SOLLTE MAN HUNDEHALTERN, DIE AUF OFFENER STRASSE MIT IHREM TIER REDEN, DAS WAHLRECHT ENTZIEHEN?
Manchmal hilft es ja schon, die richtigen Fragen zu stellen. Also: Sollte man Hundehaltern, die auf offener Straße mit ihrem Tier reden, das Wahlrecht entziehen? Die Antwort scheint naheliegend zu sein, aber wie immer, wenn eine Sache so einfach erscheint, wird sie dann doch immer komplizierter, je länger man sie beobachtet. So musste ich mir im Laufe meiner Recherchen zum Thema Hundehalter schließlich sagen lassen, dass der oben genannte Schritt aus demokratietheoretischen Überlegungen gar nicht so leicht in die Praxis umzusetzen sei. Wahrscheinlich ist daran wieder mal der deutsche Föderalismus schuld (ich persönlich möchte ihn an dieser Stelle gerade wegen der unterschiedlichen Schulpolitik in den Bundesländern gerne einmal in Schutz nehmen – es könnte ja sein, dass bei den höchst unterschiedlichen Schulversuchen aus Versehen doch irgendwann eine richtig gelungene Schulpolitik herauskommt). Deshalb also noch mal von vorne: Herr und Hund sowie: Herrin und Hündin.
Wie andere Mütter auch habe ich die unterschiedlichsten Erfahrungen mit Hunden und ihren Besitzern gemacht. Da gab es den frei laufenden Mischling, der vor Herrchens Augen auf dem Kinderspielplatz gekonnt in ein lustiges Spieleimerchen urinierte – wir alle kennen solche überraschenden Momente des Alltags. Sie sind für uns Erwachsene wichtig, weil sie uns, unsere Erwartungen und Kenntnisse immer wieder lustvoll auf die Probe stellen: Vor den Augen unserer ebenfalls überraschten Kinder können wir zeigen, wie in solchen Augenblicken eine angemessene, in der Sache ebenso deutliche wie im Ton freundliche Antwort auszusehen hat. So entsinne ich mich noch gut einer Begebenheit am Ostsee-Strand, als ich neben unserem Ältesten – damals sechs Jahre alt – am Wasser entlangspazierte. Von hinten kam lautlos (!) ein Blindenhund (!) herangestürmt (zum richtigen Verständnis dieser Szene sei noch erwähnt, dass der Vierbeiner gerade keinen Sehbehinderten mit sich führte, was bei seinem Tempo auch unangemessen gewesen wäre) und riss meinem Sohn seinen eben erst aus den Fluten gezogenen Spazierstock aus der Hand. Meine nach kurzzeitiger Irritation rasch anhebenden Ausführungen über die segensreiche Geschichte des deutschen Gebrauchshundes an sich und den schier unersetzlichen Wert von Blindenhunden für die armen Sehbehinderten wollten die Tränen des Jungen allerdings nicht trocknen. Ich fühlte mich schuldig: Ich hatte meinen Sohn – genau genommen seinen Lieblingsstock (zu jedem Moment ist der Stock in der Hand eines Kindes ja bekanntlich der Lieblingsstock) – nicht verteidigt! Und das nicht gegen einen Wolf, eine weitere Schulreform der Freien und Hansestadt Hamburg oder eine andere Bestie, sondern gegen einen Blindenhund. Einen Blindenhund! Die sonst nur den Telefonhörer holen oder bei einer Ampel vielleicht noch oben und unten unterscheiden können. Und was habe ich gemacht? Habe ich die dazugehörende Blinde am Ostseestrand zur Rede gestellt? Dem räuberischen Tier umgehend die Machtfrage gestellt? Nichts von alledem – kleinlaut nahm ich den Verlust des Lieblingsstockes in Kauf. Agiert so eine Löwenmutter?
Ich gelobte Besserung – zumindest gegenüber Hunden wollte ich fortan ein Held sein. Eine Hundebesitzerin mit einem schwarzen Setter bot mir unlängst dazu eine vorzügliche Gelegenheit: Ich saß mit unseren gut eineinhalbjährigen Söhnen vor der Haustür, wo wir (weitgehend schweigend) gemütlich dem Treiben der Welt zuschauten. Rasch war dieser schwarze Setter da und machte Anstalten, mit seiner belegten langen Zunge einem der beiden Jungs genüsslich durchs Gesicht zu schlecken. Selbstredend war der Hund nicht an der Leine (die hatte sich Frauchen kunstvoll um den eigenen Hals geschlungen – wahrscheinlich trägt man das in Paris oder Itzehoe gerade so), und ein Halsband hatte er auch nicht um (manche besonders modisch bewussten Tierchen tragen ja immerhin ein buntes Halstuch, was bei großen Exemplaren stets ein bisschen danach aussieht, als hätten sie gerade Frau Antje aus Holland verspeist und trügen nun ihr Kopftuch als Trophäe um den Hals).
