SOZIALES NETZWERK KINDERGARTEN
Wenn ich mich recht erinnere, las ich einmal in einem Reiseführer über Finnland den erhellenden Hinweis, dass die Finnen am liebsten betrunken in einer dunklen Sauna sitzen und über den Tod nachdenken. Es mag nicht überraschen, dass mich diese Vorstellung lange Zeit eher befremdet hat. Aber mit der Zeit beschlich mich die Frage, was wir Deutschen mit unserer Mentalität diesem kollektiven Verhalten der skandinavischen Brüder und Schwestern Adäquates entgegenzusetzen haben. Erst nach einigen Jahren Kindergarten-Erfahrung dämmerte mir, dass es hierzulande durchaus einen wunderhübschen Brauch gibt, der eine vergleichbare Wirkung zeigt: In den meisten Betreuungseinrichtungen gibt es nämlich wiederkehrend Elternabende, an denen das Thema »Elternbeteiligung« diskutiert wird, vorzugsweise in Kindergärten, die von einem Verein getragen werden. Solche Abende (stellen wir uns einen kalten, verregneten Novembertag vor) haben zuweilen finnische Qualitäten, wenn man einmal großzügig davon absieht, dass weder Finnisch gesprochen wird noch jemand betrunken ist (beides würde die Situation vermutlich tendenziell sogar entspannen). Was also macht die unverwechselbare Qualität solcher Veranstaltungen aus? Es ist das bewusste, das gewollte Leiden für den Kindergarten. Schauen wir genauer hin:
Grundvoraussetzung für einen solchen gelungenen finnischen Abend ist die Unzufriedenheit einzelner Eltern (»Wer schreibt übrigens freiwillig Protokoll?«). Gerne geht es dabei um die Nichtableistung von eigentlich fest zugeteilten Elterndiensten – jemand hat den Garten nicht ausreichend gepflegt, der Festausschuss wartet immer noch auf verbindliche Mitteilung, wer zur Weihnachtsfeier welchen Salat zubereitet, und die Elternkasse ist wieder einmal nicht anständig gefüllt (»Leute, denkt doch bitte daran, r e c h t z e i t i g euern Beitrag abzuliefern«). Richtig bunt wird es, wenn das letzte gemeinsame Fest nachbesprochen oder das kommende geplant wird. Früher war ich – aber da fehlt es mir als Mann an der notwendigen gedanklichen Komplexität – der Meinung, so ein Fest sei eine prima Sache und eigentlich ganz leicht auf die Beine zu stellen: Man macht halt mehr oder weniger ein Fass auf, lädt seine Kumpels ein, und jeder bringt noch was zu essen mit. Und Musik machen wir dann irgendwie selber – war doch immer lustig, oder?
Mein Vorschlag, auch eines der Kindergartenfeste einmal auf diese Art und Weise vergleichsweise unkonventionell vorzubereiten (»Kiste Bier, ordentliches Lagerfeuer und ein paar Würstchen«), stieß auf mütterliches Kopfschütteln. Für viele, viele andere ebenfalls starke Gegenargumente stand der Hinweis: »Wenn hier jeder macht, was er will, dann haben wir viermal den gleichen Kuchen, aber keinen Waffelteig.« Ich Schussel! Das hätte ich wirklich ahnen müssen! Viermal den gleichen Kuchen, um Gottes willen – wenn man nicht aufpasst, kann das Leben so verdammt gefährlich sein. Und ich dachte bislang: Weil bei solchen Festen so penibel darauf geachtet wird, dass es möglichst viele unterschiedliche Kuchen gibt, essen die lieben Kleinen geradezu reflexhaft von jedem dieser mütterlichen Prachtexemplare ein ordentliches Stück, was nicht nur zu äußerst heftigem Drängeln an der sorgsam organisierten Kuchenausgabe führt (»Wer macht dieses Jahr die Coupons?«), sondern auch dazu, dass der Nachwuchs sich spätestens in der Nacht erbrechen muss und noch den gesamten kommenden Tag Bauchschmerzen hat.
