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Eine gottlose Stille hatte sich über die Ländereien von Vendetta Heights gelegt. Alles Leben war geflohen: Kein Tier streunte oder schnüffelte durch das Unterholz, kein Vogel kreiste über den Gebäuden. Der einsetzende Winter hatte die Farbe aus den Bäumen vertrieben, nur die Hecken des Labyrinths in der Mitte des Gartens hatten es geschafft, sich an ihre dunklen Blätter zu klammern. Die kahlen Äste griffen gequält nach dem grauen Himmel.

Auf der Terrasse untersuchten Arbeiter die zertrümmerten Reste des Glashauses. Unter dem Eindruck der unnatürlichen Stille schlichen sie um die zerbrochenen Glasscheiben herum und flüsterten sich nervös ins Ohr. Der jüngste von ihnen konnte kaum die Ruhe bewahren und drehte beim geringsten Geräusch ängstlich den Kopf.

Auf der Veranda des Haupthauses war eine provisorische Laube errichtet worden, von der aus zwei Gestalten die Männer bei der Arbeit beobachteten. Eine von ihnen war eine junge Frau mit leuchtend rotem Haar, die aufmerksam neben einem Korbsessel stand. In dem Sessel saß ein bleicher blonder Mann, auf dessen Knien ein Gehstock ruhte. In seinen Augen loderte blanker Hass. Vendetta, Bankier, Vampir und der reichste Mann von Darkside. Er sprach mit heiserer Stimme.

»Hilf mir auf die Sprünge, Raquella, warum hast du dich entschlossen, diese Trottel zu beauftragen?«

Eine unangenehme Pause entstand, als das Dienstmädchen ihre Antwort überdachte.

»Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Sir. Es ist meist nicht leicht, Arbeiter zu finden.«

»Ich bin mir sicher, dass du ihnen genügend von meinem Geld geboten hast, um ihnen die Sache schmackhaft zu machen.«

»Die meisten Leute wollten nicht einmal mit mir sprechen – egal, wie viel ich ihnen geboten habe.«

Der Vampir rutschte unruhig in seinem Stuhl hin und her.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass diese Stümper das Beste waren, was du kriegen konntest.«

»Ich habe mir alle Mühe gegeben, Sir«, entgegnete sie unnachgiebig.

Zähnefletschend packte Vendetta Raquella am Genick und zog ihren Kopf so weit herunter, dass ihre Blicke sich auf gleicher Höhe trafen.

»Das ist alles deine Schuld. Die Arbeiter … das Glashaus … Ich hätte dich schon vor langer Zeit ersäufen sollen. Ich weiß, was du getan hast. Ich weiß, dass du dem Starling-Jungen geholfen hast. Du hast mich hintergangen und nun sieh mich an. Sieh mich an!«

Raquella zwang sich, seinem Blick standzuhalten. Die Haut des Vampirs, die schon immer bleich gewesen war, war nun leichenblass, und seine Wangen waren eingefallen. Sie erinnerte sich an die Nacht, als sie ihn fand, wie er sich die Stufen zu Vendetta Heights hinaufzog und das Blut aus seiner Wunde quoll. Im Kampf mit Jonathan war er mit seinem eigenen Messer verletzt worden. Die meisten Klingen hätten ihm kaum einen Kratzer zugefügt, aber Vendettas Dolch war mit einer seltenen Substanz ummantelt, die verhinderte, dass seine Opfer ihm durch ihr Blut Krankheiten übertrugen. Die Überdosis dieser Substanz in seinem Blut hatte ihm Todesqualen bereitet.

Konnte ein Vampir – ein Untoter – sterben? Raquella wusste es nicht, aber die nächsten Tage war Vendetta so sterblich und dem Tode so nah wie nie zuvor gewesen. Gepeinigt vom Fieber, warf er sich im Bett hin und her und murmelte Sätze in einer fremdartigen Sprache. Der zarteste Hauch eines Lichtstrahls verursachte ihm solche Schmerzen, dass seine Schreie durch die weiten Flure des riesigen Herrenhauses hallten.

Während der finstersten Tage seiner Krankheit war nur eine Person anwesend, um nach ihm zu sehen. Eine Person, die ihm den Schweiß von der Stirn tupfte, die versuchte, ihm Nahrung und Wasser einzuflößen, die die Fenster weit öffnete, wenn es draußen dunkel und somit sicher war, und die den Hauch des Todes aus dem stickigen Schlafzimmer vertrieb. Eine Person, die während einer besonders langen und schmerzerfüllten Nacht ihren Ärmel hochgekrempelt und sich mit einer Nadel in den Arm gestochen hatte, damit Tropfen ihres Blutes auf seine dankbaren Lippen fallen konnten.

