MACHEN KINDER WIRKLICH GLÜCKLICH?
Nun ja – jetzt wird die Sache schon etwas komplexer. Also, wir halten erst einmal das »Im Prinzip ja« aus dem vorherigen Kapitel fest, erweitern es aber durch die Hypothese von der bewussten elterlichen Widerständigkeit gegen die fortschreitende Problemreduzierung unserer Welt. Mit anderen Worten: Wer Kinder hat, sucht die Herausforderung, weil er Probleme hat, die andere nicht haben. Und wer sie meistert, der ist glücklich. So gesehen machen also Kinder tatsächlich glücklich. Sie geben uns nämlich die ersehnte Chance, endlich über uns hinauszuwachsen und die wahren Abenteuer des Lebens zu meistern.
Dass das so ist, liegt an den spezifischen Bedingungen unserer Gegenwart: In einer Welt, in der ja bekanntlich alles immer einfacher wird (Freisprechanlagen, Fertigessen, automatische Einparkhilfe, Euro-Rettungsschirm, Zentralabitur), besinnen sich Eltern auf die uralte Kulturtechnik der Herausforderung, verspüren sie noch jene Leidenschaft, die das Meistern so vieler unterschiedlicher, zumeist völlig überraschend und dann noch zeitgleich auf einen einstürmender Probleme geradezu rauschhaft erlebbar macht. Dreckige Kinderstiefel, ausfallende Milchzähne, gleichmäßig über Tisch und Stuhl verschmierter Karottenbrei, Trotzanfälle im Linienbus, schlechte Laune aus der Schule und Läuse aus dem Kindergarten? Das alles meistert eine Mutter. Wie schön ist das! Und kennen Sie dieses Gefühl, wenn Sie es tatsächlich geschafft haben? Ja? Dieses Gefühl, noch den letzten echten Herausforderungen und Gefahren begegnet zu sein, die eben nicht draußen in irgendwelchen dämlichen Fernsehcamps lauern, sondern bei uns daheim an den abendlichen Esstischen, im morgendlich überfüllten Badezimmer oder in der dunstigen Schwüle eines überlangen Elternabends?
Halten wir fest: Eltern sind die letzten Widerstandskämpfer in einer Welt, die den Menschen keine Herausforderungen mehr bietet. Der Langeweile des gesellschaftlichen Wandels, der Eintönigkeit der Arbeitswelt mit ihren festen Strukturen und klaren Erwartungen an das Morgen – all diesen unkreativen Erscheinungen der Moderne vermag eigentlich nur das Zusammenleben mit Kindern noch eine belastbare Alternative entgegenzusetzen. Alle Mütter wissen das und schätzen sich tagtäglich glücklich, an diesen letzten wirklichen Aufgaben unserer Zeit aktiv teilhaben zu dürfen.
Ich erwähne diese Selbstverständlichkeit auch nur, weil mir unlängst ein Zeitungsartikel in die Hände fiel, der dem angeblichen Mythos vom Elternglück gewidmet war. Darin schreckte der Autor (ein Mann! Sehr wahrscheinlich ein voll berufstätiger Mann!) nicht vor dem Hinweis zurück, Väter und Mütter würden sich bloß einreden, dass der Nachwuchs ihr Leben bereichere – obwohl doch Kinder in Wirklichkeit nur nerven und obendrein eine Menge Geld kosten. Dass ein solcher Artikel eine Frechheit ist, versteht sich von selbst. Aber der von mir absichtlich nicht namentlich erwähnte Verfasser kann es überdies nicht lassen, auch die nicht weiter spezifizierte »empirische Glücksforschung« (werden da die Lotto-Kugeln nachgezählt, oder was?) zu bemühen und mit ihr festzustellen, dass Eltern insgesamt mit Leben und Beziehung unzufriedener und – jetzt kommt’s – »emotional verwahrloster dastehen als kinderlose Paare«. Da hört es sich aber auf. »Emotional verwahrlost«? Ich gebe dir gleich emotional verwahrlost. Was soll das denn überhaupt sein? Als ich umgehend eine andere Mutter fragte, ob sie sich auch emotional verwahrlost fühle, lachte sie nur. Na also.
