MÜTTER, HAMSTER, SINGVÖGEL

Wenn ich an Mütter denke, muss ich notgedrungen immer auch an Tiere denken. Schließlich sind sie – also die Mütter – auf eine eigentümliche Weise umspielt von allen nur denkbaren Vier- und Mehrfachbeinern: nicht nur von heimischen Exemplaren wie Hunden und Katzen, Mäusen oder Eichhörnchen. Auch alle exotischen Exemplare sind Bestandteil ihres Alltags: Elefanten, Löwen oder Tiger, Giraffen, Affen und selbstverständlich Eisbären von groß bis klein (Lars!). Hinzu kommen die vielen Phantasietiere, deren Namen ich nicht kenne, die aber in wahnsinnig bunten Farben daherkommen und immer lustig herumtollen und unsere Welt noch verspielter machen. Die Faustregel lautet: Wo Kinder sind, sind auch Tiere; mal echte in Haus, Garten oder Zoo, mal Stofftiere, mal solche in Büchern und Heften, auf Schulranzen oder Anoraks. Animalisches überall. So weit, so gut. Fragt sich nur: Was macht das mit den Müttern?

Fangen wir ganz von vorne an, nämlich bei der ersten kindlichen Begeisterung für das befellte oder gefiederte Mitgeschöpf. »Sieh mal da, ein Vögelchen«, sorgt die Mutter für die erste Einführung in die Fauna. Ich selbst füge manchmal noch ein nachahmendes »Tschiep-tschiep« hinzu, was in der Öffentlichkeit zugegebenermaßen manchmal etwas albern wirkt. Die Schönheit und der Reichtum der Tierwelt sind aber auch wirklich atemberaubend: »Schau, ein Eichhörnchen.« »Oh! Ein Igel!« Und die Kinder sind dankbare Zuschauer und Zuhörer (ich selbst mache für unsere Jungs gerne mal einen Elefanten nach, das aber möglichst nicht vor fremdem Publikum). Auch die Bilderbücher kommen bekanntlich nicht ohne die lieben Tiere aus, dabei stehen heimische Nutztiere erstaunlicherweise am Beginn des kindlichen Interesses (viele Eltern ahmen daheim Schafe und Ziegen, Kühe und Hunde nach), erst später rücken dann die Exoten in den Blickpunkt kindlicher Neugier.

Auch diese Heranführung an das exotische Tier ist Muttersache. Das wurde mir klar, als ich an einem wunderschönen sonnigen Sommervormittag bei uns im Zoo war. In diesem Moment war es dort so wie in vermutlich allen großen deutschen Tiergärten: Die Zahl der in Gefangenschaft gehaltenen Tiere wurde von der Zahl der anwesenden Mütter und Kinder deutlich übertroffen. (Ich habe lange überlegt, warum wohl Männer in einen Zoo gehen, und ich mache inzwischen uralte Instinkte der Menschheitsgeschichte dafür verantwortlich: Männer wollen das eingesperrte, also besiegte Tier sehen, um ein atavistisches Siegesgefühl zu erleben. Die benachteiligten Männer, die auf dem platten Land leben und keinen Zoo in der Nähe haben, werden deshalb Jäger – sie schießen für eben dieses Gefühl einfach Tiere über den Haufen.)

Gerade die eigentlich von Natur aus gefährlichen oder Eindruck heischenden Exemplare in den Tiergärten werden allerdings nach meinem Geschmack ein wenig zu sehr verniedlicht. Ich beobachte das immer entlang des Elefantengeheges in unserem Zoo, wo man die Dickhäuter füttern darf. Hier animieren Mütter ihre Kinder dazu, den Elefanten Möhren oder Sonstiges hinzuhalten und die für die Entwicklung angeblich so wichtigen haptischen Erfahrungen mit einem Tierrüssel zu machen. »Nun fühl doch mal, ganz weich«, wird dem Nachwuchs dann erklärt. Und: »Du brauchst wirklich keine Angst haben.« Was erstens so nicht stimmt (man sollte meines Erachtens aus grundsätzlichen Erwägungen einem so großen Tier nie vertrauen) und sich zweitens aus kindlicher Perspektive ganz anders darstellt (schließlich ist ein ausgewachsener Elefant wohl dreißigmal so groß wie ein Fünfjähriger – dem sollte er also nicht ungefragt an den Rüssel fassen). Die Betrachtung zum mütterlichen Zoobesuch wäre übrigens unvollständig ohne den naheliegenden Hinweis, dass Mutter dafür nicht nur ausreichend Tier-, sondern auch anderes Futter sowie das gesamte notwendige Rüstzeug für einen solchen Besuch dabeihat (inklusive des Erste-Hilfe-Sets, schließlich gelten hier die gleichen logistischen Herausforderungen und Leistungen wie auf dem Kinderspielplatz).