Raquella wusste nicht, warum sie in dieser Nacht nicht einfach gegangen war und ihren Meister verrotten ließ. Vielleicht war sie so sehr daran gewöhnt, ihm zu dienen, dass sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen. Fühlte sie sich auf eine seltsame Weise schuldig, weil sie diesen brutalen, schrecklichen Mann hintergangen hatte? Was auch immer der Grund gewesen sein mochte, ihre Fürsorge war vermutlich der einzige Grund, der ihn daran gehindert hatte, sie umzubringen. Zumindest für den Moment.

»Sie tun mir weh«, zischte Raquella zwischen ihren zusammengepressten Zähnen hindurch.

»Du willst mir etwas über Schmerzen erzählen? Ich bin ein Krüppel!«

Der kalte Hauch seines Atems strich über ihr Gesicht.

»Sie werden jeden Tag kräftiger. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Sie wieder laufen können.«

Vendetta ließ ihren Nacken los. Während sie rückwärts stolperte, erschütterte eine Reihe von Hustenanfällen seinen Körper.

»Brauche … Nahrung. Sag den Wachleuten, sie sollen mir einen der Arbeiter bringen. Den jungen. Er darf sich nicht wehren können … ich bin … so schwach …«

Raquella strich sich die Haare zurecht und half schweigend ihrem Meister, ins Haus zurückzukehren.

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Der erschöpfte Vendetta schlief sofort ein. Er sah ein wenig besser aus, nachdem er gespeist hatte. Seine Wangen wiesen wieder etwas Farbe auf. Die Arbeiter waren geflohen und würden nie wieder zurückkehren. Bei diesem Tempo würde das Glashaus nie fertig werden.

Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass er es bequem hatte, zog Raquella ihren schweren Mantel über ihre Uniform und schlüpfte zur Seitentür hinaus in die düstere Nacht. Sie lief schnell die Auffahrt hinunter. Der Kies knirschte unter ihren Schritten. Eine dunkle Gestalt öffnete für sie das Haupttor und wie immer nickte sie zum Dank und vermied den Augenkontakt.

Der Wind strich durch die Bäume, die links und rechts der Savage Row standen. Raquella fand dieses Geräusch auf eine eigenartige Art und Weise beruhigend. Es war schön, an der frischen Luft zu sein. Normalerweise verbrachte sie den Abend in ihrem kleinen Bedienstetenzimmer auf Vendetta Heights, aber heute hatte sie ihrer Familie versprochen, sie in Lower Fleet zu besuchen. Bei dem Gedanken daran, ihre Eltern und ihre Brüder und Schwestern wiederzusehen, beschleunigte sich automatisch ihr Schritt. Raquella hätte gerne etwas Zeit gespart und einen Zug der Darkside-Linie genommen, aber sie sparte jeden Penny. Ihr Gehalt war der Hauptgrund, dass ihre Familie etwas zu essen hatte, aber bei Vendettas momentaner Stimmung wusste sie nicht, wie lange sie noch für ihn arbeiten würde. Oder genauer gesagt, wie lange sie noch leben würde.

Als Raquella das riesige Anwesen des erfolgreichsten Glücksspielers von Darkside passierte, vernahm sie das Geräusch eines Kieselsteins, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite über den Bürgersteig schlitterte. Sie blieb stehen und drehte sich um. Eine Frau in einem wallenden rotbraunen Umhang stand unter der Straßenlaterne. Ihr leuchtend blaues Haar schimmerte im sanften Licht.

»Hallo, Raquella«, rief Marianne und lächelte.

Angespannt überquerte das Dienstmädchen die Straße.

»Guten Abend, Marianne. Du wirst nachlässig. Ich habe dich gehört.«

»Das hättest du nicht, wenn ich es nicht gewollt hätte. Ich wollte nur höflich sein.« Ihre Augen funkelten. »Wollte dich nicht erschrecken.«

Raquella trat unbewusst einen Schritt zurück, woraufhin die Kopfgeldjägerin herzhaft lachte.

»Ach, komm schon. Ich will lediglich einem deiner Freunde eine Nachricht zukommen lassen.«

»Welchem Freund?«, fragte Raquella misstrauisch.

»Dem Kleinen. Jonathan.«

Das Dienstmädchen blickte irritiert.

»I–Ich kenne keinen Jonathan«, stammelte sie.

»Meine Liebe, wenn du eure Freundschaft geheim halten willst, dann solltest du vielleicht nicht gerade mit ihm in Vendettas Auto die Hauptstraße entlangfahren. Dachtest du, dass das keinem auffällt? Spiel jetzt bitte nicht die Unschuldige. Dafür bist du zu klug.«

Raquella dachte schnell nach. Nachdem sie das Risiko eingegangen war, Jonathan im Kampf gegen Vendetta zu helfen, hatte sie sich vorgenommen, ihn nie wiederzusehen. Sie musste zugeben, dass sie für einen kurzen Moment neugierig war, wie es dem Lightsider anschließend ergangen war, aber es gab keinen Zweifel daran, dass ihr Meister sie umbringen würde, wenn er herausfände, dass sie mit ihm gesprochen hatte. Sie wollte seine Geduld nicht weiter auf die Probe stellen. Andererseits war Marianne sehr klug und äußerst gefährlich. Sich mit ihr anzulegen, war auch keine gute Idee.

