolfe« treffen sollten, einen alten Freund von ihr, der inzwischen eine wichtige Rolle in der Öko-Szene und bei »Rechte für Tiere«, spielte, und danach würden wir eine verzweifelte, gesetzwidrige Handlung begehen, für die uns die Truthähne ewig dankbar wären.
Ein Lastwagen verdeckte das Schild, das die Abfahrt nach Calpurnia Springs anzeigte, und ich mußte abrupt bremsen und das Lenkrad zweimal herumreißen, um auf der Fahrbahn zu bleiben. Alena fuhr auf dem Sitz hoch, und Alf knallte gegen die Armlehne wie ein Mehlsack, aber wir schafften die Kurve. Bald danach glitten wir durch die gespenstische Leere der Ortschaft, in einem Nimbus aus Nebel zogen Lichter vorbei und glühten rosa, gelb und weiß, dann war nur noch der schwarze Asphalt da und die bleiche Leere, die alles verschluckte. Nach etwa fünfzehn Kilometern bat mich Alena, langsamer zu fahren und musterte mit scharfem, unverwandtem Blick die rechte Straßenbankette.
Die Erde atmete Dunst. Ich spähte angestrengt in das weiche, wabernde Licht unserer Scheinwerfer. »Da, da!« rief sie, ich bog scharf nach rechts ab, und wir rumpelten einen mit Schlaglöchern übersäten Feldweg entlang, der von der Asphaltstraße abzweigte, eine Art Ziegenpfad, der den Berg hinaufführte. Fünf Minuten später setzte sich Alf auf der Rückbank auf und fing an zu winseln, dann schälte sich ein primitiver, roh gezimmerter Schuppen aus der Unschärfe rings herum.
Rolfe empfing uns vor dem Haus. Er war groß und wettergegerbt, um die Fünfzig, schätzte ich, mit einem wilden Haarschopf und zerfurchten Zügen, die mich an Samuel Beckett erinnerten. Er trug Gummistiefel, Jeans und ein verblichenes kariertes Holzfällerhemd, das aussah, als wäre es hundertmal gewaschen worden. Alf pinkelte hastig das Haus an, dann wackelte er die Verandastufen hinauf, um sich geifernd vor Rolfes Füßen zu rollen.
»Rolfe!« rief Alena, mit für meinen Geschmack etwas zuviel Begeisterung und Vertrautheit in der Stimme. Sie nahm alle Stufen auf einmal und warf sich in seine Arme. Ich sah ihnen beim Küssen zu, und das war kein Vater-Tochter-Kuß, ganz und gar nicht. Es war ein Kuß, in dem Bedeutung lag, und die gefiel mir überhaupt nicht. Rolfe, dachte ich, was ist denn das für ein Name?
»Rolfe«, keuchte Alena, immer noch außer Atem, weil sie die Stufen wie zu einer Siegerehrung hinaufgehetzt war, »ich möchte dir Jim vorstellen.«
Das war mein Stichwort. Ich ging die Treppe hinauf und streckte die Hand aus. Rolfe betrachtete mich aus tiefliegenden Augen und packte dann meine Hand mit festem, schwieligem Griff, einem Griff, mit dem man Holz hackte, Zaunpfosten einschlug und gepeinigte Truthähne oder weiße Labormäuse befreite: »Freut mich sehr«, sagte er mit einer Stimme, die wie Sandpapier kratzte.
