Ende der Nahrungskette

Also folgendes, wir hatten da unten ein kleines Problem mit Insekten als Krankheitsüberträgern, und glauben Sie mir, dieses schwächere Zeug – Malathion und Pyrethrum und alle anderen sogenannten umweltfreundlichen Produkte –, das alles hat überhaupt nicht geholfen, null Wirkung, total nutzlos – ebensogut hätten wir Chanel N°-5 versprühen können, das hätte auch nicht mehr gebracht. Man muß bedenken, daß die Menschen da Tag und Nacht buchstäblich von Insekten bedeckt waren – und daß sie kaum Kleidung auf dem Leib trugen, verschärfte das Problem natürlich noch. Meine Herren, wenn Sie können, stellen Sie sich einen nackten kleinen Jungen vor, zwei Jahre alt und ganz schwarz von Fliegen und Moskitos, so daß er aussieht, als hätte er Trainingshosen an, daneben seine junge Mutter, derart von der Malaria geschüttelt, daß sie nicht mal eine Diet Coke zum Mund heben kann – es war entsetzlich, einfach entsetzlich, wie im tiefsten Mittelalter... Na, jedenfalls wurde die Entscheidung getroffen, DDT einzusetzen. Kurzfristig. Nur um die Situation erst mal unter Kontrolle zu bringen, Sie verstehen.
Ja, so ist es, Senator, DDT: Dichlordiphenyltrichloräthan.
Ja, desen bin ich mir bewußt, Sir. Aber nur weil wir es für den Inlandsmarkt verboten haben, und zwar unter dem Druck von Vogelschützern und ein paar Haschbrüdern bei der Umweltbehörde, heißt das ja nicht automatisch, daß auch alle anderen Länder – vor allem die Entwicklungsländer – gleich auf diesen Zug aufspringen müssen. Und genau das ist das Schlüsselwort, Senator: Entwicklung. Man muß sich mal klarmachen, daß wir hier von Borneo reden, nicht von Port Townsend oder Enumclaw, Washington. Die Menschen dort haben keinen Schimmer von sanitären Einrichtungen, Schädlingsbekämpfung, Krankheitsvorsorge – ja nicht mal von Körperpflege und Hygiene, wenn wir’s auf den Punkt bringen wollen. Da kommen im Jahr dreitausend Millimeter Niederschläge runter, Minimum. Diese Leute graben sich im Urwald Wurzeln aus der Erde. Liebe Güte, am Oberlauf des Rajang gibt’s heute noch Kopfjäger.
Und vergessen Sie bitte nicht, daß die uns um unseren Einsatz gebeten, ja geradezu angebettelt hatten – und nicht nur die Weltgesundheitsorganisation, sondern auch der Sultan von Brunei und die Regierung in Sarawak. Wir taten, was wir konnten, um ihrem Wunsch nachzukommen und unser Ziel in kürzester Zeit und mit möglichst durchgreifenden, wirksamen Mitteln zu erreichen. Also auf dem Luftweg. Logisch. Und niemand hätte die Konsequenzen voraussehen können, niemand, selbst wenn wir hergegangen wären und hundert solcher Umweltverträglichkeitsberichte hätten erstellen lassen – das ist ganz einfach passiert, eine Laune des Schicksals, und davor kann man sich nicht schützen. Jedenfalls nicht daß ich wüßte...
Raupen? Ja, Senator, das ist zutreffend. Das war das erste Zeichen: die Raupen.
Aber lassen Sie mich da bitte etwas weiter ausholen. Sehen Sie, da draußen im Busch haben sie diese Dächer, die mit Palmwedeln gedeckt sind – die sieht man übrigens auch in den Städten, sogar in Bintulu und Brunei –, und die sind sogar ziemlich effektiv, Sie würden staunen. Dreitausend Millimeter Regen, da müssen die sich schon was ausdenken, damit das nicht alles in die Hütte fließt, und seit Jahrhunderten funktionierte das mit den Palmwedeldächern. Na, also, etwa einen Monat nachdem wir zum letztenmal gesprüht hatten, ich sitze gerade in meinem Wohnanhänger am Schreibtisch, denke über das Entwässerungsprojekt in Kuching nach und genieße es sehr, daß ich erstmals seit ungefähr einem Jahr nicht dauernd Massen von Moskitos auf meinem Nacken totschlagen muß, da klopft es an der Tür. Herein kommt ein älterer Herr, von Kopf bis Fuß tätowiert, bekleidet mit nichts als einem Paar Sportshorts – diese Shorts lieben sie übrigens, den glänzenden Stoff und die sauberen Maschinennähte, das ganze Land steht drauf, Männer, Frauen, Kinder, die können gar nicht genug von den Dingern kriegen... Na, jedenfalls ist er das Oberhaupt des Nachbardorfs, und er ist sehr aufgeregt, irgendwas wegen einem Dach – atap ist das Wort dafür. Sonst sagt er nichts, nur atap, atap, immer wieder.
