Keimende Hoffnung
Ich schleppte mich mit schmerzendem Rücken
zu meinem Schwager, dem Arzt, der mich untersuchte und röntgte und
dann in sein Zimmer bat. Bei einem Blick aus dem Fenster auf die
ersten Anzeichen des Frühlings – von schwellenden Knospen gespickte
Bäume, Weidenkätzchen am Sumpfrand, ein einsames Rotkehlchen, das
prüfend im harten gelben Gras pickte – fühlte ich mich wohlig und
philosophisch gestimmt. Was machte es schon, wenn mein Rücken sich
anfühlte, als hätte mir jemand eine Mischung aus Batteriesäure und
Louisiana-Chilisauce injiziert? Da draußen war das Leben, sprießend
und üppig, ein ganzer Kosmos, in dem es vor lauter Möglichkeiten
nur so wimmelte. Es war Frühling, Zeit zum Aufwachen, zum Tanzen im
Takt des Lebens.
Mein Schwager hatte inzwischen endlich
aufgehört, sich über den altmodischen Bart zu streichen und seine
Lesebrille auf dem Nasenrücken hin und her zu schieben. Er
räusperte sich. »Hör mal, Peter«, sagte er mit seiner
salbungsvollen, heilenden Stimme, »wir kennen uns doch eigentlich
schon ziemlich lange, oder?«
Hunderte von Kalauern sausten mir durch
den Kopf, aber ich nickte nur grinsend.
»Wir stehen einander nahe,
stimmt’s?«
Ich erinnerte ihn daran, daß er meine
Schwester geheiratet und meine Nichte und meinen Neffen gezeugt
hatte.
»Ja, genau«, sagte er. »Da das nun klar
ist, darf ich dir wohl das erste geheime Axiom des medizinischen
Metiers verraten.«
Ich beugte mich vor, wobei ein rasender
Schmerz meine Lendenwirbelsäule packte, wie ein Hund, der eine
Ratte mit den Zähnen festhält und schüttelt. Draußen auf dem Rasen
flatterte das Rotkehlchen mit den armseligen Flügeln und wurde vom
Wind davongetragen.
Mein Schwager kostete den Moment aus und
sagte dann, mit ausgesucht deutlicher Artikulation: »Jede
körperliche Schädigung, die man sich vor dem einundzwanzigsten
Lebensjahr zuzieht, plus minus ein Jahr, beginnt am nächsten Tag zu
verheilen. Danach schleppt man jedes Zipperlein bis ins Grab mit
sich mit.«
Ich brach in Gelächter aus, wobei der
imaginäre Hund mir seine Zähne tiefer ins Fleisch grub, dann fragte
ich schmerzverzerrt: »Und was ist das zweite?«
Er lächelte mich an, präsentierte das
ebenmäßige, kieferorthopädisch unterstützte weiße Wunder seiner
Zähne. »Das zweite was?«
»Axiom. Des medizinischen Metiers.«
Er winkte ab. Unwichtig. »Ach, das«, sagte
er und schob sich die Brille zurecht. »Das ist eigentlich nicht
geheim, nicht mehr jedenfalls. Das erzählen die Mediziner seit
jeher ihren Frauen, Kindern und Schwägern – oder sagt man
Schwagern? Na, jedenfalls lautet es: ›Viel schlafen und viel
Flüssigkeit zu sich nehmen.‹«
Diesmal erstarb mein Lachen, abgehackt wie
von einer fallenden Guillotine. »Und mein Rücken?«
»Viel schlafen«, sagte er, »und viel
Flüssigkeit zu dir nehmen.«
Der Schmerz war noch da, etwas
abgestumpft, weil der Hund seinen Biß lockerte, dennoch war er da.
»Können wir nicht mal einen Moment lang ernst werden?«
Aber das ließ er nicht zu. Er wurde nie
ernsthaft. Dann hätte er ja zugeben müssen, daß die halbe Welt
verkrüppelt und arthritisch war und an Dysplasien und Osteoporose
litt; er hätte eingestehen müssen, daß es Zwerge und Mißbildungen
und Drüsenfehlfunktionen gab, ganz zu schweigen von den Legionen
säbelbeiniger Kinder, die auf der Straße verhungerten, während wir
uns unterhielten. Wäre er einmal ernst, müßte er seine abgrundtiefe
Unfähigkeit angesichts all der Verwesung und Verwirrung bekennen,
von der die Welt beherrscht war. Er erhob sich vom Schreibtisch,
ergriff meinen Ellenbogen und schob mich mit schwägerlichem Druck
hinaus.
Ich stand an der offenen Tür, hinter mir
das Wartezimmer. Staunend wurde mir klar, daß er nichts zu
unternehmen gedachte. Nicht das geringste. »Aber, aber«, stammelte
ich, »willst du mir nicht wenigstens ein paar Tabletten
verschreiben?«
Er bewahrte sein makelloses Lächeln –
nicht das leiseste Beben seiner bärtigen Oberlippe –, und dafür
mußte ich ihn lieben: sein Rücken tat ihm nicht weh, seine Knie
waren gesund. »Peter«, sagte er mit spielerisch tadelndem Ton, »es
gibt kein Wundermittel – das solltest du doch wissen.«
Ich wußte gar nichts. Ich wollte Kodein,
Morphium, Heroin; ich wollte, daß die Schmerzen aufhörten. »Arzt,
hilf dir selber!« zischte ich höhnisch. Und wirbelte dann auf den
Fersen herum, rundum zufrieden mit meiner Schlagfertigkeit, rannte
aber um ein Haar eine winzige verhutzelte Dame um, die spinnenartig
in einem schimmernden Netz aus Aluminiumstreben, Reifen und
Zahnrädern pendelte.