Im Haus brannte ein Feuer, und Alena und ich setzten uns davor und wärmten uns die Hände, während Alf winselte und jaulte und Rolfe uns in fingerhutgroßen japanischen Täßchen Früchtetee kredenzte. Seit wir eingetreten waren, hatte Alena mit dem Plappern nicht aufgehört, und Rolfe brabbelte mit seiner hölzernen Kratzstimme: die beiden tauschten Namen und Neuigkeiten und Klatsch aus, als hätten sie eine Art Geheimcode. Ich studierte Reproduktionen von Krick- und Pfeifenten, die an den abblätternden Tapeten hingen, und registrierte eine Kiste mit vegetarischen Heinz-Bohnendosen in der Ecke sowie eine Riesenflasche Jack Daniels auf dem Kaminsims. Endlich, nach der dritten Tasse Tee, lehnte sich Alena in ihrem Sessel zurück – einem gewaltigen alten Ding mit fleckigem Schonbezug – und fragte: »Also, wie sieht dein Plan aus?«
Rolfe warf mir wieder einen Blick zu, ein rasches, raubtierhaftes Huschen seiner Augen, als wäre er nicht sicher, ob er mir vertrauen könne, dann ging er auf Alenas Frage ein. »Wir nehmen uns die Freilandputenranch ›Toller Koller‹ vor«, sagte er. »Und nein, ich finde den Namen nicht witzig, überhaupt nicht.« Er musterte mich jetzt, lange, stetig und prüfend. »Die verarbeiten die Köpfe zu Katzenfutter, und den Hals und die Innereien wickeln sie in Papier ein und stopfen das Ganze in die Körperhöhle, wie bei irgendwelchen Kriegsgreueln. Was in aller Welt hat ein Truthahn getan, um so ein Schicksal zu verdienen?«
Obwohl er mich direkt ansprach, war es wohl eine rhetorische Frage, deshalb reagierte ich darauf nur, indem ich eine Miene machte, in der sich Kummer, Empörung und Entschlossenheit vermengten. Ich dachte an die vielen Truthähne, die ich selbst ins Jenseits befördert hatte, an die abgenagten Brustknochen, die fetten Bürzel und die knusprige braune Haut, die ich als Kind am liebsten gemocht hatte. Es verursachte mir einen Klumpen in der Kehle, und noch etwas: ich merkte, daß ich Hunger hatte.
»Ben Franklin wollte den Truthahn zum nationalen Wahrzeichen machen«, flötete Alena, »wußtet ihr das? Aber die Fleischfresser waren dagegen.«
»Es geht um fünfzigtausend Vögel«, sagte Rolfe, sah kurz zu Alena und ließ dann seinen brennenden Blick wieder auf mir ruhen. »Ich habe Informationen, daß sie morgen mit dem Schlachten anfangen wollen, für das Frischfleischgeschäft.«
»Yuppie-Geflügel!« In Alenas Stimme schwang Ekel mit.
Eine Zeitlang sprach niemand. Ich hörte das Knistern des Feuers. Der Nebel drängte gegen die Fenster. Es wurde dunkel.
»Man kann die Farm von der Straße aus sehen«, sagte Rolfe schließlich, »aber hin kommt man nur über Calpurnia Springs. Es sind gut fünfunddreißig Kilometer – siebenunddreißig Komma neun, um genau zu sein.«
Alenas Augen leuchteten. Sie starrte Rolfe an, als wäre er soeben vom Himmel gefallen. Ich spürte, wie sich mir etwas im Magen umdrehte.
»Wir schlagen noch heute nacht zu.«
Rolfe bestand darauf, daß wir mein Auto nahmen – »Meinen Pick-up kennt jeder in der Gegend hier, und wegen einer so kleinen Aktion kann ich kein Risiko eingehen« –, aber wenigstens verdeckten wir die Kennzeichen hinten und vorn mit einer dicken Schicht Schlamm. Dann schwärzten wir uns die Gesichter, als wären wir Mitglieder eines Spezialkommandos, und luden aus dem Schuppen hinter Rolfes Haus das Werkzeug ein: Drahtschere, Brecheisen und zwei 25-Liter-Kanister voll Benzin. »Benzin?« fragte ich und hob das schwere Gefäß probeweise an. Rolfe fixierte mich unverwandt. »Als Ablenkungsmanöver«, sagte er. Alf blieb aus verständlichen Gründen in der Hütte zurück.
