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Nicholas de Quincy marschierte schnurstracks durch die Eingangstür eines billigen Cafés im Finsbury Park und schlug die Tür hinter sich zu. Die Kellnerin sprang erschrocken auf und der Koch hinter dem Tresen warf ihm einen finsteren Blick zu. De Quincy ignorierte ihn. Die lange Reise von Darkside in diesen Stadtteil im Norden Londons hatte ihm die Laune verdorben und der Anblick dieses Cafés verschlimmerte die Sache nur noch. Das, so schwor er sich, war das letzte Mal, dass er Humphrey gestattet hatte, ihren Treffpunkt auszuwählen.

Er putzte sein Monokel mit einem schwarzen Taschentuch und sah sich in dem schäbigen Café um. Die Luft stank nach Frittierfett und an den Fenstern lief das Kondenswasser herunter. Aus einem Radio tönte blechern Musik. Die grünen Plastikstühle waren alle leer, bis auf einen an einem Tisch hinten in der Ecke, auf dem Humphrey Granville saß, der gerade einen wilden Angriff auf einen beachtlichen Haufen Würstchen, Speck, Eier und gebackener Bohnen startete. Etliche Scheiben Toastbrot stapelten sich daneben auf einem Teller und ihnen gegenüber dampfte eine Tasse Kaffee. Während de Quincy ihn beobachtete, ließ er von seinem Essen ab und schlürfte lautstark einen Schluck Kaffee, wobei er seinen Schnurrbart im Milchschaum badete. Eine Zeitung lag ausgebreitet vor ihm auf dem Resopaltisch. In seine Lektüre vertieft, bemerkte Humphrey nicht, dass einige der Bohnen, die er sich in den Mund stopfte, auf sein Sakko kleckerten.

De Quincy lüftete seinen Zylinder und fuhr sich mit einer Hand durch sein steifes, borstiges Haar, um sich zu sammeln. Dann marschierte er zu dem Tisch und zwängte seine mächtige Gestalt auf einen der Stühle.

»Granville«, zischte er mit einer eiskalten Stimme, deren Temperatur sich dem Nullpunkt näherte.

Auf Humphreys rundem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Nicholas! Du hast hergefunden!«

»Das haben wir nicht deiner Beschreibung zu verdanken. Warum in Darksides Namen wolltest du, dass wir uns in diesem Drecksloch treffen?«

Seine Stimme hallte in dem leeren Café wider. Humphrey zuckte zusammen.

»Ich wünschte, du würdest nicht so laut sprechen, wenn du so etwas sagst, Nicholas. Du erregst die Aufmerksamkeit der Leute. Probier das Essen.« Er deutete auf seinen sich schnell leerenden Teller. »Hier gibt es das beste Bauernfrühstück in ganz London und die Portionen sind außergewöhnlich gut bemessen.«

»Ich habe keinen Hunger«, erwiderte de Quincy frostig. »Kannst du mal eine Minute lang nicht mit deinem Magen denken, du Idiot?«

De Quincy sah sich um und erblickte die Kellnerin, die verunsichert in der Nähe vorbeischlich.

»Kaffee«, rief er knapp und wandte sich wieder Granville zu, der gerade mit einem Stück Toast missmutig die letzten Tropfen Eigelb und Ketchup von seinem Teller wischte. De Quincy zeigte auf die Zeitung.

»Interessieren wir uns neuerdings für das, was in der Welt vor sich geht?«

Humphrey schüttelte den Kopf.

»Das ist eine alte Ausgabe vom Kurier. Ich hab sie … aus einem bestimmten Grund aufgehoben.«

Er schob ihm die angestaubte Zeitung hin und de Quincy warf einen Blick auf die Schlagzeile. Er erkannte sie sofort wieder. Alle Darksider erinnerten sich an diesen Artikel.

Zeitungsartikel

»Sensationelle Geschichte«, bemerkte de Quincy milde und warf Granville die Zeitung wieder zu. »Allerdings muss man mich nicht an die Details erinnern. Schließlich waren wir diejenigen, die es getan haben.«

Humphrey legte einen Zeigefinger an seine Lippen.