Das Zoo-Tier hat den unbestreitbaren Vorteil, dass man es nach dem Zoo-Besuch einfach hinter sich lassen kann. Dann wird es wieder eingesperrt und gefüttert, medizinisch versorgt, gekämmt, entlaust und was sonst noch alles so nötig ist. Was das im Detail ist, weiß im großen Stil nur der Tierpfleger, im Prinzip aber auch jede Mutter. Denn die hat ja zuhause nicht nur Mann und Kind(er) zu versorgen, sondern auch noch den einen oder anderen liebgewonnenen Mitesser. Denn irgendwann im Leben einer Mutter tritt fast unausweichlich ein Haustier in selbiges. Ein Kätzchen, ein kleiner süßer Hund, eine Feldmaus mit großen flehenden Augen. (Weitblickende Eltern überschlagen in solchen Momenten bewundernswert nüchtern die durchschnittliche Lebenserwartung von Hund, Kaninchen oder Hamster, damit das Tier bei aller Liebe möglichst spätestens dann tot ist, wenn das eigene Kind auszieht – kaum ein Sohn wird beispielsweise später freiwillig seinen längst an seniler Bettflucht leidenden Stallhasen mit ins Studentenwohnheim nehmen.)

So ein Haustier verändert für eine Mutter alles. Denn jetzt ist es schlagartig vorbei mit der mehr oder weniger funktionierenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Jetzt gilt die noch viel herausforderndere Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Tierhaltung. Tierhaltung ist in Deutschland (abgesehen von den ersten Wochen der Begeisterung, in denen sich die Kinder tatsächlich wie versprochen um den Hamster kümmern) tendenziell Müttersache. Außer es geht um die ganz, ganz wertvollen Tiere, Reptilien und eingeschmuggelte Raubtiere und so, die selbstverständlich in Männerhand groß und größer, noch wertvoller und noch gefährlicher werden, bis sie schließlich irgendwo am Niederrhein und dann in den Medien auftauchen, weil Herrchen wieder einmal zu schusselig war, den angeblichen Hochsicherheitskäfig zuzumachen.

Da Zoo- und Haustiere aus meiner Sicht den unbestreitbaren Vorteil haben, dass sie in aller Regel nicht frei herumlaufen (von unangeleinten, ungewollt welpenlosen Hündinnen und ihren ungelenken Formen der Kinderliebe einmal abgesehen), stellen sie rein quantitativ – und, wie ich fürchte, auch qualitativ – den zu vernachlässigenden Teil der mutter-kindlichen Tierwelt dar. Damit nähern wir uns der Welt der imaginären Tiere, der künstlichen Geschöpfe, die wir uns selbst geschaffen haben, um unsere Welt schöner und bunter zu machen. Mit zum Teil grauenhaften Folgen, wie ich meine. Zwei Beispiele sollen reichen. Erstes Beispiel: Denken Sie an Kinderkleidung, die ja bekanntlich prädestiniert ist für die Abbildung von Tieren. Mein Liebling der Grausamkeiten sind alberne Katzen, die von noch alberneren rosa Mädchen-T-Shirts herablächeln und allen Ernstes »Hello, Kitty« sagen. Wird so etwas der Schöpfung gerecht? (Und ich spreche hier noch gar nicht von dem Mädchen.)

Zweites Beispiel: Wenn Sie die Augen schließen und in Gedanken an der Fensterfront eines Kindergartens vorbeigehen, werden Sie die vielen lustigen, bunten, von ungelenker Kinderhand mühsam ausgeschnittenen, bemalten oder beklebten Tiere sehen. Frösche vielleicht, gerne auch Hühner oder Vögel (wegen der bunten Federn). Aber was sehen Sie wirklich? Schauen Sie genau hin: Es sind immer gleich 24 oder 32 von diesen süßen Fröschen, Hühnern oder Vögeln. Und: Sie sehen alle gleich aus. Wie geklont. Hier wurde nämlich penibel nach den künstlerisch-ästhetischen Vorgaben der Erzieherinnen gearbeitet (frühe expressionistische Versuche von Vierjährigen werden hier unduldsam unterdrückt – »Konstantin, ein Frosch ist doch nicht lila« –, was sicherlich einen der vielen Gründe für die derzeitige Armseligkeit der Bildenden Kunst in Deutschland darstellt). So stehen schließlich Huhn an Huhn in einer Reihe, Fenster an Fenster das gleiche, geklonte Federvieh. Finden Sie nicht auch? Solch ein Fensterschmuck ist sicher lieb gemeint, aber im Grunde nichts anderes als eine frühe, gestalterisch ungeschickte Eingewöhnung der Kinder in die Welt der Massentierhaltung.

In den Kindergärten geht das Tierische selbstverständlich weiter: Die Gruppen heißen fast überall nach Tieren, da gibt es die Frosch-Gruppe, die Pinguine oder Füchse, die Mäuse oder Hasen. Zur Tierwelt der Mütter zählen darüber hinaus die unglaublich vielen Tiere auf Windeln und Feuchtigkeitstüchern, auf Trinkflaschen und Lätzchen, eben auf allem, was für unseren Liebling gut sein soll. Apropos Liebling: Wir sollten bei unserer Betrachtung von Mutter und Tier nicht vergessen, dass auch zwischen Mann und Frau der Tier-name als Kosename (mein Bärchen!) noch heute seinen festen Platz hat. Wenn ich mehr Mut hätte, würde ich bei einem Elternabend in der Schule einfach mal völlig überraschend und laut »Mausi!« in den Raum rufen – ich wette, ein gutes Drittel der Mütter würde sich umdrehen.