War der Nebel am Tag schon dicht gewesen, so schien er jetzt undurchdringlich: der Himmel stürzte einfach auf die Erde herab. Sogar die Scheinwerfer wurden davon gepackt und auf mich zurückgeworfen, bis mir von der Anstrengung, den Wagen auf der Straße zu halten, die Augen tränten. Wären die Spurrillen und Schlaglöcher nicht gewesen, hätte man meinen können, wir trieben im Nichts. Alena saß vorn zwischen Rolfe und mir, merkwürdig schweigsam. Auch Rolfe hatte wenig zu sagen, gelegentlich knurrte er Anweisungen: »Da vorne rechts«, »Scharf links jetzt«, »Langsam, langsam«. Ich dachte an Fleisch, ans Gefängnis und an die heroischen Dimensionen, die ich in Alenas Augen bald annehmen würde, und daran, was ich mit ihr tun würde, wenn wir doch irgendwann ins Bett kämen. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte zwei Uhr früh.
»So«, sagte Rolfe so abrupt, daß ich davon aufschreckte, »fahr hier rechts ran – und mach das Licht aus.«
Wir stiegen aus, in die Stille der Nacht, und drückten leise die Türen hinter uns zu. Sehen konnte ich nichts, aber ich hörte das nicht so ferne Rauschen des Verkehrs auf der Straße – und ein anderes Geräusch, gedämpft und undeutlich, das leise, unbewußte Atmen von Tausenden und Abertausenden meiner Mitgeschöpfe. Und ich konnte sie riechen: den gärenden, ranzigen Gestank nach Kot und Federn und nackten schuppigen Füßen, der mir in der Nase brannte und in die Kehle fuhr. »Puhh!« flüsterte ich. »Ich kann sie riechen.«
Rolfe und Alena waren verschwommene Gestalten neben mir. Rolfe öffnete den Kofferraum, und im nächsten Moment spürte ich das Gewicht eines Brecheisens und eines Seitenschneiders in der Hand. »Hör zu jetzt, Jim«, raunte Rolfe, packte mit eisernem Griff mein Handgelenk und führte mich ein halbes Dutzend Schritte vorwärts. »Spürst du das?«
Ich spürte Maschendraht, den er im selben Moment zerschnitt: knips, knips, knips.
»Das hier ist ihre Umfriedung – tagsüber sind sie hier draußen und scharren im Dreck. Wenn du dich verirrst, folg einfach diesem Draht. Also: du wirst jetzt den Zaun in dieser Richtung aufschneiden, Alena geht nach Westen und ich nach Süden. Wenn wir fertig sind, gebe ich ein Zeichen mit der Taschenlampe, und wir treten die Tür zu den Truthahnställen ein – das sind diese niedrigen weißen Bauten, du wirst sie sehen, wenn du nahe dran bist – und scheuchen die Vögel hinaus. Hab keine Angst um mich oder Alena. Wichtig ist nur, daß du so viele Truthähne rausscheuchst wie möglich.«
Ich hatte aber Angst. Vor praktisch allem: vor einem halbverrückten Bauern mit einer Schrotflinte, einer Kalaschnikow oder was immer die heutzutage mit sich rumschleppten, davor, daß ich Alena im Nebel verlieren könnte, und vor den Truthähnen selbst. Wie groß waren die eigentlich? Waren sie aggressiv? Immerhin hatten sie ja wohl Klauen und scharfe Schnäbel? Was würden sie wohl davon halten, wenn ich mitten in der Nacht in ihr Schlafzimmer eindrang?
»Und wenn die Benzinkanister hochgehen, dann rennst du zurück zum Wagen, verstanden?«
Ich konnte die Puten im Schlaf zappeln hören. Auf der Schnellstraße wechselte ein Lastwagen krachend den Gang. »Glaube schon«, flüsterte ich.
