24

Sie hatten ganz Darkside nach ihm durchsucht. Sie hatten der Gefahr im »Mitternacht« und im Kain-Club ins Auge geblickt und im Panoptikum hatten sie den blanken Horror erlebt. In Lightside wäre Jonathan beinahe verbrannt, nur um seine Identität aufzudecken. Aber die ganze Zeit über hatte Bruder Flink in den Büros des »Darkside Kurier« gesessen.

Jonathan blickte auf ihn herab und versuchte, die ausgezehrte Gestalt, die er dort sah, mit dem Bild des teuflischen Genies in Einklang zu bringen, das er sich vorgestellt hatte. Lucien hatte eine schiefe Körperhaltung eingenommen, die es ihm ermöglichte, sich auf sein gesundes Bein zu stützen, aber sein starrer Blick war auf eine Weise klar und ruhig, wie Jonathan es nie zuvor bei ihm gesehen hatte.

»Warum kommen Sie nicht herunter und leisten uns Gesellschaft?«, rief Lucien mit seiner vertraut sonoren Stimme zu ihnen hoch. »Ich bin mir sicher, dass Arthur und William sich über Ihre Anwesenheit freuen werden.«

Carnegie leckte sich nervös die Lippen und schätzte die Situation ein. Abgesehen von den drei Männern auf dem Podium schien niemand im Saal zu sein, aber es konnten sich alle möglichen bösen Überraschungen im Schatten verbergen.

»Leben sie noch?«

»Oh ja. Noch.« Lucien hinkte zu Arthurs erschlafftem Körper hinüber und zog seinen Kopf an den Haaren hoch. »Trotzdem würde ich mir an Ihrer Stelle nicht zu viel Zeit lassen. Wer weiß, was ich noch so anstelle, wenn ich mit ihnen alleine bin?«

Er blickte grinsend zu ihnen hinauf, und plötzlich hatte Jonathan keine Zweifel mehr, mit wem er es zu tun hatte. Er war Lucien Fox und er war Bruder Flink. Er war ein Ripper und er hatte sein eigen Fleisch und Blut ermordet.

»Warten Sie!«, rief Carnegie. »Wir kommen.«

Während er sprach, zog er langsam etwas aus seiner Tasche und steckte es verstohlen Harry zu, der immer noch im Verborgenen hinter der Balustrade kniete.

Mit einem Satz schwang sich der Wermensch über das Geländer und ging leicht in die Knie, als er auf einem der großen Tische landete. Er drehte sich um, blickte erwartungsvoll zu Jonathan hinauf und bedeutete ihm, seinem Beispiel zu folgen. Es war ein tiefer Sprung in die Halle, aber Jonathan wollte die Aufmerksamkeit von der Galerie und von Harry lenken. Er schwang seine Beine über die Balustrade, atmete tief durch und ließ sich fallen. Er landete hart auf dem Tisch und seine Knie knackten beim Aufprall. Luciens Augen weiteten sich.

»Jonathan! Ich bin überrascht, dich zu sehen. Ich habe Correlli strikte Anweisung gegeben, dich nicht am Leben zu lassen.«

»Er hat sein Bestes gegeben«, hielt Jonathan dagegen und hoffte, dass er mutiger klang, als er sich fühlte. »Haben Sie in letzter Zeit etwas von ihm gehört?«

Lucien nickte anerkennend.

»Eine beherzte Antwort. Du schlägst in dieser Hinsicht nach deiner Mutter. Sie fand auch immer mutige Worte … zumindest am Anfang.«

Ohne nachzudenken, sprang Jonathan vom Tisch und stürzte, getrieben von einer gefährlichen Mischung aus Hass und Adrenalin, auf Lucien zu, bis eine große Pranke ihn an der Schulter packte und aufhielt.