»Bist du noch mit Adriana zusammen?« rief
er mir nach, als ich zur Haustür entwich. Mein Mantel – ein
bohrender Schmerz; der Schal – ein Zittern im Unterarm. Dann die
Handschuhe, die Tür, der Wind, die nackte Lüge des Frühlings. »Ich
hab mir nämlich gedacht«, erläuterte der Mann der Heilkunst, »daß
wir bei uns ein paar Doppel spielen könnten« – donnerndes Knallen
der Tür, die Stimme klang nur noch gedämpft dank der Entfernung und
der zwischen uns befindlichen Platte aus massivem Eichenholz –,
»wie wär’s am Samstag?«
Zu Hause ließ ich mich in meinen
Sessel mit dem Heizkissen sinken und drückte den Wiedergabeknopf
meines Anrufbeantworters. Adrianas Stimme bestürmte mich, atemlos,
angespannt, durchdrungen von existentieller Angst und der
niederschwelligen Frequenz ihrer Alltagssorgen. »Die Frösche
verschwinden. Überall auf der Welt. Die Frösche. Glaub mir!« Dann
eine Pause. »Man sagt, das ist so ähnlich wie mit den
Kanarienvögeln in den Kohlenstollen – die erste Warnung, das erste
Anzeichen. Die Apokalypse ist gekommen, sie ist da, wir sind alle
verloren. Ruf mich zurück.«
Mit Adriana war ich seit elf Jahren
regelmäßig unterwegs. Wir gingen zusammen einkaufen, ins Kino, in
Konzerte, Museen, drei- bis viermal pro Woche zum Abendessen und
unterhielten uns stundenlang am Telefon. In unseren frühen Jahren,
als wir von Leidenschaft verzehrt wurden, verbrachten wir oft auch
die Nacht miteinander, doch jetzt, da unsere Beziehung gereift war,
respektierten wir mehr und mehr den Freiraum des anderen. Es war
auch übers Heiraten geredet worden, in den frühen Jahren – angeregt
allerdings vor allem von Eltern, Verwandten und Freunden, die an
Hypotheken und Windelwaschdienste gekettet waren –, aber wir
wollten nichts überstürzen, schon gar nicht in dieser Welt, die in
die ökologische, finanzielle und mikrobische Katastrophe taumelte.
Das Projekt lag vorläufig auf Eis.
Ich wählte ihre Nummer und kriegte auch
nur ihr Tonband. Ich wartete drei Strophen von »Auf nun, ihr
christlichen Streiter« ab – ihr Schabernack der Woche –, ehe ich
meine Nachricht hinterlassen konnte, die im Prinzip lautete: »Ich
hab angerufen, ruf mich an.« Ich grübelte gerade noch über einem
witzigen Schnörkel, als sie abhob: »Peter?«
»Nein, hier ist Liberace, auferstanden von
den Toten.«
»Hast du das von den Fröschen
gehört?«
»Ich hab das von den Fröschen gehört. Hast
du von meinem Rücken gehört?«
»Was hat Jerry denn gesagt?«
»Ich soll viel schlafen und viel
Flüssigkeit zu mir nehmen.«
Sie lachte am anderen Ende der Leitung,
ein Gurgeln und Japsen wie das Todesröcheln eines alten Pferds mit
Lungenemphysem – ihre ganz persönliche Lache. »Na, dann scheint’s
ja nicht so schlimm zu sein«, sagte sie, wobei das Gurgeln und
Röcheln eine Oktave höher kletterte und dann abrupt abbrach.
Ich hatte zwei Tage zuvor eine Kiste mit
alten Lehrbüchern in den Keller geschleppt und mir dabei alles
gezerrt, was man sich im menschlichen Rücken zerren kann – dabei
hatte ich mich ernstlich gefragt, ob ich das noch nie gelesene
Exemplar der Landwirtschaft Korsikas von 800 v.Chr. bis
heute wirklich aufheben mußte. »Nicht so schlimm für dich
vielleicht«, sagte ich. »Oder für Jerry. Aber ich kann mich nicht
mal bücken, um mir die Schuhe zu binden.«
»Ich werd dir ein paar Slipper
besorgen.«
»Du verwöhnst mich. Wirklich. Aber bitte
aus Froschhaut, ja?«
Sie schwieg eine Zeitlang. »Das ist nicht
lustig«, sagte sie dann. »Frösche, Kröten und Salamander sind
lebenswichtig für die Nahrungskette – wehe, du machst jetzt Witze
über Froschschenkel –, und jetzt verschwinden sie einfach. Keiner
weiß, was mit ihnen passiert. Puff.«
Ich überdachte das eine Weile:
verschwindende Frösche, insbesondere in bezug auf meinen pochenden
und quälenden Rücken. Ich stellte sie mir vor – fett, langbeinig,
hervorquellende Augen und glitschige Haut. Ich erinnerte mich, wie
ich sie als Junge gejagt hatte, mit stumpfem Pfeil und schlaff
gespanntem Bogen, erinnerte mich an das Quaken der Laubfrösche im
Frühling und an ihre plumpen Fluchtversuche, die Gliedmaßen völlig
verklebt mit langen Fäden von Laich. Frösche. Auf einmal wurde ich
nostalgisch: Was wäre die Welt ohne sie?
»Ich hoffe, du hast fürs Wochenende noch
nichts vor«, sagte Adriana.
»Was sollte ich vorhaben?« fragte ich
vorsichtig, denn ich verspürte durch die dünne Schicht aus
Muskelfasern und Haut ein warnendes Zucken in der Wirbelsäule.
»Wieso?«
»Ich habe die Tickets schon
reserviert.«
Mein eigenes Atemgeräusch rasselte in
meinem Ohr. Nachfragen würde ich bestimmt nicht. Ich holte tief
Luft und hielt den Atem an, stoisch auf die Auflösung des Rätsels
wartend.