»Und noch was – laß auf jeden Fall den Zündschlüssel stecken.«
Dies ließ mich innehalten. »Aber –«
»Zum Abhauen.« Alena war mir so nahe, daß ich ihren Atem im Ohr spürte. »Ich meine, wir wollen doch nachher nicht lange nach den Schlüsseln wühlen müssen, wenn da draußen die Hölle los ist, oder?«
Ich öffnete die Tür noch einmal und steckte den Zündschlüssel wieder ein, obwohl mich der Automatiksummer davor warnte. »Gut«, murmelte ich, aber sie waren schon weg, aufgesogen von den Schatten und vom Nebel. Inzwischen hämmerte mein Herz so laut, daß ich kaum noch das Kratzen der Tiere hörte – das ist Wahnsinn, sagte ich mir, es ist falsch und verkehrt, und illegal ist es obendrein. Aufgesprayte Slogans waren eine Sache, aber das hier war etwas völlig anderes. Ich dachte an den schlafenden Truthahnfarmer in seinem Bett: ein Kleinunternehmer, der mit seiner Arbeit Amerika stark machte, ein Mann mit Frau und Kindern und einer Hypothek im Nacken... aber dann dachte ich an all die unschuldigen Puten und Puter, die dem Tode geweiht waren, und schließlich dachte ich an Alena, an ihre langen Beine und ihre zärtliche Art und wie sie aus dem Dunkel des Badezimmers und dem Rauschen der Brandung zu mir kam. Ich setzte die Blechschere am Drahtzaun an.
Ich mußte wohl eine halbe oder dreiviertel Stunde lang drauflosgeschnitten haben und näherte mich langsam den großen weißen Ställen, die sich inzwischen vor mir aus der Dunkelheit schälten, als ich links von mir Rolfes Taschenlampe aufblinken sah. Das war das Signal für mich, zum nächstgelegenen Stall zu laufen, das Schloß aufzubrechen, die Tür aufzureißen und den ganzen Trupp mißtrauischer, griesgrämiger Kollerer in die Nacht hinauszuscheuchen. Jetzt oder nie. Ich blickte mich zweimal um und lief dann linkisch und leicht gebückt auf den nächsten Stall zu. Die Puten dürften gespürt haben, daß etwas im Busch war – hinter der langen weißen, fensterlosen Mauer erhob sich ein argwöhnisches Brabbeln, das Geraschel von Federn brauste auf wie ein Windstoß in den Baumwipfeln. Harret aus, ihr Puter und Puten, dachte ich, die Freiheit ist nah! Ein kurzer Ruck mit der Brechstange, und das Vorhängeschloß fiel zu Boden. Während mir das Blut in den Ohren pochte, packte ich die Schiebetür und riß sie mit einem mächtigen, dumpfen Donnern auf – und da waren sie auf einmal: Truthähne, Tausende und Abertausende von ihnen, aufgeplustertes weißes Gefieder im Schein einer Reihe mattgelber Glühbirnen. Das Licht funkelte in ihren Reptilienaugen. Irgendwo begann ein Hund zu bellen.
Ich stählte mich und hechtete mit einem Schrei durch die Tür, die Brechstange wild über dem Kopf schwenkend: »Also los!« brüllte ich, und das Echo wiederholte meinen Ruf gleich mehrere hundert Male, »es ist soweit, Truthähne! Macht euch auf die Beine!« Nichts. Keine Reaktion. Hätten sie nicht mit den Federn geraschelt und die Köpfe so wachsam emporgereckt, hätten es Skulpturen sein können, ausgeschüttelte Kissen, sie hätten ebensogut längst tot und geschlachtet sein können, auf einer Servierplatte angerichtet mit Yams und Zwiebeln. Das Hundegebell wurde eine Spur lauter. Ich glaubte, Stimmen zu hören.
