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Carnegie lag ausgestreckt auf dem Kanapee in seinem Büro und kaute genüsslich auf einem Stück Fleisch undefinierbarer Herkunft. Das Geräusch seiner Zähne, die sich durch das Muskelfleisch und das Fett arbeiteten, erfüllte den Raum. Hin und wieder grunzte er zufrieden. Als Jonathan aus dem Nebenzimmer den Raum betrat, blickte der Wermensch ihn unverhohlen amüsiert an.

»Fühlst du dich jetzt besser, nachdem du dich umgezogen hast?«

Jonathan sah an sich herunter und zuckte mit den Schultern. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, Hemden und Westen zu tragen, dass er sich in seiner Lightside-Kleidung so unwohl fühlte, als trüge er eine Schuluniform. Seit er das erste Mal nach Darkside gekommen war, war er immer unsicherer geworden, was denn eigentlich »normal« war.

»Ich würde nicht sagen besser«, entgegnete er. »Ich habe mich nur verändert. Du bist dir sicher, dass du nicht mitkommen willst?«

Carnegie schüttelte den Kopf und warf das Stück Fleisch aus dem Fenster.

»Lightside ist einfach nichts für mich. Es gibt hier viel zu tun, während du weg bist. Außerdem hast du deinen Vater eine ganze Weile nicht gesehen. Es ist gut, wenn du etwas Zeit mit ihm verbringst, ohne dass ich im Hintergrund herumschleiche.«

Er blickte aus dem Fenster und schätzte anhand des Sonnenstandes die Uhrzeit.

»Wir nehmen besser eine Droschke. Dein äußeres Erscheinungsbild könnte auf der Hauptstraße Aufmerksamkeit erregen, und das wäre nicht gut.«

»Wohin gehen wir?«

»Zu einem Übergang, den ich ein paar Mal benutzt habe. Wir werden einige Zeit dorthin brauchen, aber es ist sicherer so.«

»Langweilig«, sagte Jonathan gedehnt.

»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich für meinen Teil kann hin und wieder gut etwas Langeweile gebrauchen.«

»Spielverderber.«

Der Wermensch hielt inne und bedachte ihn mit einem rätselhaften Blick.

»Ja«, brummte er. »Du hast dich wirklich verändert.«

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Die Droschke rumpelte über holpriges Kopfsteinpflaster unter schmiedeeisernen Eisenbahnbrücken hindurch und düstere Straßen entlang, die von riesigen Fabriken gesäumt waren. Jonathan starrte aus dem Fenster und war von der schieren Größe der Schattenwelt überwältigt. Straßen kreuzten sich, wanden sich umeinander und bildeten ein kompliziertes Netz. Pöbelnde Menschenmengen schienen sich an jeder Straßenecke zusammenzurotten. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Darkside so groß war. Es schien fast, als wäre es lebendig: ein schmutziger, kranker Organismus, der seine Lungen mit Rauch füllte.

Schließlich bog die Droschke auf einen ruhigen Platz ein. Kleine Läden, die allen möglichen Krimskrams feilboten, dösten in der Nachmittagssonne. In der Mitte des Platzes spazierten wohlhabende Damen Arm in Arm in einem kleinen eingezäunten Park herum. Es herrschte eine ruhige, geradezu kultivierte Atmosphäre.

»Es ist irgendwie anders hier«, bemerkte Jonathan.

Carnegie verzog das Gesicht.

»Das ist die ›Allee der Abgeschiedenheit‹. Sie liegt am äußeren Rand von Darkside. Einige dieser Leute sind ziemlich hochnäsig und tun so, als kämen sie aus einem anderen Teil der Stadt. Im Grunde ihres Herzens sind sie aber genauso wie der Rest von uns. Diebe und Mörder durch und durch.«

Auf ein Zeichen von Carnegie hin hielt die Droschke zögerlich vor »Bauernfänger Karten und Globen« an. Jonathan sprang hinaus und betrachtete das Schaufenster, während Carnegie mit dem Fahrer feilschte. Eine alte, vergilbte Landkarte aus Pergamentpapier lag in der Auslage. Darauf war ein seltsames Land abgebildet, das Jonathan nie zuvor gesehen hatte. Die Ortsnamen und Richtungsangaben waren alle auf Spanisch. Als er den Wermenschen hinter sich herannahen hörte, deutete Jonathan auf die Karte.