Aber Kindergartenfeste sind nun mal Höhepunkte vorschulischer Festkultur und als solche unbedingt ernst zu nehmen. Und zum festen Bestandteil eines solchen Festes gehört die Klage derjenigen, die zum Schluss noch da sind. Das Fest ist gefeiert, die Kinder schon würgend daheim, fast alles ist weggeräumt, da versichern sich die letzten Mütter noch schnell ihrer Exklusivität: »Ja, ja, am Ende sind es doch immer dieselben, die aufräumen.« (Ich habe mir schon überlegt, diesen Spruch auf ein T-Shirt drucken zu lassen, das wäre bestimmt ein Verkaufsschlager.) Dabei ist es völlig egal, wie viele helfende Eltern wirklich da sind – diese Bemerkung muss einfach sein, um zu zeigen, dass Mutter sich auch für den Kindergarten aufopfert. Wenn jetzt ein Vater rasch aufspränge und fragte: »Kann ich denn noch irgendwas helfen?«, er erntete nur ein müdes »Ach, lassen Sie mal«. Im Leiden der letzten Aufräumenden vollendet sich das Schicksal der Kindergartenmutter.
Wer sich da nicht nach einer Flasche Bier, einer dunklen Sauna und einigen existenziellen Fragen in tröstender Dunkelheit sehnt, hat kein Herz. Ja, das Leben ist kein Wunschkonzert, und man kann nicht immer lustig sein. Und doch bietet der Kindergartenalltag auch hübsche Perlen der Unterhaltung, wenn man sich der Mühe unterzieht, sich zu bücken und sie aufzuklauben. Solche Perlen sind die längst in Mode gekommenen Kindergarten-Freundebücher, Alben von einer erstaunlich selbstbewussten Schlichtheit: Auf ihren Umschlägen tollen alberne Häschen oder drollige Kätzchen herum, in ihrem Inneren aber verlangen sie gebieterisch nach klaren Bekenntnissen. Hier muss jedes Kind in die Rubriken eintragen, was Volkszähler beglücken würde: »Ich heiße«, »Ich bin Jahre alt«, »Meine Mama heißt«, »Mein Vater heißt«, »Ich bin cm groß und wiege kg«; es folgen Lieblingsbücher und -filme, zuweilen Berufe der Eltern oder die biologische Zuordnung der gegebenenfalls gehaltenen Haustiere. Sorgsam ausgefüllt werden die Seiten zumeist von der Mutter; sie hat das Kind im Laufe des Tages selbstverständlich noch gewissenhaft gewogen und vermessen.
Diese unschuldig daherkommenden Freunde-Bücher bilden den ersten Baustein des Lebens in einem sozialen Netzwerk – Facebook für Vorschulkinder könnte man sie nennen, wobei die Nutzer eigentlich mehr die Eltern sind. Wer ein solches Buch durchblättert (und das tut nun wirklich jeder, der nur einigermaßen neugierig ist), kann nicht nur die fein säuberlichen Handschriften der Mütter bewundern (noch nie habe ich eine Väter-Handschrift darin entdeckt), sondern auch einen tiefen Einblick in die Familien des Kindergartens bekommen: was die Kinder am liebsten spielen (»mit Playmobil« die Fantasielosen, »Verkleiden« die Ambitionierten, meistens die Mädchen), was sie gerne essen (Pizza und Eis die Normalos, Mango und »Mamas leckeren selbstgemachten Kräuterfrischkäse« die kleinen Gourmets, interessanterweise auch meistens Mädchen) und wer ihre besten Freunde sind. Jetzt heißt es genau hinschauen! Ganz wichtig: Gehört mein Kind zu diesen besten Freunden? Wenn nein, weshalb hat es dieses komische Freundebuch überhaupt in die Hand gedrückt bekommen? Wollen die Eltern mehr Nähe zwischen den Kindern? Suchen sie Kontakt zu uns? Oder handelt es sich – schlimme Vorstellung – um eine Verwechslung?
Manchmal erfährt man aus diesen Büchern auch, dass der Papa ein Fan von den »Böhsen Onkelz« ist. Na ja. Lustiger wird es da schon, wenn auch die Erzieherinnen den Fragenkatalog ausgefüllt haben. Wenngleich sie von Berufswegen ihre Antworten vorsichtig abwägen (nur zufällig fällt mein Blick dann aber immer auf die Rubrik »Ich wiege …«), schaue ich doch gerne sicherheitshalber nach, ob beim Lieblingsbuch nicht »Das Schweigen der Lämmer« auftaucht, ihr Lieblingslied nicht gerade »Schwarz-braun ist die Haselnuss« ist oder sie immer schon davon geträumt hat, einmal nackt auf dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren. Sicher ist sicher. Sie lachen? Einmal erzählte mir mein Sohn, ein anderer Kindergartenvater besäße echte Handschellen. »Dabei ist der nicht einmal Polizist. Was macht der dann mit den Handschellen, Papa?« In solchen Momenten bin ich froh, dass ich kein Finne bin und solche interessanten Dinge auch bei helllichtem Tage und klarem Kopf erfahre. Soziale Netzwerke sind doch was Schönes!