Die Truthähne kauerten auf dem Betonfußboden, Welle um Welle von ihnen, dumpf und ungerührt; sie hockten auf den Dachsparren, auf Brettern und Vorsprüngen, drängten sich in hölzernen Gestellen. Wild entschlossen stürmte ich auf die vorderste Reihe zu, meine Brechstange schwenkend, mit den Füßen stampfend und johlend wie der Knochennager, der ich einst gewesen war. Das war genug. Der erste Vogel stieß einen Schrei aus, den die anderen sofort aufnahmen, bis ein unheiliges Krakeelen den Stall erfüllte, und jetzt kamen sie in Bewegung, torkelten von ihren Schlafplätzen herunter, flatterten mit den Flügeln und wirbelten dabei getrocknete Exkremente und zerpickte Körner auf, ergossen sich über den Betonboden, bis nichts mehr davon zu sehen war. Mit neuem Mut brüllte ich noch einmal – »Yiii-ha-ha-ha!« – und klapperte mit der Brechstange gegen die Aluminiumwände, während die Truthähne zur Tür hinaus in die Nacht stoben.
In diesem Augenblick flammte in der dunklen Öffnung des Ausgangs grelles Licht auf, und das Krachen der explodierenden Benzinkanister ließ die Erde erzittern. Renn weg! schrie eine Stimme in meinem Kopf, Adrenalin schoß ein, und mit einemmal hastete ich auf die Tür zu, inmitten eines Truthahn-Hurrikans. Sie waren überall, flügelschlagend, kollernd und kreischend, in Panik ihren Darm entleerend. Etwas traf mich in der Kniekehle, und plötzlich lag ich auf dem Boden, im Mist, zwischen den Federn und dem feuchten Truthahndreck. Ich war ein Weg, eine Truthahn-Autobahn. Ihre Klauen bohrten sich mir in Rücken und Schultern, in meine Schädelhaut. Selbst in Panik geraten, an Federn, Staub und noch Schlimmerem würgend, kämpfte ich mich auf die Beine, während die großen, schreienden Vögel ringsherum auf mich losgingen, und stolperte in den Hof hinaus. »Da! Wer ist das dort?« rief eine Stimme, und ich rannte los, so schnell ich konnte.
Was soll ich sagen? Ich sprang über Truthähne, andere kickte ich beiseite wie Fußbälle, schlug wild auf sie ein, noch während sie durch die Luft segelten. Ich rannte, bis meine Lungen sich anfühlten, als würden sie sich gleich durch das Brustfell brennen, ich war desorientiert und durcheinander und fürchtete das Krachen der Schrotflinte, die mich jeden Moment niederstrecken mußte. Hinter mir toste das Feuer und erhellte die Nacht, bis der Nebel blutrot und höllisch glühte. Aber wo war der Zaun? Und das Auto?
Irgendwann hatte ich wieder Kontrolle über meine Beine und blieb stocksteif stehen, um in die Nebelwand zu spähen. Dort vorn? War das mein Auto? In diesem Augenblick hörte ich irgendwo hinter mir einen Motor starten – ein vertrautes Geräusch mit einem vertrauten gurgelnden Spotzen in der Kehle des Vergasers –, dann waren dreihundert Meter weit entfernt kurz die Scheinwerfer zu sehen. Der Motor heulte auf, dann hörte ich hilflos zu, wie der Wagen in entgegengesetzter Richtung davonraste. Einen Moment lang stand ich noch einsam und verlassen da, bevor ich blindlings in die Nacht losrannte, um das Feuer, die Schreie, das Bellen und das pausenlose, geistlose Kreischen der Truthähne so weit hinter mir zu lassen wir nur möglich.