Es regnet natürlich. Da regnet’s immer. Also streif ich mir die Regenhaut über und werf meinen Vierradantrieb an, um’s mir anzusehen. Und tatsächlich, alle diese atap-Dächer sind am Einkrachen, nicht nur in seinem Dorf, sondern in unserem gesamten Zielgebiet. Die Menschen sitzen zusammengekauert in ihren Turnhosen herum, ziemlich jämmerlicher Anblick, und ein Dach nach dem anderen fällt zusammen, höchst eigenartig, und langsam bemerke ich, daß in der Tirade des Häuptlings eine neue Vokabel aufgetaucht ist, die mir damals noch nicht geläufig war – wie sich herausstellte, das Wort für »Raupe« im Iban-Dialekt. Aber wer konnte schon die Verbindung herstellen zwischen den eingestürzten Dächern und der Tatsache, daß wir dreimal kurz mit dem Giftflieger übers Dorf gedüst waren?
Nach ein paar Wochen haben unsere Leute die Sache dann geklärt. Das Präparat, mit dem übrigens die Anzahl der Moskitos exponentiell reduziert werden konnte, hatte leider die Nebenwirkung, auch eine kleine Wespe zu eliminieren – ich hab den wissenschaftlichen Namen irgendwo hier in meinem Bericht, falls er Sie interessiert –, die sich von einer bestimmten Raupe ernährt, die ihrerseits wiederum Palmwedel frißt. Tja, und als die Wespen weg waren, vermehrten sich die Raupen völlig ungehemmt und zerfraßen im Nu die Dächer, sehr bedauerlich, das gestehen wir ein, und wir mußten auch unser Budget stark überziehen, weil wir diese Dächer dann mit Wellblech erneuert haben... aber die Leute dürften glücklich damit sein, denke ich, auf lange Sicht jedenfalls, denn machen wir uns nichts vor, egal, wie eng man diese Palmwedel auch flicht, so gut wie Blech werden sie das Wasser nie abhalten. Sicher, man kann nicht alles haben, und wir kriegten dann eine Menge Beschwerden, weil der Regen so laut auf das Metall prasselte, die Leute nicht mehr schlafen konnten, und so weiter und so fort...
Ja, Sir, das ist zutreffend – als nächstes kam die Fliegenplage.
Nun, zunächst einmal müssen Sie das Ausmaß des Fliegenproblems in Borneo begreifen, das ist mit unseren Zuständen hier nicht zu vergleichen, außer vielleicht bei einem Streik der Müllabfuhr in New York. Da unten hat man den ganzen Tag lang ständig überall Fliegen – in der Nase, im Mund, in den Ohren und den Augen, Fliegen im Reis, in der Coca, im Singapore Sling und im Gin Rickey. Es ist zum Wahnsinnigwerden – ganz zu schweigen von den Krankheiten, die diese Viecher übertragen, von Amöbenruhr über Typhus bis Cholera und wieder zurück. Und nachdem die Moskitopopulation geschrumpft war, schienen sich die Fliegen besonders schnell zu vermehren, um die Lücke zu füllen – Borneo wäre nicht Borneo, wenn nicht irgendwelche verfluchten Insekten die Luft schwärzten.
Nun hatten unsere Leute damals das Problem mit den Raupen und den Wespen und so weiter noch nicht so genau aufgedröselt, also dachten wir uns: mit den Moskitos hat’s doch prima geklappt, warum nicht gleich eine gründliche Bodenaktion hinterher? Und rauf mit dem Kompressor auf die Ladepritsche unseres Suzuki und die Hütten alle ausgesprüht, von den offenen Sickergruben gar nicht zu reden, die ja, wie Sie sicher wissen, ideale Brutstätten für Fliegen, Zecken und alle möglichen anderen stechenden Insekten sind. Immerhin lag unser Irrtum im Tun und nicht im Lassen. Wir haben’s wenigstens versucht.