»Wir fahren zu einem Vortrag an der New
York University – auf die Sechste Internationale Jahreskonferenz
über Herpetologie und Batrachiologie...«
Ich hätte nicht nachfragen dürfen, tat es
aber dennoch: »Über was?«
»Schlangen und Frösche«, sagte sie.
Samstag früh nahmen wir den Zug nach
Manhattan. Ich hatte ein Buch als Reiselektüre dabei – einen
uralten zerfledderten Band mit dem Titel Das Buch vom
Frosch, den ich im hintersten Winkel der völlig geplünderten
Abteilung für Frösche und Kröten in unserer Bücherei entdeckt
hatte. Staunend betrachtete ich die vielen leeren Regale und fragte
mich, was sie für die betroffenen Gattungen und Arten bedeuteten.
Offenbar war Adriana nicht die einzige, die sich um den Eilmarsch
der Frösche in den Untergang sorgte – entweder das, oder die
sechste Klasse mußte eine Arbeit über Amphibien schreiben.
Überzeugt war ich nicht, aber ich lieh mir das Buch auf jeden Fall
aus.
Mein Rücken hatte sich etwas gebessert –
unten verspannt, oben verkrampft, aber nichts gegen die
schneidenden Schmerzen, die ich ein paar Tage zuvor hatte ertragen
müssen. Vorbeugend hatte ich ein Kunstlederkissen mitgenommen, um
meine geschundenen Wirbel gegen das Rucken und Schaukeln des
Pendlerzugs zu wappnen. Adriana lümmelte neben mir, die langen
Beine übereinandergeschlagen, den Kopf konzentriert über
Mansfield Park gesenkt, das sie nach eigener Berechnung
schon zum dreiundzwanzigstenmal wiederlas. Sie gab am Bard College
einen Kurs über Jane Austens Romanwerk, aber ich hatte noch nie
verstehen können, wie sie es aushielt, immer wieder die gleichen
Bücher zu lesen, Semester für Semester, Jahr für Jahr. Es war wie
eine Zuchthausstrafe.
»Ist das wirklich das dreiundzwanzigste
Mal?«
Sie blickte auf. In ihren Augen
schimmerten die Spuren einer ausgestorbenen Welt. »Das
vierundzwanzigste.«
»Hast du nicht gesagt, es sei das
dreiundzwanzigste?«
»Wiederlesen. Das erste, ursprüngliche
Lesen zählt ja nicht als Wiederlesen. So wie der Geburtstag – du
lebst ein Jahr, bevor du deinen ersten feierst.«
Ihre Logik war unwiderlegbar. Ich starrte
auf die weite graue Fläche des froschlosen Hudson hinaus und wandte
mich dann meinem eigenen Buch zu: Der explosive Ruf des
Pfeiferfrosches ertönt im seichten Wasser; von irgendwoher kommt
das schnurrende Trillern der »Baumkröte«, von wo genau, ist nicht
zu orten. Doch horchet wohl! Das Lied dieses Lurches erklingt aus
weiter Ferne und ist süßer als alles andere, ausgenommen vielleicht
den Zweiton-Frühlingsruf der Blaumeise. Nie hätten wir geglaubt,
daß eine Kröte solche Laute hervorbringt, hätten wir es nicht an
jenem ersten Tag im Mai selbst gesehen und gehört. Ich las vom
Liebesleben der Kröten, bis wir an der 97. Straße in die Dunkelheit
des Tunnels eintauchten, dann gönnte ich meinen Augen Ruhe. Früher
hätten Adriana und ich die ganze Zeit lang geistreiche Bemerkungen
ausgetauscht und ätzende Porträts unserer Mitreisenden erstellt,
aber jetzt mußten wir nicht reden, nicht unbedingt. Wir waren über
das Reden hinaus.
Es hätte einer dieser goldenen,
ätherischen Frühlingsmorgen sein können, erfüllt von der Wärme und
dem Drängen der Jahreszeit, von schwirrenden Bienen, sich öffnenden
Knospen und herrlicher, lauer Luft, aber es war keiner. Wir fuhren
im Taxi durch peitschenden Winterregen und gingen bibbernd die
Treppe hinauf in den zweiten Stock und in einen zugigen
Vortragssaal, wo ein Mann mit Halbglatze und Rollkragenpullover
über die Häutungsgewohnheiten der Sumatra-Riesenkröte dozierte. Ich
war gut gelaunt – Frösche und Kröten: damit konnte ich sie einen
ganzen Monat lang aufziehen, vielleicht sogar zwei – und stupste
Adriana im Lauf der nächsten zwei sterbensöden Stunden immer wieder
in die Rippen. Wir hörten eine Abhandlung über Anatomie und
Ernährung von Discoglossus nigriventer, des schwarzbäuchigen
Scheibenzünglers aus Israel, und eine weitere über die chemische
Zusammensetzung des vom costaricanischen Pfeilgiftfrosch
sezernierten Toxins, aber nichts über die Aussichten dieser Wesen,
das nächste Jahrzehnt zu überdauern. Adriana zog sich ihre grüne
Baskenmütze über die Augen. Ich ertappte sie dabei, wie sie ein
Gähnen unterdrückte. Nach einer Weile wurden auch mir die Lider
schwer.
Es folgte trockener, knapper Applaus, als
der Pfeilgift-Experte vom Podium ging, was mich aus einem Morast
von trüben Träumen riß. Ich erhob mich und klatschte matt. Gerade
beugte ich mich zu Adriana hinüber, auf den Lippen die Worte Dim
sum, ein Begriff, der sie unweigerlich in Aktion bringen mußte
– immerhin war es nach eins, und wir hatten noch nichts gegessen –,
als ein wilder Typ mit blonden Dreadlocks und einer getönten Brille
das Mikrophon packte. »Hallo allerseits«, grüßte er. Die heisere,
tonlose Stimme knisterte in den Lautsprechern, und ein seltsames
Lächeln huschte über seine Lippen. Unter dem zerknitterten
Regenmantel trug er ein T-Shirt, auf dem eine gigantische Kröte
gerade ein Insekt vertilgte. Im Programm war er als B. Reid von der
Universität Berkeley aufgeführt. Eine lange Weile stand er einfach
nur am Pult, verharrte vor dem Mikrophon, fixierte uns mit dem
leeren Starren seiner blaugetönten Gläser.