Als der Tag endlich anbrach, bemerkte ich es kaum, so dicht war der Nebel. Ich war auf eine Asphaltstraße gestoßen – welche das war und wohin sie führte, wußte ich allerdings nicht – und kauerte zitternd auf einem Unkrautbüschel dicht neben der Bankette. Alena würde mich nicht im Stich lassen, dessen war ich sicher – sie liebte mich, so wie ich sie liebte; brauchte mich so sehr wie ich sie –, und ich war mir auch sicher, daß sie alle Straßen und Feldwege nach mir absuchte. Dennoch war natürlich mein Stolz verletzt, und wenn ich Rolfe nie wiedersehen würde, wäre ich nicht allzu traurig, aber wenigstens hatte ich keine Schrotladung im Körper, war weder von Wachhunden zerrissen noch von erzürnten Putern zu Tode gehackt worden. Mir tat alles weh, mein Schienbein schmerzte, weil ich damit auf meiner nächtlichen Flucht gegen etwas Massives gekracht war, ich hatte Federn in den Haaren, und Gesicht und Arme waren ein Mosaik aus Schrammen, Kratzern und langgezogenen Dreckspuren. Während ich scheinbar stundenlang so dasaß, verfluchte ich Rolfe, verdächtigte Alena und stellte wenig schmeichelhafte Theorien über die Öko-Bewegung im allgemeinen auf, bis ich endlich ein vertrautes Schlürfen und Spotzen hörte und mein Chevy Citation sich aus dem Nebel vor mir schälte.
Rolfe saß am Steuer, mit ungerührter Miene. Ich sprang auf die Straße wie ein zerlumpter Bettler, fuchtelte mit den Armen in der Luft, um meiner Freude Ausdruck zu verleihen, und er hätte mich beinahe überfahren. Alena stürzte aus dem Wagen, ehe er noch richtig hielt, schlang die Arme um mich, schob mich auf den Rücksitz zu Alf, und schon waren wir auf der Rückfahrt zu Rolfes Versteck. »Was war denn bloß los?« rief sie, als wäre das nicht leicht zu erraten. »Wo warst du nur? Wir haben gewartet, solange wir konnten.«
Ich fühlte mich mürrisch und sitzengelassen und meinte, mir weit mehr verdient zu haben als eine flüchtige Umarmung und eine Serie banaler Fragen. Trotzdem: während ich meine Geschichte erzählte, fand ich sie sogar aufregend – sie waren im Auto geflüchtet, Heizung und Gebläse auf vollen Touren, und ich war zurückgeblieben, um gegen die Truthähne, die Farmer und die Elemente zu kämpfen, und wenn das nicht heroisch war, was dann? Ich blickte in Alenas bewundernde Augen und stellte mir Rolfes Baracke vor, ein oder zwei Schlückchen aus der Jack-Daniels-Flasche, vielleicht ein Sandwich mit Erdnußbutter und Tofu, und dann das Bett, mit Alena drin. Rolfe sagte kein Wort.
Bei ihm angekommen, duschte ich und schrubbte mir den Putendreck aus den Poren, dann genehmigte ich mir etwas von dem Bourbon. Es war zehn Uhr vormittags, und im Haus war es stockdunkel – wenn die Welt je ohne Nebel existiert hatte, hier merkte man davon nichts. Als Rolfe auf die Veranda hinaustrat, um eine Ladung Brennholz zu holen, zog ich Alena auf meinen Schoß. »He«, murmelte sie, »ich dachte, du wärst invalide.«
Sie trug knallenge Jeans und einen übergroßen Pullover ohne Unterwäsche. Ich fuhr mit der Hand darunter und bekam etwas zu fassen. »Invalide?« fragte ich und rieb mir die Nase an ihrem Ärmel. »Was denn, ich bin doch der Truthahnbefreier und Öko-Guerillero, ein Freund der Tiere und der Umwelt dazu.«