Ich hab selbst gesehen, wie es die Fliegen umgehauen hat. Eben noch schwirrten sie so dicht in meinem Wohnanhänger herum, daß ich meine Notizen nicht einmal finden konnte, geschweige denn damit arbeiten, und auf einmal versammelten sie sich alle an den Fenstern und taumelten wie betrunken herum. Am nächsten Tag waren sie weg. Einfach so. Von einer Million Fliegen im Anhänger auf null...
Ja, aber das konnte doch niemand vorhersehen, Senator.
Die Geckos fraßen die Fliegen, richtig. Sie alle wissen, wie Geckos aussehen, meine Herren? Das sind diese Eidechsen, die Sie im Urlaub auf Hawaii bestimmt schon beobachtet haben, sehr farbenprächtige Tiere, die in den Häusern Jagd auf Schaben und Fliegen machen, beinahe wie Haustiere, aber natürlich sind das wilde Kreaturen, das darf man nicht vergessen, und außerdem so ziemlich das Unhygienischste, was ich mir vorstellen kann – außer vielleicht Fliegen.
Natürlich, Sir, aber vergessen Sie bitte nicht, daß wir das jetzt in der Rückschau betrachten und mittlerweile hundertprozentig informiert sind, aber damals hat doch kein Mensch einen Gedanken an Geckos und was die nun fressen sollen verschwendet – die Viecher waren nichts weiter als eine von vielen Begleiterscheinungen des tropischen Lebens. Moskitos, Eidechsen, Skorpione, Blutegel – was man sich nur vorstellen kann, das gibt’s da. Und als die Fliegen sich nun wie Treibgut auf den Fenstersimsen anhäuften, fielen die Geckos natürlich über sie her, stopften sich mit dem Zeug voll, bis sie aussahen wie dicke Würstchen, die an den Wänden entlangwuselten. Vorher flitzten sie immer so flink davon, daß man nie recht sicher war, ob man sie überhaupt gesehen hat, aber plötzlich watschelten sie träge über den Boden, hockten reglos in den Ecken und klebten an den Luftschlitzen wie Magneten – und auch da hat noch niemand groß auf sie geachtet, bis sie auf einmal mit dem Bauch nach oben auf der Straße rumlagen. Das können Sie mir glauben, wir haben damit vieles bestätigt, was man über die Kumulation dieser Stoffe im Zusammenhang mit der Nahrungskette ahnte und auch über die Wirksamkeit – beziehungsweise Wirkungslosigkeit – gewisser Methoden, kein Zweifel...
Die Katzen? Tja, da wurde es dann heikel, wirklich heikel. Sehen Sie, wegen einem Haufen toter Eidechsen hatte ja kein Mensch schlaflose Nächte – obwohl wir routinemäßig Tests durchführten, und diese Tests bestätigten auch unsere Vermutungen, nämlich daß der chemische Stoff in den Geckos konzentriert war, schlicht und einfach wegen der vielen vergifteten Fliegen, die sie gefressen hatten. Aber Echsen sind eine Sache und Katzen eine andere. Die Menschen dort sind in ihre Katzen richtiggehend verliebt – kein Haus, keine Hütte, egal, wie primitiv, wo nicht mindestens zwei Katzen rumlaufen. Es sind zwar ganz abgemagerte Viecher, langbeinige Gerippe, nicht wie die Tiere, die man bei uns hier sieht, aber egal, sie lieben ihre Katzen. Weil die Katzen nämlich eine Funktion haben – ohne Katzen hätten sie nämlich innerhalb einer Woche Unmengen von Ratten im Haus.
Ja, genau, Senator, da haben Sie recht – genau das ist passiert.