Mit den mir eigenen differenzierten kommunikativen Möglichkeiten stellte ich mich dem Hund entgegen – »hau ab!«. Das Tier war erschrocken und schaute mich irritiert an, vermutlich war der potenzielle Gesichtsschlecker von daheim einen niveauvolleren Umgangston gewohnt. Jedenfalls eilte Frauchen dem leine- wie orientierungslosen Zottel zu Hilfe: »Das Problem ist, sie mag Kinder so gerne.« Aber bitte nicht meine, dachte ich noch und wollte erbost fragen, ob das Tier für seine Vorliebe Messer und Gabel benötige oder ob es mit den Werkzeugen der Natur alleine mit den Kleinkindern zurecht komme. Aber da wurde ich gewahr, in welchen Abgrund von Schlichtheit ich schaute. Sie – sie! – mag halt Kinder, das ist ihr Problem. (Problem!) Klang da nicht der stille Vorwurf heraus, dass gerade ich als Vater dieses Gefühl der Zuneigung zu den kleinen Wesen doch eigentlich nachvollziehen können müsste? Ob ich gar herzlos sei? Hatte ich vielleicht eine ungewollt welpenlose Hündin vor mir, die doch an ihrem Schicksal schon schwer genug zu tragen hatte? Oder vielleicht eine ungewollt kinderlose Hundehalterin? Oder beides?
Ich musste mich kurz schütteln, um wieder in der anspruchsvolleren Realität anzukommen. »Ihr Köter gehört an die Leine, damit er mit seiner Schnauze nicht an Kindergesichter geht.« Das war weder ein Zeugnis gekonnter Formulierungskunst (und das auch noch vor den Kindern!) noch ein vorbildliches Dokument zwischenmenschlichen Verständnisses. Aber Frau und Hündin hatten immerhin mit einem »Ja, ja, ich weiß schon« abgedreht und gingen ihrer Wege. Zuvor hatte die Dame noch kleinlaut die Königin unter den Floskeln aus der Kategorie »Hund beißt Kind« zum Besten gegeben: »Die tut wirklich nichts«. (Das hat man früher wahrscheinlich auch über Magda Goebbels gesagt, was aber weder Frau Goebbels noch Kindern durchs Gesicht schlabbernde Hunde in meinen Augen wirklich attraktiver macht.)
Mein Triumphgefühl des ersten Moments machte mich allerdings nicht satt. Gut – diesmal hatte ich nicht wie beim Blindenhund an der Ostsee einfach die Segel gestrichen, aber ich hatte lediglich eine Hundebesitzerin angeraunzt. Wie mutig war das denn schon? Hätte ich nicht verständnisvoller sein müssen? Sie sprach ja offen von einem »Problem«, das die Hündin hat. Wäre nicht vielleicht der verständnisvolle Hinweis auf einen Hundetrainer hilfreicher gewesen? Womöglich wäre der Hündin schon mit einem guten Gespräch geholfen. In unserer Stadtteil-Zeitung hatte ich einige Zeit zuvor die große Anzeige einer Praxis für Tierkommunikation entdeckt. Darin erläuterte die Inhaberin, wie sie Menschen und Tieren dazu verhelfe, auf telepathischem Wege miteinander in Kontakt zu treten. »Wir können Gefühle, Gedanken und Bilder von dem Tier übermittelt bekommen, aus denen sich dann die Botschaft des Tieres zusammensetzt.« Na also, Bello kann doch sprechen! Bello, sag mal: »Rote Rosen.«
Womit wir beim eigentlichen Thema sind – beim Sprechen. In diesem Falle beim Sprechen der Hundebesitzer mit ihren Tieren. Dieses Sprechen ließe sich mit ein wenig gedanklicher Flexibilität in drei Kategorien ordnen: das einfache Sprechen, das komplexe Sprechen sowie das erwartungsvolle Sprechen. Das einfache Sprechen lässt sich, wen wundert’s, am häufigsten beobachten (was übrigens auch auf die Mensch-Mensch-Kommunikation zutrifft); diese beginnt bei einfachen Befehlen wie »Komm!«, »Jetzt lauf!« oder »Hiiiiiierher!«. Ein solches Verhalten möchte ich noch nicht als sozial auffällig bezeichnen, wenngleich mir auf den Straßen in akustischer Hinsicht nichts fehlen würde, wären solche Rufe eines Tages verschwunden.
Irritierender finde ich da schon das komplexe Sprechen mit Hunden, das nach meiner Beobachtung zuweilen beide Beteiligten an den Rand ihrer intellektuellen Fähigkeiten bringen kann: »Mensch Trixi, ich hab wirklich keine Lust mehr weiterzugehen, wenn du immer so an der Leine ziehst.« Oder: »Komm, wir schauen eben noch beim Bäcker rein, und dann geht’s wieder nach Hause.« Solche Monologe können durchaus belustigend wirken, wenngleich man sich als ungewollter Zuhörer zuweilen mehr inhaltliches Gewicht wünschte – so spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, den Hund auch mit Bemerkungen zu dem neuen Roman vom Martin Walser oder der Programmstruktur von arte zu belegen. Richtig bedenklich wird die Mensch-Hund-Kommunikation nach meiner Einschätzung allerdings beim erwartungsvollen Sprechen: »Lullu, nicht! Wie oft soll ich das noch sagen?« »Kannst du mir mal sagen, warum du nicht hörst? Na?« Auf was warten diese Menschen? Offensichtlich darauf, dass das Tier antwortet. Das nenne ich mal, sich ein großes Ziel setzen! Ich fühle mich bei solch bedenklichen Erscheinungen an die Geschichte einer Frau erinnert, die angeblich mit Steinen spricht – aber nach meinen Informationen bis heute auf Antworten wartet.
Aber zurück zu unserer Ausgangsfrage: Soll man Hundehaltern, die auf offener Straße mit ihrem Tier reden, das Wahlrecht entziehen? Alle Fakten sprechen dafür, aber ich glaube, wir sollten – nicht zuletzt als Vorbilder für unsere Kinder – verständnisvoller sein. Nur über die Blindenhunde ist meines Erachtens das letzte Wort noch nicht gesprochen …