»Sprich leise!«

»Ich denke, wir sind hier in Sicherheit. Nicht einmal ein Sicherheitsmann des Ripper wäre so verrückt, hier zu essen.«

»Das ist kein Spiel, Nicholas!« Humphrey hielt inne, als die Kellnerin zurückkam und de Quincy eine Tasse hinstellte. Nachdem sie gegangen war, sprach er leise flüsternd weiter.

»Ich gebe zu, dass wir diejenigen waren, die ihn auf das Dach gelockt haben. Aber wir konnten doch nicht ahnen, dass er dort oben in Stücke gerissen werden würde! Wir wussten nicht, dass er ein Ripper war!«

»Aber wir wussten, dass Arkel nicht wieder von diesem Dach herunterkommen würde, und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass man ihn zu Tode kitzeln würde. Wenn du so zimperlich bist, hättest du dich gar nicht erst in die Sache hineinziehen lassen sollen.«

Humphrey richtete sich stolz in seinem Stuhl auf.

»Bruder Flink hat uns um Hilfe bei Arkels Beseitigung gebeten. Wir sind alle Gentlemen – die Elite des Kain-Clubs. Wir waren verpflichtet, ihm zu helfen!«

»So war es wohl«, sinnierte de Quincy. »Ich dachte, es würde Spaß machen. Außerdem hatte ich danach etwas gegen Bruder Flink in der Hand, etwas von dem ich annahm, dass es mir eines Tages nützlich sein könnte. Natürlich stellte sich anschließend heraus, dass ich mehr gegen ihn in der Hand hatte, als ich mir jemals hätte träumen lassen. Als wir herausfanden, dass er auch ein Ripper ist und dass er seinen eigenen Bruder umgebracht hat …« Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Nun, es war, als fielen Weihnachten und mein Geburtstag auf einen Tag. Womit wir elegant wieder in der Gegenwart und bei unseren aktuellen Geschäften angekommen wären.«

Humphrey blickte nachdenklich vor sich hin und nippte nervös an seinem Kaffee.

»Hör zu, Nicholas, es mag ja sein, dass du glücklich bist, aber ich mache mir Sorgen. Als ich mich bereit erklärt habe, dir bei diesem Komplott zu helfen, hast du mir versprochen, dass auf gar keinen Fall jemand verletzt werden würde.«

De Quincys Augen verengten sich.

»Du siehst doch noch ganz gesund aus.«

»Aber nach dem, was dem armen Edwin zugestoßen ist …«

»Nach dem was?«

»Hast du es nicht gehört, Nicholas? Sie haben ihn gestern in einer Gasse gefunden.«

»Oh.«

»Ist das alles, was du zu sagen hast? Edwin ist tot! Man munkelt, er wurde ermordet!«

De Quincy nahm einen Schluck Kaffee, zuckte zusammen und schob die Tasse beiseite.

»Sieh mal, wenn nicht jemand anderes Edwin Rafferty umgebracht hätte, dann hätte ich es selbst getan.«

»Nicholas!«, rief Humphrey schockiert.

»Blick den Tatsachen ins Auge, Granville. Der Mann war eine wandelnde Gefahr. Wer weiß, was er im Suff alles im ›Mitternacht‹ ausgeplaudert hat? Wir hätten ihn gar nicht erst mitmachen lassen sollen.«

»Aber er war einer von uns! Er war ein Gentleman!«

De Quincy verzog das Gesicht.

»Ich dachte, die jüngsten Ereignisse hätten dir bewiesen, dass es die Gentlemen nicht mehr gibt! Es bleiben nur noch du und ich, Granville.«

»Aber wenn sie Edwin umbringen können, wer sagt uns denn, dass sie nicht auch uns umbringen können?«

Der Erpresser schnaubte.