»Was haben Sie mit meiner Mutter gemacht?«, schrie Jonathan und versuchte, frei zu kommen. »Wenn Sie ihr wehgetan haben, bringe ich Sie um!«

»Nicht jetzt, Junge«, knurrte Carnegie und vergrub seine Krallen in Jonathans Schulter. »Nicht jetzt.«

Lucien lachte höhnisch.

»Wie rührend! Erteilen Sie neuerdings Unterricht in Selbstbeherrschung, Carnegie?«

»Wenn ich dazu komme«, erwiderte der Wermensch gelassen. »Und Sie, geben Sie Sportunterricht?«

Das Lächeln auf dem Gesicht des Rippers erstarb. Er kletterte vom Podium runter und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Carnegie zu.

»Ich hätte mehr von Ihnen erwartet«, fauchte er. »Ich habe all diese Witze schon gehört. Meine Freunde im Kain-Club nannten mich Bruder Flink, schon vergessen?« Lucien zeigte auf sein verdrehtes Bein. »Sie dachten, das wäre lustig. Natürlich würde ich es so nie zu etwas bringen. Sie behandelten mich wie eine Witzfigur, aber ich bin ein Ripper. Ich hätte sie, wann immer ich wollte, umbringen können. Aber stattdessen habe ich mir auf die Zunge gebissen und gewartet, bis meine Zeit gekommen war. Ich habe darauf gewartet, dass sie mir eines Tages nützlich sein würden. Als ich herausgefunden hatte, wer mein Bruder ist, wusste ich, dass ich an ihre Eitelkeit appellieren könnte und sie mir helfen würden. Ohne ihre Hilfe wäre ich nie nah genug an den hochverehrten James Arkel herangekommen, um ihn in eine Falle locken zu können. Und wie ich es vorausgesehen hatte, schlossen sich mir alle an. Alle außer Bruder Stahl.« Er drehte sich zu dem gefesselten William um. »Was ist das für ein Gefühl, wieder im Kain-Club zu sein? Waren die letzten Jahre ein Vergnügen für dich, alter Freund? Ich habe es so genossen, deine erbärmlichen Versuche zu vereiteln, dein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Es hat sich als so viel befriedigender erwiesen, als dich einfach umzubringen.«

William hob entkräftet den Kopf und spuckte Blut auf das Podium.

»Ich war glücklich«, wisperte er. »Ich hatte meine Frau und meine Kinder … aber das wirst du nie verstehen.«

»Nun, in meiner Familie laufen die Dinge etwas anders als in jeder anderen. Nicholas und der Rest der Gentlemen wussten das und haben versucht, daraus Kapital zu schlagen. Sie dachten immer noch, ich wäre schwach. Wie du siehst, haben sie sich geirrt. Das ist dieselbe Lektion, die ich James erteilt habe.«

»Sie?«, keifte Carnegie verächtlich. »Sie machen gar nichts, Sie Krüppel. Sie stehen daneben und sehen zu, wie Ihre Kreatur die Drecksarbeit für Sie erledigt.«

Lucien starrte ihn hasserfüllt an.

»Halt dein dreckiges Maul. Was weißt du denn schon über die Ripper?«

»Genug um zu wissen, dass James Sie zu Brei geschlagen hätte, wenn Sie ihm wie ein Mann gegenübergetreten wären. Ich bin erstaunt, dass Sie den Mut hatten, ihn anzugreifen, als er wach war.«

»Ihm wie ein Mann gegenübertreten?« Der Ripper brach in schallendes Gelächter aus. »Und warum um Darksides willen sollte ich das tun? Ich habe einen schwarzen Phönix, eine Kreatur, geboren durch das Böse und von Finsternis getragen. Warum also sollte ich mich wie ein Mann verhalten?«

Plötzlich erklang das schreckliche Kreischen aus dem Panoptikum. Carnegie wirbelte herum.

»Woher kommt das?«, schrie er über den Lärm hinweg.

Jonathan zupfte den Wermenschen am Ärmel. Sein Gesicht war kreidebleich und er wimmerte leise.