Sie lachte, doch zugleich entzog sie sich mir, ging durch das Zimmer und starrte aus dem verhangenen Fenster. »Hör mal, Jim«, begann sie. »Was wir letzte Nacht getan haben, war großartig, echt großartig, aber es ist erst der Anfang.« Alf sah erwartungsvoll zu ihr auf. Auf der Veranda hörte ich Rolfe herumwursteln, das Schlagen von Holz auf Holz. Sie wandte sich um und sah mich jetzt direkt an. »Also, äh – Rolfe will, daß ich eine Zeitlang nach Wyoming gehe, an die Grenze zum Yellowstone-Nationalpark...«
Ich? Rolfe will, daß ich? Darin lag keinerlei Aufforderung, kein Plural, keine Würdigung dessen, was wir miteinander unternommen hatten und füreinander bedeuteten. »Warum?« fragte ich. »Was soll das heißen?«
»Da gibt es diesen Grizzlybären, eigentlich sind es zwei, die haben außerhalb des Parks ein paar Häuser heimgesucht. Neulich hat einer von ihnen den Dobermann des Bürgermeisters zerfleischt, und jetzt bewaffnen sich die Leute dort. Wir – also, ich meine Rolfe und ich und ein paar Leute von den alten Öko-Kämpfern aus Minnesota –, wir wollen hinfahren, um dafür zu sorgen, daß die Park-Ranger – oder die Kerle aus dem Ort – sie nicht einfach abknallen. Die Bären, meine ich.«
Meine Stimme klang ätzend. »Du und Rolfe?«
»Zwischen uns läuft nichts, wenn du das meinst. Hier geht es nur um Tiere, um nichts anderes.«
»Tiere wie wir?«
Sie wiegte langsam den Kopf. »Nicht wie wir, nein. Wir sind der Pesthauch dieses Planeten, weißt du das nicht?«
Plötzlich wurde ich zornig. Kochte vor Wut. Da hatte ich die ganze Nacht in den Büschen gekauert, über und über voll mit Truthahnkacke, und jetzt war ich Teil eines Pesthauchs. Ich stand auf. »Nein, das wußte ich nicht.«
Sie warf mir einen Blick zu, der mich davon unterrichtete, daß ihr das egal war, daß sie bereits fort war, daß ich, jedenfalls für die nächste Zeit, nicht in ihrem Plan vorkam und daß es keinen Sinn hatte, deswegen zu streiten. »Also«, sagte sie, jetzt etwas leiser, denn Rolfe polterte wieder zur Tür herein, eine Ladung Holz im Arm, »wir sehen uns in L.A. wieder, ja? So in einem Monat ungefähr.« Sie lächelte mich bittend an. »Gießt du meine Pflanzen?«
Eine Stunde später war ich wieder auf der Straße. Ich hatte Rolfe geholfen, das Brennholz neben dem Ofen zu stapeln, ließ meine Lippen von Alenas Abschiedskuß streifen und sah dann von der Veranda aus zu, wie Rolfe die Hütte abschloß, Alf auf die Ladefläche seines Pick-ups hob und über die ausgefahrene Piste davonrumpelte, Alena an seiner Seite. Ich sah ihnen nach, bis ihre Bremslichter im treibenden grauen Nebel verloschen, dann ließ ich den Citation aufröhren und schlingerte ihnen hinterher. In einem Monat ungefähr: ich fühlte mich innerlich hohl. Ich stellte sie mir mit Rolfe vor, wie sie Joghurt und Weizenkeimmüsli aßen, in Motels übernachteten, mit Grizzlys rangen und Stahlnägel in Baumstämme hämmerten. Die Hohlheit wurde größer und entkernte mich geradezu, bis ich mir vorkam, als hätte man mich gerupft, ausgenommen und auf einer silbernen Platte serviert.