Jemand hüstelte. Im Saal war es so still,
daß ich das ferne Rauschen des Regens hören konnte.
»Wir hatten heute die Ehre, einige
durchaus provokante und animierende Thesen zu hören«, begann B.
Reid, ohne außer den Lippen einen einzigen Muskel zu bewegen. »Es
waren Vorträge, die sich auf brillante Weise mit der gewissenhaften
Detailforschung auseinandersetzten, die so wichtig für unsere
Wissenschaft und unseren Erkenntnisfortschritt ist, und ich möchte
den Professoren Abercrombie und Wouzatslav für ihre gute Arbeit
auch herzlich danken, doch zugleich frage ich Sie alle: Wird es
eine Siebente Internationale Jahreskonferenz über Herpetologie und
Batrachiologie geben? Oder eine achte? Wird es diese
Forschungsrichtung, wird es Batrachiologen geben? Meine Damen und
Herren, wozu hier eine Charade spielen: Wird es noch Frösche
geben?«
Gemurmel kam auf. Die Dame neben mir,
massig und selbst von eher amphibischem Aussehen, rutschte nervös
auf ihrem Sitz hin und her. Meine Lendenwirbelsäule meldete sich
mit einem fernen Schmerz, und ich spürte, wie sich mir die
Nackenhaare aufstellten: dafür waren wir hergekommen.
»Kamerun«, sagte B. Reid, und seine Stimme
raschelte wie totes Laub, »Ecuador, Borneo, die Anden und die
Alpen: wohin man sieht, überall verschwinden die Frösche und
Kröten, ausgerottet wie durch eine Pest, und unser Planet wird
dadurch ärmer und ärmlicher. Und woran liegt das? Was haben wir
getan? Der saure Regen? Die Ozonschicht? Irgendein Gift, das wir
noch gar nicht benannt haben? Meine Damen und Herren«, schnarrte
er, »heute die Froschlurche und morgen die Biologen... ehe wir’s
uns versehen, sind die Kaufhäuser leer, die Schnellstraßen
verlassen, die Bäche und Teiche und Sümpfe für immer stumm. Wir
alle begehen Selbstmord!« schrie er und ließ seine Dreadlocks
medusisch herumwirbeln, daß sie ihm wie Schlangen um den Kopf
flogen. »Wir sind verdammt, verstehen Sie?«
Die Zuhörer waren wie gebannt. Keiner
brachte ein Wort hervor. Ich wagte nicht, Adriana anzusehen.
Dann wurde er wieder leiser. »Bufo
canorus«, sagte er, und der Name klang wie ein Gebet, ein
Abschiedsgruß, ein Nachruf. »Sie alle kennen meine Studie aus dem
Yosemite Valley. Sechs Jahre habe ich investiert, sechs Jahre lang
habe ich im Schlamm gehockt, Sumpfgas eingeatmet und gegen
Blutegel, Zecken und all das andere Viehzeug gekämpft, und was
hatte ich davon? Was hatte die Yosemite-Kröte davon? Ganz einfach
ausgestorben ist sie. Sie ist weg. Ausgelöscht, weggewischt vom
Antlitz der Erde.« Er hielt inne, wie um seine Kräfte zu sammeln.
»Und was ist mit Richard Wassersugs Albino-Leopardenfröschen in
Nova Scotia? Weiße Kaulquappen. Etwas Einmaliges. Was für eine
enorme Mutation war das?« Seine Stimme bohrte sich durch die
Lautsprecher, rauh vor Leidenschaft und weithin schallend wie
Totenglocken. »Ich sage es Ihnen: eine tödliche. Ein Jahr später
waren sie ausgestorben.«
Mein Gesicht brannte. Plötzlich fühlte
sich mein Rücken an, als würden Feuerameisen darüberkrabbeln, wie
versengt von siedendem Regen, festgezurrt zu einem brennenden
Lasso. Ich sah zu Adriana, und ihre Augen blickten wild, wie in
Panik, ein dünnes Netz von Venen auf einer weißen Fläche. Wir waren
nur so aus Spaß hergekommen, und jetzt glotzte uns auf einmal die
nackte Wahrheit unserer eigenen Sterblichkeit ins Gesicht. Ich
wollte aufschreien im Namen der Frösche, Kröten und Salamander,
meines eigenen bindungslosen und entwurzelten Ichs.
Aber es war noch nicht vorbei. B. Reid
verzerrte das Gesicht, warf den Kopf zurück und stieß die Hand tief
in eine Manteltasche; im nächsten Moment reckte er die geballte
Faust in die Luft. Ich erhaschte einen Blick auf etwas Dunkles,
Lederartiges in seiner Hand, ein Stück Pökelfleisch, totes Gewebe,
aus dem alle Vitalität gewichen war. »Das costaricanische
Goldfröschchen«, schrie er laut und anklagend, »es ruhe in
Frieden!«
Die Frau neben mir stöhnte. Weiter hinten
im Saal erklang ein Schrei. Stuhlbeine kratzten über den Boden,
während die Leute aufsprangen.
B. Reid griff in seine Brusttasche und
schwenkte einen weiteren Kadaver. »Atelopus zeteki, die
peruanische Stummelfußkröte, sie ruhe in Frieden!«
Wehklagen und Gewimmer.
»Rana marinus, er ruhe in Frieden!