»Was ist das?«

Carnegie starrte ihn verwirrt an.

»Ich dachte, du würdest es erkennen. Hast du noch nie von Amerika gehört?«

Jonathan blickte nochmals auf die unvertraute Landmasse. Die Karte musste Jahrhunderte alt sein. Es gab keinerlei Ähnlichkeit mit dem Kontinent, den er kannte. Er dachte kurz daran, etwas zu sagen, entschied sich dann aber dagegen.

Im Laden war es beengt und schmuddelig. Riesige Spinnweben breiteten sich zwischen altertümlichen Navigationsinstrumenten aus: Kompasse, Sextanten und sogar ein altes Steuerrad baumelten von der Decke. Die Globen drehten sich sanft im Luftzug und quietschen leise. Überall, wo Jonathan hinsah, hingen Karten von der Decke wie Bettlaken auf einer Wäscheleine. Er war überrascht zu sehen, dass die meisten von ihnen vorgaben, Länder und Kontinente aus Lightside darzustellen. Etwas weniger verwunderte ihn die Tatsache, dass keine der Abbildungen auch nur die geringste Ähnlichkeit mit der Realität besaß. Manche waren alte, ungenaue Skizzen, wohingegen andere – wie zum Beispiel ein sternförmiges China – völlig frei erfunden waren. Eine besonders kunstvolle und ungewöhnliche Karte stach Jonathan ins Auge: ein verschlungenes Labyrinth von schwarzen Strichen. Aufgeregt stellte er fest, dass er auf eine Karte von Darkside blickte.

Eine alte Dame mit dunklem Haar saß hinter einem Tresen in der Ecke des Ladens und summte leise vor sich hin. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Wermenschen erblickte.

»Elias! Wir haben uns so lange nicht gesehen, mein Lieber!«

Ihre Stimme klang sanft, mit einem leichten ausländischen Akzent. Carnegie lüftete seinen Hut und verbeugte sich mit einer Eleganz, die Jonathan sprachlos machte.

»Sehr zu meinem Bedauern, Carmen. Ich wurde durch gewisse Umstände aufgehalten. Genauer gesagt, durch diesen Jungen.«

Carmen erhob sich von ihrem Stuhl und musterte Jonathan.

»Seiner Kleidung nach zu urteilen, würde ich sagen, er ist nicht aus Darkside. Möchte das Kind in das andere London zurückkehren?«

»Du hast wie immer recht, meine Liebe. Würdest du es ihm ermöglichen, deinen Keller aufzusuchen? Es handelt sich nur um eine Rückreise.«

»Selbstverständlich. Es wird dich aber trotzdem zwei Schilling kosten.«

»Zwei? Das ist aber eine ordentliche Preiserhöhung.«

Carmen breitete bedauernd die Arme aus.

»Dies sind schwierige Zeiten. Jedermann weiß, dass der Ripper krank ist. Veränderungen liegen in der Luft. Die Leute interessieren sich nicht mehr so für Karten und Globen. Ich muss sehen, wie ich über die Runden komme.«

Carnegie kramte in seinen Taschen und fand schließlich zwei glänzende Münzen. Carmen nahm sie eilig entgegen, und bevor Jonathan einmal geblinzelt hatte, waren sie zwischen den Falten ihres Rocks verschwunden. Sie bedeutete Jonathan, ihr zu folgen, und verschwand durch einen mit Perlenschnüren verhangenen Durchgang. Im dahinter liegenden Flur schob sie mit dem Fuß einen kleinen Teppich beiseite. Im Boden war eine Falltür eingelassen. Unter leichtem Stöhnen hob Carmen die Klappe hoch, trat zur Seite und machte eine ausladende Handbewegung, wie die Assistentin eines Zauberers.

»Ta-daaa«, flötete sie grinsend.