»Was für eine Nachricht?«

»Zuerst lass ihn wissen, dass ich ihm verziehen habe.« Sie lächelte kühl. »Seine Taten haben mir, meinem Ruf und vor allem meinem Geldbeutel geschadet. Aber ich bin sozusagen bereit, das Kriegsbeil zu begraben. Vergeltung ist kein lohnendes Geschäft, abgesehen davon glaube ich nicht, dass dein Meister so großmütig sein wird, wenn er sich erholt hat. Jonathan wird ohnehin schon in genug Schwierigkeiten stecken.«

Raquella zuckte mit den Schultern.

»Ich werde es ihm ausrichten, wenn er mir über den Weg läuft. Sonst noch was?«

»Ein kleiner Vogel hat mir zugezwitschert, dass jemand Fragen über den Mord an James Arkel stellt. Falls derjenige darauf Antworten findet, möchte ich diese gerne auch erfahren.« Marianne lächelte. »Ich bin bereit, ihm zu vergeben. Das ist das Mindeste, was Jonathan für mich tun kann. Verstanden?«

Raquella nickte und biss sich auf die Unterlippe.

»Ausgezeichnet. Genau zur richtigen Zeit.«

Ein schwarzes Pferdefuhrwerk näherte sich, es wurde gelenkt von einer hünenhaften, riesigen Gestalt. Als es auf ihrer Höhe anhielt, sprang ein kleiner, zappeliger Mann heraus und hielt Marianne die Tür auf. Plötzlich kam Raquella ein Gedanke.

»Marianne?«

Die Kopfgeldjägerin neigte den Kopf zur Seite.

»Warum tust du das?«

Marianne lächelte.

»Ich hatte schon immer eine Schwäche für den Kleinen«, erwiderte sie sanft und schwang sich in die Kutsche. Der kleine Mann folgte ihr und kurz darauf war der Widerhall der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster in der Dunkelheit verklungen. Raquella blieb unter der Straßenlampe zurück und machte ein nachdenkliches Gesicht.

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Es war schon stockfinster, als Raquella endlich am Haus ihrer Eltern ankam, und sie wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr jüngster Bruder, Daniel, lief weinend draußen auf der Straße herum. Raquella nahm ihn in die Arme.

»Danny? Was ist passiert?«

Der kleine Junge sagte nichts und schmiegte sich an seine Schwester. Die Eingangstür stand weit offen. Raquella betrat zaghaft das Haus. In ihr keimte eine dunkle Vorahnung auf. Das Licht war aus, und die Eingangshalle, normalerweise ein belebter Ort voller hüpfender Kinder, war verwaist.

»Mama?«, rief sie. »Ich habe Danny draußen gefunden. Wo bist du?«

Niemand antwortete.

»Mama? Papa?«

Das Erdgeschoss war leer. Raquella stieg die Treppe hinauf und hatte plötzlich Angst vor dem, was sie vorfinden würde. Am Ende der Treppe befand sich das beengte Schlafzimmer ihrer Eltern. Als sie die Tür öffnete, erblickte sie ihre Mutter, die auf dem Bett lag. Sie hatte den Kopf zur Seite gedreht und starrte aus dem Fenster auf die Straße. Raquellas Geschwister hatten sich um sie versammelt und blickten sie sorgenvoll an.

»Was in Darksides Namen ist hier los? Wo ist Papa?«

Eine Pause entstand.

»Er ist gegangen«, flüsterte ihre Mutter dann.

»Gegangen? Wohin?«

Ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, reichte ihre Mutter Raquella eine Nachricht. Ihre Hände zitterten, als sie sie las.

Meine geliebte Georgina,
ich habe mich immer davor gefürchtet, dass dieser Tag kommen würde. Jahrelang habe ich ein schreckliches Geheimnis bewahrt. Viele Nächte habe ich darüber nachgedacht, es Dir zu erzählen, aber ich wusste, dass ich damit Dich und die Kinder in Gefahr bringen würde. Ich weiß, dass nun die Stunde der Abrechnung gekommen ist, und ich muss mich ihr alleine stellen, weil ich sonst alle, die ich liebe, einer unvorstellbaren Gefahr aussetzen würde. Ein Leben ohne Dich ist nicht lebenswert, aber ich hoffe, dass ich eines Tages in der Lage sein werde, zu Dir zurückzukehren, meine Liebste. In der Zwischenzeit passt bitte gut auf Euch auf.
Dein Dich liebender Ehemann
William

»Ich … ich verstehe das nicht«, stammelte Raquella. »Welches Geheimnis meint er? Wohin ist er gegangen? Was ist hier los, Mama?«

Georgina beantwortete die Fragen ihrer Tochter nicht.

»Oh, mein geliebter William«, flüsterte sie. »Was hast du bloß getan?«