Aber zurück zu unserer Ausgangsfrage: Was macht diese Allgegenwart von Tieren mit den Müttern? Ich gebe zu, eine erschöpfende Antwort fällt mir schwer. Müsste ich sie geben, ich würde die Mütter wohl in zwei Gruppen teilen, die sehr unterschiedlich auf die animalische Präsenz reagieren: Die einen lieben Tiere, die anderen hassen sie. Erstere sind Reitlehrerinnen oder Pferdebesitzerinnen, sind mit Tieren aufgewachsen oder glauben an die Wiedergeburt, was sie sozusagen aus strategischer Klugheit dazu veranlasst, Hund, Katze, Maus mit einer auffallenden Höflichkeit zu begegnen. Die andere Gruppe dürfte meiner Ansicht nach größer sein, ihre Mitglieder wollen aber in aller Regel anonym bleiben. Sie haben schwer an dem gesellschaftlichen Grundkonsens zu tragen, dass eine deutsche Mutter ausschließlich lieben darf – sie darf, öffentlich, nicht hassen. Aber das tut sie still und heimlich, wenn sie nach einem übervollen Tag wieder mal das ebensolche Katzenklo entsorgen muss, den stinkenden Hamsterkäfig säubern und mit einem über die zarte Hand gestülpten, dem menschlichen Sein spottenden Plastiktütchen auf dem Bürgersteig das aufklauben muss, was kurze Zeit zuvor noch des Pudels Kern gewesen ist. Ich glaube, dass die Medizin sehr bald schon ein eigenes – vorrangig mütterliches – Krankheitsbild benennen wird, das weit über die uns heute bekannten Tier-Allergien hinausgeht. Mütter leiden an Tieren. Traurig, aber leider wahr. Und ich gebe zu, dass ich die Welt auch aus diesem Grund jetzt wieder ein wenig nüchterner sehe. Schade eigentlich.

Nachtrag: Wir haben die im Titel erwähnten Singvögel bislang unerwähnt gelassen. Das liegt wohl daran, dass sie die ganze Sache mit den Tieren noch weiter verkomplizieren – aber trotzdem sind sie für unser Verstehen hilfreich. Also: Die Pflege der Singvögel ist in diesem Land zumeist in männlicher Hand. Und das aus gutem Grund. Denn die dem Winter und dem Hunger ausgesetzten Piepmätze treffen mit ihrer jammervollen Existenz genau ins Herz männlicher Denk- und Verhaltensstrukturen. So appellieren sie – erstens – an den Handwerker im Mann, der bei den ersten Schneeflocken (jedes Jahr kommt der Winter für einen Mann völlig überraschend – »Wo sind eigentlich meine Handschuhe aus dem letzten Jahr?«) zu Säge und Hammer greift, um ein ordentliches Vogelhaus zu zimmern. (Wer nicht selber handwerkert, fährt wenigstens in den Baumarkt, was ja auch ein hoheitlich männlicher Akt ist.) Zweitens gibt der hungernde Wintervogel dem Mann die Möglichkeit, wieder einmal unter freiem Himmel eine Mahlzeit herzustellen – nun gut, er streut nur das Vogelfutter in das Häuschen, aber die Struktur des Handelns ist mit der sommerlichen Zurichtung eines Fleischstückes auf dem Grill vor den Augen der bewundernd zuschauenden Familie absolut vergleichbar.

Und drittens – und das dürfte entscheidend sein – schenken die dankbar pickenden Vögelchen in dem Vogelhaus dem Mann im warmen Haus vor allem die Chance, wieder einmal als Weltendeuter zu glänzen. Umringt von der Schar seiner Lieben (also von Frau und Kindern), sitzt er entspannt im Sessel und gibt Antwort: »Papa, ist das da eine Amsel?« »Ein Grünfink?« »Ein Eichelhäher?« – Vater weiß Bescheid. Er kennt sie alle, die Tiere da draußen in der Wildnis. »Ihr müsst nur auf das Federkleid unterm Hals achten«, erklärt er, »und auf den Bürzel.« Und alle recken die Hälse, um es auch ja richtig zu sehen. »Ein Rotkehlchen«, verkündet er. Die Familie vernimmt es mit Stolz. Und von draußen hört sie noch ein ausdrucksstarkes »Tschiep, tschiep« (»Das heißt Danke in der Vogelsprache«, ergänzt Papa), dann dreht sich das Tierchen um, lächelt in sich hinein und fliegt satt in den dunklen Winterhimmel. Es war übrigens ein Dompfaff.