Der Gambia-Riedfrosch, er ruhe in Frieden!«
B. Reid hielt die leblosen Leiber hoch,
als wollte er Dämonen austreiben. Seine Stimme verklang zur
Lautlosigkeit. Langsam, schmerzverzerrt schüttelte er den Kopf, so
daß seine verdrillten Locken wie ein Bahrtuch in sein Gesicht
hingen. »Ihre Reisen nach Costa Rica, nach Peru oder Gambia können
Sie stornieren, es lohnt sich nicht«, sagte er schließlich, während
die Klagelaute im Saal allmählich abebbten. »Dies« – hier
überschlug sich seine Stimme – »sind die letzten Exemplare.«
Der folgende Tag war der Geburtstag
meiner Schwester, und ich hatte sie, Jerry und die Kinder bei mir
zum Abendessen eingeladen, auch wenn ich nach B. Reids Referat
keine rechte Lust zum Kochen verspürte. Seine ersterbende
Raspelstimme, die durch den Vortragssaal gehallt hatte wie durch
eine Todeszelle, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Stumm und
benommen – immerhin hatten sich in diesen scheußlichen
Froschfleischklumpen unsere schlimmsten Ängste konkretisiert – war
ich mit Adriana gleich nach seiner Rede gegangen; wir hatten uns
einen Weg durch das Gedränge der gerührten Wissenschaftler und
betrübten Krötenfreunde hinaus in den Regen gebahnt. Die Welt roch
nach Petroleum, Säure und Schwefel, die Bäume waren krumm und
verkrüppelt, in den Straßen brodelte die häßliche, gedankenlose
Menschheit. Wir nahmen ein Taxi direkt zur Grand Central Station.
Nach dem, was wir durchgemacht hatten, fehlte uns beiden die Kraft
zum Mittagessen, und so saßen wir die ganze Rückfahrt hindurch
schweigend im Abteil. Adriana hielt Jane Austen an die Brust
gedrückt, ich drehte mein Buch der Frösche wieder und wieder
in den Händen herum. Jedes Ruckeln und Rumpeln der Hudson Line
trieb mir einen brennenden Pfahl in die Lendenwirbelsäule.
Am nächsten Morgen überlegte ich, ob ich
Charlene anrufen sollte, um ihr zu sagen, daß ich krank war, aber
ich hatte Schuldgefühle: warum meiner Schwester den Geburtstag
ruinieren, nur weil der ganze Planet über den Jordan ging? Als
Adriana um zehn mit drei großen Supermarkttüten kam, als wäre
nichts passiert, schluckte ich zwei Aspirin, band mir eine Schürze
um und fing an, Kichererbsen zu zermahlen.
Alles in allem war es ein lustiger
Nachmittag. Draußen prasselte der Regen, und wir zündeten im
Eßzimmer den Kamin an und ließen beim Kochen die Tür offen. Adriana
stellte im Radio Kammermusik ein, und wir tranken eine Flasche
Wein, während sie den Teig für Fladenbrot knetete und Zwiebeln
kleinhackte. Wir plauderten über Belangloses – Frank Sinatras Haar,
ob Tomatenpüree besser war als vorgekochte ganze Tomaten, über die
Scheidungen unserer Freunde, die Fusseln in der Wäsche –, wobei wir
die schmerzlichen Fragen, die an uns nagten, möglichst umschifften.
Es war sehr angenehm. Ruhig. Heimelig. Der Wein verschwor sich mit
dem Aspirin, und nach einer Weile löste sich der Knoten in meinem
Rücken.
Jerry, Charlene und die Kinder waren etwas
früh dran, und ich servierte Hummus und Fladenbrot, während Adriana
noch Ziegenfleisch in der großen gußeisernen schwarzen Pfanne
schmorte, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Wir waren gerade
bei unserem zweiten Drink – Jay und Nayeli, mein Neffe und meine
Nichte, saßen draußen auf der Veranda und fingen das Eiswasser auf,
das aus der Regenrinne tropfte –, da warf sich Adriana auf den
Stuhl gegenüber Jerry und verkündete mit markerschütternder Stimme
das Aussterben der Frösche.
Diese Tatsache schien ihn ziemlich zu
überraschen. Er und Charlene erzählten mir gerade die halb ernste,
halb komische Geschichte ihres Segelboots, das sie bis dato an die
$16000 pro Stunde auf See gekostet hatte und mit dem er, Jerry, auf
der Jungfernfahrt gleich außerhalb des Yachthafens in ein
wesentlich größeres Schiff gekracht war. Jetzt hielten sie beide
den Atem an und sahen Adriana an. Jerry ordnete sein Lächeln neu.
»Was hast du gesagt?«
Adriana roch nach Ziegenfleisch und
Knoblauch. Sie war schlaksig und hatte lange, schön geformte Füße,
große Augen und Gliedmaßen wie eine Statue. Sie richtete sich auf
der Stuhlkante auf und versuchte zu lächeln. »Die Frösche«, sagte
sie. »Und die Kröten. Irgendwas bringt sie um, auf der ganzen Welt,
von Alaska bis nach Afrika. Wir sind gestern bei einem Vortrag
gewesen, Peter und ich.«
»Frösche?« wiederholte Jerry nachdenklich
und strich sich über den Nasenrücken. Sein Lächeln, das sich jetzt
ganz entfaltet hatte, war eine Augenweide. Meine Schwester, die um
die Augen und die Nase unserer verstorbenen Mutter ähnelte, stieß
ein leises, belustigtes Quietschen aus.
Adriana wirkte unsicher. Sie ließ eine
Kurzversion ihres Pferdegelächters ertönen und wandte sich
hilfesuchend mir zu.
»Das ist kein Witz«, sagte ich. »Wir reden
hier von aussterbenden Arten.«
»Da war dieser Mann«, fuhr Adriana fort,
hastig und überstürzt, »ein Biologe auf der Konferenz gestern, B.
