13
In dieser Nacht warf sich Jonathan in seinem alten Bett unruhig hin und her und strampelte mit den Beinen unter der Bettdecke. In seinen Albträumen wurde er von einer schrecklichen Kreatur verfolgt, einer Mischung aus Bestie, Feuer und Schatten. Er hörte das Stampfen ihrer Füße. Langsame, zielstrebige Schritte, die nicht schneller wurden, aber auch nie anhielten. Jonathan wollte rennen, aber er spürte, dass seine Füße im Schlamm feststeckten. In seinem Traum verschmolzen die Orte aus seiner Vergangenheit miteinander. Quälend langsam verließ er die Hauptstraße und gelangte zu dem Spielplatz seiner alten Schule. Auf der anderen Straßenseite befand sich das Glashaus von Vendetta Heights. Jonathan stolperte daran vorbei und erreichte die Büros des »Darkside Kurier«. Dort kam die Bestie schließlich zum Stehen. Eine Welle der Erleichterung durchströmte Jonathan, bis er über seine Schulter blickte und feststellte, warum sie innegehalten hatte. Theresa arbeitete an ihrem alten Schreibtisch, den Rücken der Bestie zugewandt. Die Bestie knurrte leise und trottete auf sie zu …
Jonathan wachte schreiend und schweißgebadet auf. Als er sich später unter dem kraftvollen Wasserstrahl der Dusche wieder entspannte, beschloss er, so schnell wie möglich nach Darkside zurückzukehren.
An diesem Morgen verabschiedete er sich. Der Himmel war düster und mit schweren dunklen Wolken verhangen. Jonathan umarmte seinen Vater am Ende der Auffahrt, während Miss Elwood niedergeschlagen hinter ihnen herumschlich.
»Es tut mir leid, dass du so schnell wieder gehen musst«, sagte Alain.
»Ja, mir auch. Aber ich muss herausfinden, was geschehen ist.«
»Lass uns dich wenigstens bis zum Übergang begleiten.«
»Nö. Ich schaff das schon. Es ist eine lange Reise und du musst wieder zu Kräften kommen. Und außerdem«, fügte Jonathan mit einem Lächeln hinzu, »möchte ich nicht, dass du mir gegenüber in der Öffentlichkeit zu sentimental wirst.«
Alain grinste. »Na gut!«
»Sieh zu, dass du uns so oft wie möglich eine Nachricht zukommen lässt«, warf Miss Elwood ein. »Wir müssen wissen, ob es dir gut geht!«
»Das mache ich. Versucht, euch keine Sorgen zu machen. Ich habe Carnegie dabei.«
Sie verzog das Gesicht.
»Das beruhigt uns nicht sonderlich.«
Alain umarmte ihn nochmals und blickte ihm direkt in die Augen.
»Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte er sanft. »Das weißt du doch, mein Sohn, oder?«
Jonathan hatte einen Kloß im Hals, nickte, drehte sich um und ging eilig davon. Er blickte nicht zurück, als er die Straße entlanglief, da er fürchtete, es sich sonst anders zu überlegen. Ein Teil von ihm wäre gerne noch eine Zeit lang zu Hause geblieben – bis Weihnachten oder sogar noch länger. Vielleicht wären die Erinnerungen an Darkside mit all seinen grausamen Bewohnern und der allgegenwärtigen Gefahr einfach irgendwann verblasst. Letzten Endes wusste Jonathan nicht genau, was er tun würde, wenn er wieder dort war. Es war klar, dass seine Mutter hier etwas gesehen hatte, das sie dazu bewegt hatte, nach Darkside zurückzueilen, aber was war das gewesen? Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es etwas mit den Gentlemen und James Arkels Tod zu tun hatte, aber er konnte es nicht beweisen.