Jonathan spähte nach unten. Er konnte lediglich eine Reihe von Steinstufen erkennen, die in die Dunkelheit führten.

»Das ist alles?«

Carmen entzündete eine Kerze und reichte sie ihm.

»Das ist alles. Du musst nur die Stufen hinabsteigen und dann den Gang entlanglaufen. Mehr musst du nicht tun.«

Sie drehte sich um und marschierte zurück in den Laden. Die Falten ihres Rocks tanzten um ihre Knöchel wie kleine Hundewelpen. Carnegie beobachtete sie mit Bewunderung.

»Tolle Frau, diese Carmen. Obwohl sie skrupelloser ist als die meisten Diebe in dieser Gegend. Zwei Schilling sind reiner Wucher.«

Als der Wermensch ihm zum Abschied die Hand gab, wurde Jonathan plötzlich bewusst, wie sehr er ihn vermissen würde. Sie hatten in den letzten Monaten die meiste Zeit zusammen verbracht. Jonathan wäre mehrmals beinahe getötet worden (mehr als einmal sogar fast durch Carnegies Hände), aber jedes Mal, wenn er morgens aufwachte, fühlte er sich lebendig. Er spürte, wie das Blut in freudiger Erwartung dessen, was als Nächstes passieren würde, durch seine Adern strömte. Der Wermensch hatte ihm nicht nur das Leben gerettet, er hatte ihm auch eine völlig neue und aufregende Welt gezeigt.

Carnegie räusperte sich verlegen und beendete die unangenehme Stille.

»Denk nicht einmal daran, mich zu umarmen, oder du wirst es bereuen, Junge.«

»Das hatte ich auch nicht vor.«

»Gut … also, ähm … bestell deinem Vater schöne Grüße von mir. Und pass auf, dass du am Leben bleibst.«

Carnegie sprach den letzten Satz sehr schnell aus und blickte verschämt zur Seite. Jonathan lächelte.

»Ja. Du auch. Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder.«

Er hielt seine Hand schützend vor die Kerzenflamme, stieg vorsichtig die Stufen hinab und verschwand in der Finsternis.

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Jonathan hatte sich so sehr an böse Überraschungen gewöhnt, dass er fast ein wenig enttäuscht war, als die Reise sich nun so unkompliziert gestaltete, wie Carmen es vorausgesagt hatte: Die Stufen führten zu einem Gang, der sich ungefähr einhundert Meter lang aufwärts wand und dann abrupt vor einer Tür endete. Trotzdem spürte er, wie sich ihm die Brust zuschnürte und ihm übel wurde, als er sich der Tür näherte. Sein Puls raste und ein stechender Schmerz breitete sich in seinen Schläfen aus. Er wusste, dass das Durchqueren des Übergangs unschöne Nebenwirkungen hatte. Die faulige Atmosphäre von Darkside war für Fremde genauso giftig, wie sie für die Einwohner lebenswichtig war. Als Halbdarksider sollte Jonathan eigentlich besser damit zurechtkommen, aber selbst er hatte Schmerzen. Er dachte an seinen Vater, der vor vielen Jahren zwischen den Welten gewandelt war, und fragte sich, wie sehr es ihn geschmerzt haben musste.

Jonathan sank auf die Knie und konzentrierte sich darauf, langsam und tief zu atmen. Nach einigen Minuten ließen die Schmerzen nach, aber die Übelkeit blieb. Er erhob sich und öffnete langsam die Tür. Sie führte auf eine schmutzige, verlassene Gasse, an deren Rändern leere Holzkisten und überquellende Mülltonnen standen. Als Jonathan die Tür hinter sich zuzog, bemerkte er, dass das eine Ende eine Sackgasse war, während das andere in eine sehr belebte Straße mündete. Menschenmassen strömten vorbei: Es waren Lightsider. Er war zu Hause. Jonathan atmete tief durch und marschierte durch die Gasse der untergehenden Sonne entgegen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er sich auf der Oxford-Street befand.