Sehen Sie, die Katzen hatten einen Riesenspaß mit diesen schlaffen Geckos – wer je selber eine Katze hatte, der kann sich vorstellen, welche Freude diese Tiere empfunden haben müssen, als sie diese ultrafixen Eidechsen sahen, gegen die sie sonst nie eine Chance hatten und die auf einmal auf dem Fußboden rumkriechen wie die Käfer. Tja, um es kurz zu machen, die Katzen fraßen alle toten und sterbenden Geckos im ganzen Land auf, ratzeputz – und dann fingen die Katzen an zu sterben... was mir persönlich ja immer noch nicht soviel ausgemacht hätte, wären da nicht die Ratten gewesen. Plötzlich waren überall Ratten – man konnte keine Straße entlangfahren, ohne ein halbes Dutzend auf einmal plattzuwalzen. Sie schissen die Getreidelager voll, ersoffen in den Brunnen, bissen schlafende Säuglinge in der Wiege. Aber das war nicht das Schlimmste, noch lange nicht. Nein, so richtig lief die Sache erst kurz darauf aus dem Ruder. Nach einem Monat erhielten wir die ersten vereinzelten Berichte über Beulenpest, und natürlich sind wir jedem einzelnen Fall nachgegangen und haben dafür gesorgt, daß diese Leute eine durchschlagende Behandlung mit Antibiotika kriegten, aber trotzdem sind ein paar gestorben, und die Ratten wurden immer mehr...
Es war mein Plan, ja. Eines Nachts überlegte ich hin und her, die Ratten wuselten in meinem Wohnanhänger herum wie in einem billigen Horrorfilm, die Dorfbewohner waren in heller Panik wegen der Pestgefahr und einer ununterbrochenen Flut von hysterischen Meldungen aus dem Landesinneren – über Leute, die sich schwarz verfärbten, innerlich anschwollen und dann platzten, solche Geschichten eben. Na ja, wie gesagt, da hatte ich diesen Plan, die Lösung des Problems – nicht vollkommen, und billig war’s auch nicht –, aber in dieser Lage, da werden Sie mir beipflichten, mußte etwas getan werden.
Am Ende haben wir sogar in Australien gesucht, um genügend Katzen aufzutreiben, aus Tierschutzheimen und so – obwohl wir die meisten in Indonesien und Singapur bekamen, insgesamt an die vierzehntausend Tiere. Billig war das natürlich nicht – wir mußten für die Katzen bezahlen, dann für den Flugzeugtreibstoff, die Überstunden der Piloten und noch etliches mehr –, aber uns war klar, daß es keine Alternative gab. Es war, als hätte sich die gesamte Natur gegen uns verschworen.
Trotzdem, letztlich haben wir den USA doch eine Menge Freunde eingebracht, als wir dann die Katzen abgeworfen haben – und das hätten Sie sehen sollen, meine Herren, diese Miniaturfallschirme mit den improvisierten Gurten, gleich vierzehntausend davon: Katzen in allen Farben des Regenbogens, Katzen mit nur einem Ohr, gar keinem Ohr, einem halben Schwanz, mit drei Beinen, und Katzen, die einen Schönheitspreis in Springfield, Massachusetts, gewonnen hätten, und alle zusammen trudelten aus dem Himmel herab wie riesige, überdimensionierte Schneeflocken...
Das war vielleicht ein Anblick. Wirklich.
Natürlich haben Sie alle die Berichte gelesen. Es gab noch andere Faktoren, mit denen wir nicht rechnen konnten, Ernteeinbußen bei Reis und Maniok – wir wissen bis heute nicht, welche Spezies wir da mit der ursprünglichen Sprühaktion versehentlich ausgerottet haben, das bleibt wohl ein Rätsel –, aber das Getreide wurde in diesem Jahr von Rüsselkäfern und ähnlichem Viehzeug dezimiert, und als wir die Katzen endlich abwarfen, hatten die Menschen dort schon mächtig Hunger, und so war es wohl unvermeidlich, daß ein ziemlicher Prozentsatz der Tiere gleich wieder verlorenging. Aber wir haben da jetzt ein CARE-Projekt laufen, außerdem hat sich die Rattenpopulation irgendwas eingefangen – wir wissen noch nicht genau was, wahrscheinlich ein Virus –, und wie ich höre, erleben die Geckos gerade ein Comeback.
Also, meine Herren, was ich sagen will: es könnte schlimmer sein, und zu jeder Wolke gehört ein Silberstreif am Horizont, meinen Sie nicht auch?