Reid – aus Berkeley –, und der zog lauter vertrocknete Frösche aus
der Tasche... das war scheußlich...«
Ich hörte den Regen aufs Dach prasseln,
kalt und unzeitgemäß. Nayeli rief etwas von der Terrasse. Das Feuer
knisterte im Ofen. Ich merkte, daß wir es nicht so richtig
hinkriegten: mein Schwager, der Arzt, machte sich auf dem kleinen
Rezeptblock in seinem Kopf bereits eine kurze Notiz über unseren
Geisteszustand. Weshalb erzählten wir ihm das alles? Sollte er, der
permanente Spaßvogel, der nicht einmal gegen meinen Hexenschuß
ankam, sich etwa mit dem Verlust der Biosphäre auseinandersetzen,
mit dem ewigen Tod und der Verwandlung allen Lebens, wie wir es
kannten?
Nein, das würde er nicht.
»Ihr meint das im Ernst, was?« fragte er
nach einer Weile. »Ihr glaubt wirklich an diese ganze
Umwelthysterie.« Er ließ das Lächeln verschwinden und setzte dafür
den Amputationsblick auf. »Peter, Adriana«, sagte er und zog dabei
die Silben auf zutiefst pädagogische Art in die Länge, »der Kampf
zwischen den Arten ist etwas völlig Normales, den hat es von Anfang
an gegeben. Das Aussterben ist ganz natürlich: Keine Spezies kann
erwarten, für immer zu leben. Nicht mal der Mensch. Die Lage ändert
sich.« Er wedelte mit der Hand und lachte dann, machte einen Scherz
daraus. »Wenn dieses Wetter nicht aufhört, dann steht uns bald eine
neue Eiszeit ins Haus, und was werden eure Frösche dann
anfangen?«
»Darum geht’s doch nicht«, sagte
ich.
»Was ist mit den Dinosauriern, Peter?«
fragte Charlene. »Oder mit den Mammuts?«
»Ganz zu schweigen von Schlangensalben und
Aderlaß.« Jerrys Lächeln war nun wieder da. Er beherrschte die
Lage. Mit der Welt war es zum besten bestellt. »Alles bewegt sich
voran, die Dinge entwickeln und verändern sich – wieso soll man
über etwas Tränen vergießen, das man doch nicht ändern kann, über
irgendein Märchenparadies, das die meisten dieser Umweltfanatiker
gar nicht kennen? Was aber nicht heißen soll, daß ich nicht mit
euch einer Meinung bin –«
»Mein Gott!« rief Adriana und sprang vom
Stuhl, als stünde sie unter Strom. »Die Ziege!«
Spätabends, als alle nach Hause gegangen
waren – sogar Adriana, obwohl sie sich an der Tür sehr sinnlich
gegeben hatte und vermutlich über Nacht geblieben wäre, wenn ich
mehr Enthusiasmus gezeigt hätte –, machte ich es mir mit der
Zeitung im Sessel bequem und versuchte, den Kopf von allem zu
leeren: totale Läuterung, Tabula rasa. Ich fühlte mich kraftlos,
einsam, ein Klumpen aus Fleisch, Organen und Knochen, der
unausweichlich auf das Grab zuglitt, zusammen mit meinen entfernten
Verwandten, den Fröschen und Kröten. Es regnete immer noch. Kälte
breitete sich im Zimmer aus, und ich sah, daß das Feuer
niedergebrannt war. In meinem Rücken zog es, als ich mit dem
Hintern herumrutschte, um das Heizkissen zurechtzurücken, dann fing
ich an zu lesen. Für den Krieg im Nahen Osten, Aids unter
Obdachlosen oder die Todesanzeigen fehlte mir der Nerv, deshalb
blieb ich bei den Filmbesprechungen und den kuriosen Meldungen aus
aller Welt.
Es war schon spät, mein Geist war
wohltuend betäubt, und ich wollte gerade das Licht ausschalten und
mich ins Bett fallen lassen, als ich den Wissenschaftsteil
aufschlug. Eine Schlagzeile stach mir ins Auge:
KEIMENDE
HOFFNUNG NACH ENTDECKUNG
NEUER ARTEN IM SCHLICK VOR DER KÜSTE
NEUER ARTEN IM SCHLICK VOR DER KÜSTE
Was sollte das? Ich las weiter und
stellte fest, daß die keimende Hoffnung sich auf das unerwartete
Auftauchen von Röhrenwürmern, Scheidenmuscheln und diversen
Bakterien in einem bisher toten Abschnitt des Hudsonbeckens bezog,
das schon seit Ewigkeiten als Müllkippe für New Yorks Klärschlamm
und Abwässer diente. Dort unten, tief in den uralten Schichten des
Schlicks, unter den plätschernden Wellen, in denen sich kein
einziger Fisch tummelte, dort gab es Leben, das in einem neuen
Medium sproß und gedieh. Was für eine Hoffnung. Was für eine
prächtige, erhebende Neuigkeit.
Röhrenwürmer. Die machten wohl
Witze.
Nach einer Weile faltete ich die Zeitung
zusammen, suchte nach meinen Hausschuhen und nahm diese großartige
keimende Hoffnung mit ins Bett.
Die folgende Woche war ebenso schlimm
und brutal wie die Woche davor. Die Arbeit war tödlich (zum
Geldverdienen verschob ich Ziffern auf einem Bildschirm, und nie
zuvor waren sie mir so sinnlos erschienen), mein Rücken durchlief
täglich ein halbes dutzendmal den Zyklus aus stechendem Schmerz und
völliger Taubheit, und das naßkalte Wetter ließ nicht nach, nicht
eine einzige Stunde lang. Die Wolken hingen tief und blauschwarz am
Himmel, es fiel eisiger Regen. Nach der Arbeit ging ich immer
direkt nach Hause und nahm abends nie das Telefon ab, obwohl ich
wußte, daß es Adriana war. Die ganze Woche dachte ich an Frösche
und an den Tod.
