DER NIKOLAUS IST AUCH NUR EINE MUTTER
Im Kindergarten unseres ältesten Sohnes wurde ich eines Tages mit dem Amt des Protokollschreibers betraut. Das ist nach meiner Erfahrung eine höchst glückliche Position, da sie verhindert, dass sich nach einem langen Arbeits-Kinder-Tag während eines Elternabends still und heimlich die Konzentration davonschleicht – der Protokollant hat sozusagen eine sich selbst wach haltende Funktion. Er darf nicht wegnicken, auch wenn die Themen noch so verlockend sind. Und wenn er etwas nicht versteht, darf er als Einziger zum klärenden Zwischenruf greifen: »Leute, nur noch mal fürs Protokoll: Also, was jetzt? Kuchen oder Kekse?« Leider bin ich den schönen Posten dann doch wieder losgeworden; eine Erzieherin trat an mich heran und bat mich, den Ton der Protokolle – schließlich würden diese im Vereinsarchiv für die Nachwelt archiviert – bitte weniger humoristisch zu halten. Wieso humoristisch?, fragte ich zurück. »Na ja«, erwiderte sie, »allein die Sache mit dem Nikolaus.«
Nun brauche ich an dieser Stelle kaum erwähnen, dass ich mir keiner Schuld bewusst war. Die Sache mit dem Nikolaus hatte ich gar nicht humoristisch motiviert ins Protokoll gehoben, vielmehr habe ich nur die Wahrheit dokumentiert: »Der Nikolaus«, so hieß es in dem inkriminierten Textdokument aus meiner Hand, »kommt auch in diesem Jahr wieder.« So weit, so gut. Und wohl auch nicht anstößig. »Und es überrascht nicht, dass der Nikolaus auch in diesem Jahr wieder eine Frau ist.« Was bitte schön ist an dieser Notiz unseriös? Oder gar unbotmäßig humoristisch? Die Realität in deutschen Kindergärten sieht nun einmal vor, dass am Morgen des 6. Dezember der freundliche Heilige auch diesen Einrichtungen einen Besuch abstattet. Selten tritt er dabei selber in Erscheinung, aber zumeist klopft er gebieterisch an die Türe, hinter der dann ein Sack mit Leckereien liegt, sobald die Kinder sie öffnen. Höchstens – so im Fall unseres Kindergartens immer geschickt und auf die Sekunde genau inszeniert – sieht man die Gestalt mit dem roten Mantel noch um den Gartenzaun biegen. Und das alles geschieht so gegen neun Uhr, wenn die meisten Väter in diesem Land schon längst arbeiten. So also ist der Nikolaus – oder meinetwegen: die an die Tür klopfende oder um die Gartenecke verschwindende Gestalt, die wir verehren – eben eine Mutter, die nicht berufstätig ist und also Zeit für diesen Auftritt hat. Und das Jahr für Jahr. Was also bitte ist dann an der Formulierung »Und es überrascht nicht, dass der Nikolaus auch in diesem Jahr wieder eine Frau ist« unbotmäßig humoristisch? Dabei habe ich nicht einmal ins Protokoll geschrieben, dass ich den kindergärtlichen Nikolaus zwar selbst auch nur von hinten gesehen habe, aber doch überrascht war, wie gut in Schuss der alte Mann doch war – erstaunlich schlank und hochgewachsen, lange Beine, anmutig in der Bewegung und so, aber das gehört hier, glaube ich, nicht hin …
Stattdessen sollten wir bei der Frage bleiben, hinter welchen großen Gestalten unserer Zeit eigentlich noch eine Mutter steckt, ohne dass es die Kinder oder gar wir alle ahnen. Kommen wir zunächst zu den naheliegenden Figuren: Der Weihnachtsmann und das Christkind scheinen mir in aller Regel Mütter zu sein (Männer tauchen hier allenfalls als ausführende Organe auf, etwa wenn sie als verkleideter Weihnachtsmann auftreten, verständnislos blickend einem hingenuschelten Kindergedicht lauschen, mit erheblicher Mühe das richtige Geschenk aus dem Sack ziehen und die ganze Zeit nur hoffen, dass ihre wahre Identität nicht entdeckt wird – die Kinder tun ihnen ja meist den Gefallen …). Auch andere sagenhafte Gestalten sind weiblich. Ohne Frage etwa die Zahn-Fee, wohl auch die in einigen Regionen Deutschlands zu beobachtende Schnuller-Fee. Beide sind im weitesten Sinne im Tauschhandel tätig, da sie den Kindern zwar etwas überflüssig Gewordenes nehmen (Milchzahn, Saughilfe), ihnen im Gegenzug aber Spielzeug oder Leckereien zukommen lassen. Sie sind nicht auf persönlichen Gewinn aus, sondern handeln altruistisch. Also sind sie Mütter. Ebenso wie der Nikolaus.