Als er die U-Bahn-Haltestelle betrat und in einen Zug stieg, wurde Jonathan sich einer Sache bewusst: Er hatte zum ersten Mal die Stimme seiner Mutter gehört, eine melodische Stimme mit einem irischen Akzent, und er hatte sich ihr nie zuvor so nahe gefühlt. Die Schule und der Alltag mussten warten. Er musste unbedingt herausfinden, was mit seiner Mutter geschehen war.
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Elias Carnegie spürte, wie das Tier in ihm erwachte. Es war später Nachmittag auf der Fitzwilliam-Straße. Die Atmosphäre war angespannt. Eine Windböe erfasste die Seiten einer alten Ausgabe des »Kuriers« und ließ sie in Spiralen durch die Luft tanzen. Auf dem Kopfsteinpflaster hallten die Tritte der Pferdehufe wider. Die Sonne tauchte hinter den Dächern ab und erleuchtete zum Abschied mit einem letzten, blassen Strahl den Wermenschen, der die Straße entlangstapfte und offensichtlich die Pferdefuhrwerke nicht wahrnahm, die an ihm vorbeidonnerten und ihn nur um Zentimeter verfehlten.
Carnegies Sinne waren so sehr geschärft, dass ihn die Eindrücke zu überwältigen drohten: der Geruch von Pferdemist auf den Röcken der Waschfrauen; das Klirren einer Münze, die gegen einen Laternenpfahl am anderen Ende der Straße geschnippt wurde, der Umriss einer Waffe, die sich unter der Jacke eines Passanten abzeichnete. Aber vor allem nahm er das Fleisch und das Blut um sich herum wahr. Carnegie hatte den ganzen Tag in seinen Gemächern verbracht und war nochmals die Details des Rafferty-Falls durchgegangen. Dabei hatte er vergessen, etwas zu essen. Nun war das Tier in ihm hungrig, und er musste es zufriedenstellen, bevor es ihn überwältigte. Jeden Tag führten die beiden Wesen in seiner Brust einen Kampf. Manchmal fühlte Carnegie sich so erschöpft, dass er am liebsten aufgegeben und sich der Kraft und den tierischen Freuden der Bestie hingegeben hätte. Das Leben erschien ihm so viel einfacher, wenn er sich verwandelte. Es gab dann keine Grauzonen mehr, alles war nur noch schwarz und weiß. Und rot. Er fragte sich, ob Jonathan jemals verstehen würde, wie schwierig es für ihn war. Trotz der Zuneigung, die er für den Jungen empfand, gab es Zeiten, in denen Carnegie ihn ansah und nur Fett, Muskeln und Knochen wahrnahm. In diesen Momenten war Jonathans Leben in Gefahr.
Finstere Gedanken. Carnegie betrat eilig die Metzgerei und lenkte mit einer knappen Handbewegung die Aufmerksamkeit des Mannes hinter dem Tresen auf sich. Col blieb die freundliche Begrüßung im Hals stecken. Er bedeutete Carnegie grimmig, nach hinten in den Kühlraum durchzugehen, und steckte sich, nachdem der Wermensch außer Sicht war, ein Hackbeil in den Gürtel, bevor er sich dem nächsten Kunden zuwandte.
Obwohl er seinen dampfenden Atem in der kalten Umgebung des Kühlraums sehen konnte, nahm Carnegie den Temperaturwechsel nicht wahr. Seine Aufmerksamkeit galt den Fleischbrocken, die von der Decke hingen. Er beäugte sie fachmännisch, bevor er sich für den entschied, der neben ihm hing. Plötzlich war der heruntergekommene Privatdetektiv verschwunden und ein ausgehungertes Tier stürzte sich mit scharfen Klauen und Reißzähnen auf den Fleischbrocken, es verschlang die herausgerissenen Stücke, ohne nachzudenken oder lange zu kauen. Getrocknetes Blut befleckte sein Gesicht und seine Hände.
Erst als er seine Finger sauber leckte, bemerkte er, dass er nicht alleine war. Die Kälte hatte zwar seinen Geruchsinn betäubt, aber er hörte flache Atemzüge irgendwo im Raum. Der Wermensch grinste wölfisch.