Zurück zum Glück. Betrachten wir das Glück zunächst einmal als solches. Immer steht das Glück am Ende unserer Bemühungen, meist auf einer schmucken Blumenwiese, fast immer in schönstem Sonnenschein – geduldig, freundlich, manchmal vielleicht ein wenig augenzwinkernd, in einigen Momenten scheint es sogar schüchtern-vergnügt zu uns herüberzuwinken. Es ist ein bisschen scheu, das Glück, aber keineswegs schreckhaft. Es wird fraglos ein Stückchen auf uns zugehen, wenn wir uns ihm ebenfalls vorsichtig nähern. Und doch gehört das Glück uns nicht allein. Statt sich hemmungslos auf die Mütter dieser Welt zu stürzen, sorgt es sich in der ihm eigenen Gerechtigkeit auch um alle anderen, die sich mehr oder weniger sorgend um unsere Kinder scharen: die Krankengymnasten, die Ergo- und sonstigen Therapeuten, die Erzieherinnen und Lehrerinnen, Logopäden, Babykurs-Anbieter, Babysitter, Kinderärzte, Spielzeughersteller und sogar den letzten einfallslosen Textilgestalter, der auf ein rosafarbenes Mädchen-T-Shirt ein Kätzchen malt, das »Hello, Kitty« sagt. Für sie alle ist das Glück in seiner majestätischen Größe unterschiedslos da. »Ich möchte, dass es euch allen gut geht«, erklärt es lächelnd. Und so ist es dann ja auch. Gut – die Segnungen des Glücks sind gelegentlich ein bisschen eigentümlich verteilt, weil die genannten Berufsgruppen schließlich das ganze Geld bekommen, wir Eltern aber in aller Regel die Probleme. Doch das ist nur auf den ersten Blick ungerecht, denn genau diese Probleme – genauer: die Überwindung derselben – ist ja unser Weg ins Glück.
Leider gibt es immer noch Neider, die uns diese Argumentation nicht abnehmen. Damit komme ich noch einmal auf den vermutlich selbst emotional verwilderten Autor jenes Zeitungsberichtes zurück, der die Existenz des wahren Elternglücks hartnäckig bezweifelt. Die Eltern würden ihr angebliches Glück idealisieren, und je höher die Erziehungskosten seien, desto stärker reagierten die Eltern mit zusätzlicher Idealisierung. Das tun sie augenscheinlich so lange (und aus meiner Wahrnehmung dann auch überzeugend), bis die bisher kinderlosen Paare sich regelrecht anstecken: Sie würden so erst recht angestiftet, selbst Nachwuchs zu zeugen. Ich gebe zu, so hatte ich das bislang nicht gesehen, bin aber froh, dass Männer und Frauen durch solche guten Anstiftungen schließlich zu Eltern werden – und nicht wegen Frau Merkel und Herrn Steinmeier, wie Frau Gaschke uns erzählen wollte. Tatsächlich ist das Glück der Eltern also ansteckend. Wie schön. Kinderlose brauchen nur das Glück zu schauen: »Guck mal, Schatz, die Bredemaiers von nebenan, ist das nicht süß, mit ihren Kleinen? Na, wie wär’s?« Der Rest ist bekannt. So kommt eins zum anderen – ich meine: ein Kind zum anderen. Bis das Glück randvoll ist. Dementsprechend lautet ja auch eine goldene Regel (die mir eine befreundete Mutter erklärte): »Wer mit seinen Kinder glücklich ist, bekommt noch eins.« So lange, bis Ruhe ist mit dem Reden von Glück. Nun ja.
Aber apropos Glück: Bei ihm heißt es immer gut aufpassen; sobald man es aus den Augen lässt, ist das quirlige Wesen schnell wieder entwischt. Husch, husch, hat es seine Blumenwiese verlassen, sitzt aber – welch Überraschung – plötzlich quiekend vor Freude mit den anderen Kindern im Sandkasten, die sich alle gegenseitig mit Sand bewerfen und dabei laut vor Vergnügen schreien. Verspielt ist dieses Glück nämlich auch, das vergaß ich zu erwähnen. Aber ob nun Glück oder nicht – nach der Sandschlacht gibt es eine Extra-Badewanne für alle. Für alle, hab’ ich gesagt. Also darf auch Freund Glück ruhig in der reinigenden Wanne Platz nehmen, ein ordentliches Bad schadet auch ihm nicht. Und die Ohren werden geputzt. O doch, Freundchen. Aber sicher. Da draußen auf deiner Blumenwiese darfst du rumlaufen, wie du möchtest, aber solange du deine dreckigen Sandkastenfüße in meine Badewanne hältst, werden auch die Ohren geputzt. – Und da lächelt das Glück wieder.