Und dann, am Samstag, weckten mich ins
Zimmer strömendes Licht und eine unerwartete scharfe Wahrnehmung
der Welt, klar und deutlich wie ein Duft. Ich setzte mich auf.
Meine Füße fanden den Boden. Nackt und zitternd tappte ich durch
das Schlafzimmer ans Fenster, wo ich, mit der Schnur der gleißenden
Jalousien in der Hand, reglos verharrte, während der
Wetterumschwung an den langen Rückenmuskeln in meiner Lendengegend
zerrte. Dann zog ich an der Schnur, strahlendes Licht drang ins
Zimmer, und im nächsten Augenblick stieß ich das Fenster auf.
Die Luft war schwanger, üppig, gesättigt
vom Duft der Erneuerung und dem durchdringenden Summen der Bienen.
Das Trübsalblasen, die Ängste, der benennbare Schrecken und die
namenlose Leere: alles verflüchtigte sich im Angesicht dieses
Hosiannas von einem Morgen. Ich fühlte mich wie der mufflige
Geizhals, dem an Weihnachten das Herz aufgeht, wie der
wiederbelebte Lazarus, wie Alexander beim Marsch durch Thrakien.
Ich riß alle Fenster im Haus auf, aß ein Brötchen, las die Zeitung,
legte mir zu diesem triumphalen Tagesanbruch den grandiosen Johann
Sebastian Bach auf. Es war schwindelerregend, aber es hielt nicht
an. Irgendwann, unausweichlich, wie eine Krankheit, schlichen sich
die Frösche und Kröten erneut in meine Gedanken, und gegen zehn Uhr
war ich wieder ein ganz normaler Sterblicher mit Rückenschmerzen,
der allmählich in seinen Alltag sank.
In diesem Moment, auf der Sohle dieses
Tals, hatte ich eine Eingebung. Der Kaffee in der Tasse war kalt,
die Zeitung zerknittert, Bach von der Tyrannei des Tonarms zum
Schweigen gebracht, da durchzuckte mich plötzlich eine Idee, und
ich schoß aus dem Küchenstuhl hoch wie eine Rakete. Der Impuls trug
mich bis zum Schlafzimmerschrank, wo ich meine Wanderschuhe, ein
Sweatshirt, meine Baseballmütze und die Jeansjacke hervorkramte,
dann weiter zum Medikamentenschrank, in dem ich nach der
Zeckenabwehrsalbe und einer alten Dose mit Insektenspray stöberte.
Dann wählte ich Adrianas Nummer.
»Adriana«, keuchte ich in den Hörer,
»Liebling, mein Schatz...«
Sie nuschelte undeutlich und verschlafen:
»Soll das ein obszöner Anruf sein?«
»Ich weiß, ich bin in letzter Zeit
ziemlich trübsinnig gewesen...«
»Ganz zu schweigen davon, daß du nicht ans
Telefon gehst.«
»Ich geb’s ja zu, ich geb’s ja zu. Aber
hast du heute schon mal aus dem Fenster gesehen?«
Hatte sie nicht. Sie lag noch im
Bett.
»Also, ich denke mir folgendes: Wiese
sollten wir B. Reid einfach glauben? Wieso sollten wir irgendwem
blind glauben?«
Ich wußte nicht, wo ich mit der Suche
nach der scheuen Kröte Bufo americanus anfangen sollte, ganz
zu schweigen von Laub- und Leopardenfrosch, aber ich war gepackt
von dem Wunsch, sie alle kennenzulernen, ihre feisten Glieder
anzufassen und ihre unbeholfenen Rituale zu beobachten, am Brodeln
des Lebens in Tümpel, Teich und Pfütze wieder teilzuhaben und
wenigstens vorübergehend die quälende Erinnerung an B. Reid und
seine winzigen Krötenleichen beiseite zu schieben. Es war
irrational, das wußte ich, aber ich dachte, wenn ich sie nur ein
einziges Mal sehen und mich so vergewissern könnte, daß sie ihre
bescheidene Nische in der Hierarchie des Daseins besetzten, würde
alles wieder gut.
Wir parkten an der Autobahn und stapften
planlos durch den Straßengraben daneben, ohne auf ein Zeichen von
Leben zu stoßen. Das alte Schilfrohr war spitz und brüchig, und
überall lag Styropor, Glas und Aluminium herum. LKWs saugten uns
die Luft aus den Lungen, Teenager grölten. Adriana hielt auf einen
vielversprechend aussehenden Tümpel am anderen Ende des zerfurchten
Parkplatzes am Bahnhof von Garrison zu, doch dort fanden wir nichts
als aufgeweichte Kaugummifolien und Kartoffelchipstüten, die von
Stahlgürtelreifen fest in den Dreck gepreßt waren. »Wir dürfen
nicht aufgeben«, sagte sie mit einem kaum merklichen Anflug von
Verzweiflung. »Was ist mit dem Wald beim Appalachian Trail? Du
weißt doch, drüben beim Supermarkt, wo der Wanderweg die Straße
überquert?«
»Na gut«, sagte ich, und das Fieber hatte
mich erfaßt, »versuchen wir’s.«
Zwanzig Minuten später waren wir im Wald,
die Sonne schien auf Stamm und Stumpf, zarte frische gelbgrüne
Blättchen entfalteten sich über uns, Vögel flatterten auf, als
hingen sie an Schnüren. Es lag ein Duft in der Luft, den ich
vergessen hatte, der schwere, feuchte Geruch nach Zerfall und neuem
Leben, nach Sporen und Pollen und Saat und Mulch. Insekten
umschwirrten mein Gesicht. Ich schwitzte. Doch dabei fühlte ich
mich gut, kräftig in den Beinen und im Rücken, befreit von der
dunklen Wolke, die die ganze Woche auf mir gelastet hatte, und
während ich Adriana auf der langen, langsamen Steigung des Weges
folgte, schien es mir, als hätte ich noch nie ein größeres Wunder
gesehen als die Muskulatur ihrer Oberschenkel und ihres Hinterns,
die sich im festen Griff ihrer Jeans straffte und entspannte. Das
war Natur.