Das Kreischen erklang aus Luciens Hals.

»Oh mein Gott«, keuchte Carnegie.

Lucien hatte den Kopf in den Nacken gelegt und seine Augen waren fest geschlossen. Während sie ihn anstarrten, begann sein Körper zu zucken und sich zu winden wie eine wild gewordene Marionette. Der Brustkorb des Rippers bebte, und Jonathan sah mit Grauen, wie seine Rippen nach außen gedrückt wurden. Lucien schrie vor Schmerzen. Seine Schreie klangen erstaunlich menschlich. Dann sank er auf die Knie. Seine Haut verdunkelte sich und warf Blasen, als er seine Gestalt änderte. Der Mensch war verschwunden und an seine Stelle war die Kreatur getreten.

Auf den ersten Blick hätte man den schwarzen Phönix fälschlicherweise für einen majestätischen Vogel halten können. Eine riesige geschmeidige Kreatur mit pechschwarzen Federn. Aber bei näherem Hinsehen entpuppte er sich als Missgeburt. Seine Federn waren zerfleddert und schmierig und stanken nach verfaultem Fleisch. Seine Flügel waren ledrig und von dicken roten Adern durchzogen. Sein Schnabel und die Krallen hatten die Farbe von geronnener Milch und waren blutverschmiert.

Der Phönix hob seinen Kopf und beäugte sie. Seine Augen funkelten arglistig.

Carnegie zögerte nicht. Er zog zwei Pistolen hervor und eröffnete das Feuer. Der Raum war erfüllt vom Widerhall der Schüsse und dem Geruch des Schießpulvers. Der schwarze Phönix kreischte wütend und schlang seine Flügel um seinen Körper. Carnegie hörte erst auf zu feuern, als er seine Magazine leer geschossen hatte. Als der letzte Schuss verhallt war, sah Jonathan, dass die Kugeln vor den Klauen des Phönix über den Boden verstreut lagen. Die Kreatur breitete ihre Schwingen aus und krächzte zufrieden.

Carnegie wandte sich an Jonathan.

»Einen Versuch war es wert«, knurrte er entschuldigend.

»Was sollen wir jetzt tun?«

Der Wermensch zuckte mit den Schultern.

»Was können wir machen? Hast du was Besseres als Kugeln dabei? Ich hab dir gesagt, dass du nicht mitkommen sollst, Junge. Weißt du eigentlich, dass du wirklich ein lästiger kleiner Floh bist?«

Jonathan verstand zu spät, dass dies Carnegies Art war, sich zu verabschieden. Bevor er ihn aufhalten konnte, preschte der Wermensch mit Gebrüll durch den Saal. Die Kreatur erhob sich in die Luft und erwartete ihn. Schwarzer Nebel bildete sich unter ihren schlagenden Flügeln. Jonathan gefror das Blut in den Adern.

Nachdem er den Phönix nicht mit Pistolen aufhalten konnte, griff Carnegie ihn auf die Art an, die er am besten beherrschte: aus nächster Nähe, mit Fäusten und Klauen. Er bewegte sich mit furchterregender Kraft und Geschwindigkeit, aber als er in den dicken Nebel eintauchte, wusste Jonathan, dass er dem Untergang geweiht war. Carnegie war ein Wesen aus Fleisch und Blut, während der Phönix eine Ausgeburt der Hölle war. Als die gequälten Schreie des Wermenschen durch den Lärm des Kampfes zu ihm drangen, wollte Jonathan seinem Freund verzweifelt zur Seite springen, aber sein Körper war starr vor Angst.