Als Jonathan jünger gewesen war, war er unzählige Male diese berühmte Straße entlanggelaufen und hatte sich durch die Menschenmenge gedrängt, die über die Bürgersteige in die großen Kaufhäuser strömte. Was ihm einst so banal und vertraut vorkommen war, erschien ihm nun fremd. Der Gestank nach Abwasser und Pferdemist, der in Darkside stets in der Luft hing, war fort, und die Luft hier fühlte sich im Vergleich dazu kalt und steril an. Anstatt der Pferdefuhrwerke wälzte sich eine Reihe roter Busse die Straße entlang. Der Motorenlärm und Benzingestank überwältigten Jonathan. Nahezu jeder, der vorbeilief, sprach in sein Mobiltelefon, das er zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt hatte, während er seine Einkaufstaschen neu ordnete. An jedem Geschäft leuchteten Bildschirme und Reklametafeln.

Aber es ging um mehr als die Technik. Während sich Jonathan in Darkside von jedem Passanten bedroht fühlte, beachtete ihn hier niemand. Er war einfach nur ein Jugendlicher. Mit Paketen und Einkaufstaschen beladene Pärchen drängten sich an ihm vorbei, lächelten und tuschelten miteinander. Als Jonathan die Lichterketten erblickte, die über die Straße gespannt waren, fiel ihm ein, dass es Anfang Dezember war und die Leute Weihnachtseinkäufe tätigten. Von überall her lächelten Weihnachtsmänner. Kein Wunder, dass die Straße so überfüllt war.

Ein Stückchen weiter unten hatte man einen Teil der Oxford-Street für den Verkehr gesperrt, sodass die Fußgänger mehr Platz hatten. Jonathan gesellte sich in der Mitte der Straße zu ihnen und erfreute sich an dem angenehm ebenen Asphalt. Nach den Wochen in Darkside hatten sich seine Füße an das holprige Kopfsteinpflaster gewöhnt. Er bewegte sich langsam wie ein Tourist und bewunderte jedes Detail. Musik schallte aus den Geschäften. Nicht die Art krächzender Musik, die Carnegie in seinen Gemächern auf seinem Grammofon hörte, sondern durchdringend hämmernde Technobeats.

Vor ihm hatte sich ein Kreis um einen Straßenkünstler herum gebildet, der gerade seine Darbietung anpries: »Meine Damen und Herren! Ich sollte an dieser Stelle erwähnen, dass ich den folgenden Trick erst nach jahrelanger Unterweisung durch die Großmeister dieser geheimen Kunst wagen kann.« Er machte eine Pause. »Sollte also etwas schiefgehen, so ist es ihre Schuld und nicht meine.«

Die Zuschauer flüsterten nervös. Jonathan drehte sich um und sah, wie eine Stichflamme über ihre Köpfe hinweg in den Himmel schoss. Die Zuschauer klatschten und jubelten, wobei sie eine Gasse bildeten, die gerade breit genug war, dass Jonathan einen Blick auf den Feuerspucker erhaschen konnte.

Es war Correlli. Selbst in der klirrenden Kälte trug er nur seine rote Weste und setzte somit seine gebräunte Brust der Kraft der Elemente aus. Im Licht des Sonnenuntergangs konnte Jonathan mehr von seiner Erscheinung erkennen als bei ihrer letzten Begegnung. Der Feuerschlucker war älter, als er gedacht hatte. Er besaß die bullige Figur eines Ringers, aber sein dünnes Haar war bereits von grauen Strähnen durchzogen. Was um Himmels willen machte er hier in Lightside? Während Jonathan mit offenem Mund dastand, trafen sich ihre Blicke.

Correlli starrte ihn ein paar Sekunden lang an, reagierte aber nicht. Dann erstickte er seine brennende Fackel in einem Wassereimer und wandte sich an das Publikum.

»Und nun, meine Damen und Herren, brauche ich einen Freiwilligen, der mir bei meinem gefährlichsten Trick assistiert. Mal sehen … dort hinten sehe ich einen geeigneten Kandidaten. Wie wäre es mit Ihnen, Sir?«

Er lächelte und deutet mit seiner Fackel genau auf Jonathans Herz.