Wir waren gut einen Kilometer weit
gegangen, als sie abrupt mitten auf dem Weg stehenblieb. »Was ist
los?« fragte ich, aber sie bedeutete mir, ich solle still sein. Ich
schob mich vor, bis ich neben ihr stand. Mein Puls raste, mein Atem
stockte. »Was?« flüsterte ich. »Was ist denn?«
»Horch!«
Anfangs hörte ich es nicht, weil meine
Ohren auf die Zivilisation eingestimmt waren – das Gekrächze von
Fernseher und Hi-Fi-Anlage, das Heulen von Verbrennungsmotoren –,
dann aber begann der Wald zu mir zu sprechen. Zunächst waren die
Geräusche verworren, doch nach einer Weile zerfielen sie in lauter
Einzelstimmen: hauchzartes Geraschel und Geknister, die schrillen
Dispute der Vögel, das Plätschern von fließendem Wasser – und noch
etwas anderes, etwas zugleich Seltsames und Vertrautes, ein
zirpendes, gurgelndes Glucksen, das sich, kräftig und vielstimmig,
nicht weit von uns erhob. Adriana wandte sich mir zu und
grinste.
Auf einmal hatten wir es schrecklich
eilig, stürmten atemlos durch frostgeschwärztes Unterholz und
spitze, dornige Sträucher, vom Wege ab und hinein in den Schlund
einer dunklen, glitschigen Schlucht. Ich dachte an gar nichts. B.
Reid, Jerry, Bandscheibenvorfälle, multiple Brüche, das
schwachgrüne Glühen des Computermonitors: nichts. Wir bewegten uns
mit der fließenden Eleganz von Ballett-Tänzern, die natürlichste
Sache der Welt, duckten uns und huschten mal nach rechts, mal nach
links, tauchten unter diesem Hindernis weg, flankten über jenes,
durchquerten das Gestrüpp ebenso mühelos, wie wir den Perlenvorhang
eines Chinarestaurants geteilt hätten. Und als wir näher kamen,
schwoll dieser Ton, dieses Trillern, dieser wüste und heitere
Lobgesang auf das Leben rings um uns an, bis alle unsere Zellen und
Fasern zu vibrieren schienen. »Da!« rief Adriana plötzlich. »Da
drüben!«
Ich sah es im selben Moment: die seichte
kleine Fläche eines Tümpels, durch das Geflecht der Stämme
schimmernd. Das Wasser reflektierte nichts, es war tintenschwarz
unter der buttergelben Sonne und randvoll mit totem Astwerk. Ich
nahm Bewegung wahr, und der glucksende Chor erhob sich bis zu den
Wipfeln, jedes junge Blatt erbebte an seinem Zweig. Gleichzeitig
erreichte mich der Geruch, ein organischer Duft, scharf und süß und
reif. Ich nahm Adriana bei der Hand, und wir gingen wie in Trance
auf das Wasser zu.
Wir waren schon bis zu den Knöcheln drin,
unsere Schuhe völlig vollgesogen, als der Tümpel plötzlich
verstummte – alle Kröten im selben Atemzug, im selben Moment, als
hätte ein Dirigent den Taktstock fallen gelassen. Und da sahen wir,
daß das Wasser gar keine Oberfläche hatte, daß es eine Wiese aus
Fleisch war, eine gewaltige, unendliche Krötenvereinigung. Vor
unseren Augen nahmen sie Gestalt an, Stummelbeinchen und verkürzte
Leiber, die übereinanderkrabbelten und herumpurzelten wie Äpfel in
einem Korb. Da waren sie – Kröten, unzählige Kröten –, rammelten
blind drauflos in einem Gewirr aus Schwimmhäuten und blubbernden
Mäulern, rammelten in Stapeln von drei bis vier Tieren
übereinander. Ihre Eier waren überall, perlenschnurartig und
glitzernd vom Schleim des Lebens, und in ihren tausend Augen
blitzte die Lust. Wir konnten förmlich hören, wie sie nacheinander
grabschten und dabei knurrten, und wußten nicht, was wir tun
sollten. Und dann hob eine einzelne Kröte am Rande des Tümpels mit
ihrem dünnen gurgelnden Glucksen an, und im nächsten Moment waren
wir vergessen, und die ganze wuselnde Masse nahm den Ruf auf; es
war schaurig schön und durch und durch wild.
Adriana sah mich an, und ich konnte mich
nicht beherrschen: ich warf mich in ihre Arme. Über Vernunft oder
Zweifel war ich längst hinweg, und was tat es schon? Sie wich vor
mir zurück, nur ein kurzes Stück, watete durch das brodelnde Wasser
und mitten zwischen die quakenden Kröten, dabei zog sie die Bluse
und den schwarzen Spitzen-BH darunter aus. Sie sah mir unverwandt
in die Augen, trat noch einen Schritt zurück und warf die Sachen
einfach zu Boden, in den feuchten Dreck am Rande des Tümpels, und
ließ sich dann nach unten sinken, wie in ein Nest. So etwas hatte
ich noch nie gesehen. Ich zog die Jeansjacke aus, riß mir das Hemd
vom Leib und schleuderte die Baseballkappe ins Nichts. Und als ich
mich auf sie stürzte, hüpften alle Kröten um ihr Leben.