Fassen wir zusammen: Mutterhände tun Gutes, auch wenn wir es nicht sehen – und noch mehr: selbst wenn wir eigentlich denken, es geschähe durch Männer (wie beim Nikolaus). Hinter allem steckt also eine kluge Mutter. Wenn dem so ist, dann ist Mutter also allgegenwärtig. Das hat selbstverständlich Konsequenzen. Positive wie negative. Bedenken wir zunächst Letztere, so betreten wir alsbald das weite Feld der Mutterkomplexe. Früher dachte ich, vor allem Männer hätten Mutterkomplexe. So Ödipus und andere Jungs, die in ihrer Familie die eine oder andere Unübersichtlichkeit erleben und deshalb ein bisschen verwirrt dreinschauen. Ohne dabei dem alten Griechen selbst zu nahe treten zu wollen, schienen mir diese Komplexe zumeist ein Vorrecht der Männer zu sein, die nicht besonders helle wirken (und dabei denke ich noch gar nicht mal an Till Schweiger). So meinte ich bislang. Inzwischen hege ich allerdings den Verdacht, dass tendenziell eher Frauen Mütterkomplexe haben. Wahrscheinlich gerade wegen der vielen guten Taten! Wer will schon die Tochter vom Nikolaus sein? Oder von der Zahn-Fee? Denn die Töchter dieser Mütter wollen selbstverständlich auch so viele gute Taten vollbringen, was sie (ihr Über-Ich oder ihr Es oder was auch immer) in einen immerwährenden Konflikt mit ihren Müttern treibt. Wir alle kennen solche Fälle. Wer sich als Mann in diese immerwährende Konfliktszenerie begibt, ist meines Erachtens entweder besonders mutig oder naiv. Meistens wohl beides.
Aber die allgegenwärtige gute Mutter hat selbstredend viel, viel mehr Vor- als Nachteile. Nicht nur die Mitmenschen, die ab und an mal einen Baum umarmen (wir sprachen schon darüber), nennen sie ja durchaus respektvoll »Mutter Erde«. Macht das Sinn? Ist unser Planet eine Mutter? Vieles spricht dafür. Ja – und auch das Schicksal als solches ist fraglos eine Mutter, wie sonst erklärt sich das Wesen dieser das gesamte menschliche Leben lenkenden Macht? Wie weit reicht die Macht der Mütter? Früher gab es mal diesen albernen Spruch: »Als Gott den Mann schuf, übte sie nur.« Viele Männer fanden den nicht so richtig lustig, auch wenn er – sagen wir einmal – eine gewisse sprachliche Raffinesse aufweist. Doch die vordergründige Belustigung versperrt uns vielleicht die Sicht auf die dahinter liegende Wahrheit; Humor hilft halt nicht immer weiter. Wenn es einen Gott gibt – und das bezweifelt ja nicht einmal der emanzipierte Spruch –, dann stellt sich doch nicht nur die Frage, ob Er ein Mann oder eine Frau ist. Es geht um die Attribute des Göttlichen. Dazu gehören bekanntermaßen Allmacht und Güte, Wissen und Liebe, vermutlich auch ein wenig Ausdauer und Geduld, und ich persönlich hätte auch nichts dagegen einzuwenden, sollte Gott noch gut aussehen und sich anmutig bewegen. Wenn dem wirklich so sein sollte, dann stellt sich schließlich die Frage aller Fragen, die zu beantworten uns Sterblichen fast nicht zuzumuten ist: Sollte auch Er nur eine Mutter sein? Ich glaube, es ist so. Und so genießen wir dieses warme Gefühl der Erkenntnis, legen das Buch beiseite und wissen uns gut aufgehoben. Unter Müttern.