Ich fand den Rückweg durch Calpurnia Springs ohne Zwischenfall – keine Straßensperren, keine blinkenden Lichter oder grimmigen Streifenpolizisten, die Kofferräume und Rückbänke nach einem schlaksigen, dreißigjährigen Öko-Terroristen durchsuchten, dessen Rücken von Truthahnkrallen gezeichnet war –, doch nachdem ich auf die Schnellstraße nach Los Angeles eingebogen war, erlebte ich einen Schock. Nach etwa fünfzehn Kilometern schälte sich mein Alptraum aus dem Dunst: überall blinkten rote Warnlampen, waren Absperrungen, und am Straßenrand standen reihenweise Polizeiwagen. Ich war einer Panik nahe, kaum einen Herzschlag davon entfernt, mit Vollgas den Mittelstreifen zu durchbrechen und sie zu einer Verfolgungsjagd aufzufordern, als ich den verunglückten Sattelschlepper weiter vorn sah. Ich wurde langsamer, sechzig, fünfzig, dann mußte ich heftig bremsen. Im nächsten Moment steckte ich in einem Stau, und vor mir war die Straße mit etwas bedeckt, das gespenstisch weiß im Nebel schimmerte. Zuerst dachte ich, es sei die Ladung des LKW, Klopapierrollen oder Kisten mit Waschpulver, die beim Herabfallen aufgeplatzt waren. Aber es war etwas anderes. Als ich im Kriechtempo näher heranfuhr, die pulsierenden Lichter flackerten mir ins Gesicht, sah ich, daß die Straße mit Federn übersät war – mit Truthahnfedern. Ein weißer Sturm. Ein Blizzard. Und nicht nur das: es war auch alles voller Fleisch, glitschig und glibbrig, eine rote Schmiere, die mit dem Straßenpflaster fest verklebt war, von den Rädern meiner Vordermänner wie Schlamm wegspritzte und von den mächtigen Zwillingsreifen der Sattelschlepper zerquetscht wurde. Truthähne, Truthähne überall.
Das Auto rollte langsam weiter. Ich schaltete die Scheibenwischer ein, drückte auf den Knopf der Waschanlage, und einen Moment lang wurde die Scheibe von einem Film aus Blut und Schleim verfinstert, und das Hohle in meinem Innern öffnete sich wieder, so daß ich glaubte, es würde mich in sich aufsaugen. Hinter mir drückte jemand auf die Hupe. Im Zwielicht wurde ein Streifenpolizist sichtbar und winkte mich mit dem toten gelben Auge seiner Taschenlampe vorbei. Ich dachte an Alena, und mir wurde schlecht. Von allem, was zwischen uns gewesen war, blieb das hier übrig: sauer gewordene Hoffnungen, Glitsch auf der Straße. Ich wollte aussteigen und mich erschießen, mich der Polizei stellen, die Augen schließen und im Knast aufwachen, in einem härenen Hemd, einer Zwangsjacke, egal. Aber es ging vorbei. Die Zeit blieb nicht stehen. Nichts rührte sich. Und dann, ganz wundersam, schälte sich vor der schlierigen Scheibe eine Vision aus dem grauen Bauch des Nebels: goldgelb schimmernde Lichter in der Ödnis. Ich sah das Hinweisschild »Tanken – Motel – Restaurant«, und schon war meine Hand am Blinker.
Ich zögerte einen Augenblick, stellte mir den Raum vor, die häßlichen Fliesen, die falsche Fröhlichkeit der Beleuchtung, den Geruch nach verschmortem Fleisch, der schwer in der Luft hing, Big Mac, Grillhähnchen, Carne asada, Cheeseburger. Der Motor spotzte. Die Lichter schimmerten. In diesem Moment dachte ich nicht an Alena oder an Rolfe oder an Grizzlybären, dachte weder an todgeweihte blökende Herden noch an blinde Kaninchen oder krebskranke Mäuse – ich dachte nur an die Höhlung, die sich in mir auftat, und wie ich sie füllen konnte. »Fleisch«, ich sagte das Wort laut vor mich hin, sprach es wie zu meiner eigenen Beruhigung aus, als wäre ich aus einem bösen Traum erwacht, »es ist doch nur Fleisch.«