»Ich würde mir jetzt keine Sorgen machen. Wir wissen nicht genau, was Rafferty zugestoßen ist. Vielleicht ist er ja über seine eigenen Schnürsenkel gestolpert und hat sich den Kopf angeschlagen. Selbst wenn es einer der Ripper war, was soll’s? Das war lediglich eine Warnung, mehr nicht. Rafferty war nur ein Bauernopfer.«

Humphrey senkte den Blick.

»Ich denke, dasselbe hättest du gesagt, wenn ich derjenige gewesen wäre, den sie ermordet hätten.«

»Komm schon, Granville«, entgegnete de Quincy und klopfte ihm mit seiner knochigen Hand auf die Schulter. »Ich hab’s dir doch gesagt. Es sind nur noch wir beide übrig. Wir müssen zusammenhalten. Sieh mal, der Plan läuft genau so, wie er soll. Wir haben Kontakt zu beiden verbleibenden Ripper-Kindern aufgenommen – unserem alten Freund Bruder Flink und Marianne. Sie sind sich jetzt beide vollkommen der Tatsache bewusst, dass wir ihre wahre Identität kennen und dass wir diese Information gerne jederzeit an den Meistbietenden verhökern werden. Also lass uns mal sehen, wie hoch wir den Preis treiben können.«

»Glaubst du, sie werden bezahlen?«

De Quincy unterdrückte einen Fluch.

»Granville, wir bieten ihnen den Schlüssel zum Thron des Ripper. Keine Blutnachfolge, keine Gefahr, einen qualvollen Tod zu sterben. Alles, was sie tun müssen, ist, den anderen in einer dunklen Ecke von Darkside abzumurksen und darauf zu warten, dass der gute alte Thomas den Löffel abgibt. Sie werden bezahlen, verstanden? Behalte um Himmels willen die Nerven. In einer Woche ist alles vorbei und du wirst einer der reichsten Männer in Darkside sein.«

Er erhob sich und setzte seinen Zylinder auf.

»Es wird Zeit, diesen erbärmlichen Schuppen zu verlassen. Kommst du mit?«

Humphrey schüttelte entschieden den Kopf.

»Nach dem, was mit Edwin passiert ist? Auf gar keinen Fall. Darkside ist im Moment zu gefährlich. Ich gehe nicht zurück, ehe dieses Geschäft unter Dach und Fach ist.«

»Wie du willst.« De Quincy sah sich angewidert um. »Was mich betrifft, so kann ich nicht verstehen, wie du deine Zeit in Lightside verbringen kannst.«

»Oh, du müsstest es nur mal probieren«, erwiderte Humphrey mit glänzenden Augen. »Es gibt hier so viel zu entdecken. Überall wo ich hingehe, an jeder Straße, die ich entlanglaufe, sehe ich diese wundervollen Restaurants, deren Speisekarten voll sind mit Gerichten, von denen wir nicht einmal was gehört haben. Weißt du, was ein Curry ist, Nicholas? Oder Hähnchen-Teriyaki?«

De Quincy schüttelte den Kopf.

»Jeder Bissen ist eine Offenbarung. Selbst wenn ich jeden Tag essen gehen würde, bräuchte ich Jahre, um in allen Restaurants zu speisen, die es hier gibt.«

Humphrey lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte verträumt. Da er sich nicht zutraute, etwas Höfliches sagen zu können, nickte de Quincy steif und ging zur Tür hinaus. Als sie sah, dass die Luft rein war, kehrte die Kellnerin zum Tisch zurück und räumte die Teller ab.

»Darf’s noch was sein?«, fragte sie.

Humphrey sah auf seine Taschenuhr und blickte anschließend auf die Tafel mit der Speisekarte. Er hatte schließlich nichts wirklich Wichtiges an diesem Tag vor.

»Ich nehme das Gleiche noch mal. Aber diesmal bitte mit Pilzen.«

Als die Kellnerin dienstbeflissen zum Tresen zurücklief, faltete er die alte Ausgabe des Kuriers auseinander und las nochmals die Titelseite.