Von der Galerie ertönte ein ohrenbetäubender Schrei, der ihn aus seiner Starre löste. Jonathan blickte nach oben und sah, wie Harry Pierce von der Balustrade aus auf einen der großen Kronleuchter zusprang, die von der Decke hingen. Die Entfernung schien zu groß, aber Harry stieg wie eine Rakete immer höher in die Luft, bis seine Hand schließlich einen Arm des Leuchters zu fassen bekam. Ein verärgertes Kreischen drang aus der Wolke, und mit einem Mal schoss der Phönix auf den Jungen zu. Harry wartete ab, bis die Kreatur ihn fast erreicht hatte, und schleuderte mit seiner freien Hand eine Flasche in die sich nähernde schwarze Wolke. Dann ließ er den Kronleuchter los und krachte auf den Steinboden.

Jonathan erblickte Carnegies zusammengesackten Körper auf dem Podium. Seine Gliedmaßen waren verdreht und er lag in einer Blutlache. Mit letzter Kraft gelang es dem Wermenschen, eine Hand zu heben und auf eine der Fackeln zu deuten. Natürlich! Carnegie hatte Harry eine Flasche gegeben, bevor er von der Galerie gesprungen war. Das war seine Spezialmischung!

Die schwarze Wolke verharrte kurzzeitig überrascht neben dem Kronleuchter. Jonathan fasste wieder Mut, griff sich die nächste Fackel und rannte durch den Saal. Er blieb über Harry stehen und schwenkte die Fackel. Durch die wabernde Wolke hindurch konnte er einen Blick auf den Phönix erhaschen, der vor Vorfreude kreischte und mit dem Schnabel schnappte. Dann stürzte er auf ihn zu. Jonathan schleuderte ihm die Fackel mit all seiner Kraft entgegen und warf sich schützend vor Harry.

Ein lautes Rauschen, wie von einem Wasserfall, erklang, als der Phönix in einem Flammenmeer versank. Er schlug verzweifelt mit den Flügeln und schwarze Nebelwellen verdunkelten den Saal. Doch das Feuer brannte weiter und die Schreie des Phönix klangen immer verzweifelter. Jonathan hielt sich die Ohren zu, als die Kreatur kreischend zu Boden stürzte und regungslos liegenblieb.

Danach herrschte Stille. Langsam verzog sich der schwarze Nebel. Das Licht eroberte den Saal zurück und schien auf die leblosen Körper, die im Saal verteilt lagen. Carnegie blutete, Harry rührte sich nicht und das Gefieder des riesigen schwarzen Vogels qualmte. Jonathan erhob sich und wankte langsam auf die Kreatur zu. Er hörte ein leises Krächzen und bemerkte, dass immer noch ein Funken Leben in dem schwarzen Phönix steckte.

Der Vogel hob matt den Kopf, als er spürte, dass der Junge sich näherte. Jonathan sah, wie sein linkes Auge blinzelte.

Er hatte kaum Zeit zu reagieren, als der Vogel mit einen Flügel ausholte und ihm einen Schlag versetzte. Jonathan wurde quer durch den Raum geschleudert und prallte gegen einen der großen Tische. Dort blieb er stöhnend liegen. Er spürte einen stechenden Schmerz in der Brust und fragte sich, ob er sich eine Rippe gebrochen hatte. Er fühlte sich, als hätte ihn ein Auto überfahren.

Mit Entsetzen wurde ihm klar, dass sie einen törichten Fehler begangen hatten. Natürlich konnte die Spezialmischung die Kreatur nicht töten. Ein Phönix stand aus seiner eigenen Asche auf. Nach dem anfänglichen Schock über den Aufprall hatte der Vogel die Flammen einfach aufgesogen.

Er hörte das Scharren von Klauen auf dem Holzboden des Saals und der Geruch von verfaultem Fleisch wurde noch durchdringender. Der schwarze Phönix presste seinen scharfen Schnabel gegen Jonathans Brust. Jonathan schrie vor Schmerz auf. Der Vogel erhöhte sanft den Druck auf die Lunge des Jungen. Jonathan schloss seine Augen und hoffte, dass sein Ende schnell kommen würde.

»Ich finde, das reicht jetzt«, rief eine vertraute Stimme vom anderen Ende des Saals.