»Ich bin noch nicht satt«, rief er. »Es ist immer noch Platz für etwas warmes Fleisch. Warum kommst du nicht aus deinem Versteck, wer auch immer du bist, und wir reden darüber?«
Auf der anderen Seite des Raums trat Raquella hinter einem Regal hervor. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Ihr dicker Wollmantel, der Hut, der Schal und die Handschuhe hoben sich deutlich von der weißen Wand des Kühlraums ab. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, vielleicht vor Kälte, vielleicht vor Angst. Bei Carnegie hingegen pulsierte das Blut in den Adern. Er widerstand dem Drang, sich auf das Mädchen zu stürzen, und hob langsam eine Augenbraue an.
»Ein freundliches Gesicht. Was für eine Überraschung.«
»Ich bedauere, Sie zu stören, Mister Carnegie, aber die Angelegenheit ist dringend.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ich scheine auf meine alten Tage berechenbar zu werden. Gehe ich recht in der Annahme, dass du nicht lange auf mich warten musstest?«
»Eine Stunde, vielleicht zwei. Nicht lange.«
Carnegie leckte sich die Reißzähne. Tief in seinem Inneren drängte ihn eine Stimme, ruhig zu bleiben, sie nicht zu töten und ihr lieber noch eine Frage zu stellen …
»Wie bist du hereingekommen?«
»Ich habe mich an dem Metzger vorbeigeschlichen, als er nicht hingesehen hat. Es war nicht schwierig.«
»Es mag vielleicht ein bisschen altmodisch klingen, aber du hättest mich in meinen Räumlichkeiten aufsuchen können.«
»Niemand soll sehen, dass ich Sie aufsuche. Es geht nicht nur um Vendetta – es gibt auch noch andere Gründe …«
Ihre Stimme zitterte, aber sie riss sich zusammen, stand aufrecht da und blickte Carnegie direkt in die Augen. Sie arbeitet für Vendetta, ermahnte er sich. Sie hat dem Tod schon öfter ins Auge geblickt. Der Wermensch spürte, wie sein Puls sank und Mitleid in ihm aufkeimte.
»Du hast mich beim Essen beobachtet?«
Sie nickte.
»Verzeih mir. Meine Tischmanieren sind nicht die besten.«
Zum ersten Mal lächelte Raquella.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Mister Carnegie. Ich habe einen kleinen Bruder. Sie können mir glauben, ich habe schon Schlimmeres gesehen.«
Carnegie lachte heiser und die Bestie in ihm verzog sich grollend in eine dunkle Ecke seiner Seele.
»Komm mit. Hier können wir nicht reden. Wir werden einen Weg finden, dich in meine Wohnung zu schmuggeln.«
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Von seinem Beobachtungsposten am Fenster in Carnegies Arbeitszimmer sah Jonathan den Wermenschen die Metzgerei verlassen und mit einem großen, in ein weißes Tuch gewickelten Stück Fleisch in seinen Armen die Straße überqueren. Die Rückreise aus Lightside war ereignislos verlaufen, aber er hatte eine Ewigkeit gebraucht, um von der Allee der Abgeschiedenheit zur Fitzwilliam-Straße zu gelangen. Als er Darkside durchquerte, spürte Jonathan, wie die faulige Atmosphäre der Schattenwelt ihn durchdrang, unter seine Fingernägel kroch und sich in seinen Haaren festsetzte. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber es war kein gänzlich unangenehmes Gefühl.
Er trat vom Fenster zurück, als er Carnegie die Treppen hoch poltern hörte. Der Wermensch trat mit dem Fuß die Tür auf. Er kämpfte sich mit dem großen Stück Fleisch in seinen Armen ab und registrierte gelassen Jonathans Anwesenheit.
»Oh. Du bist wieder zurück. Zieh die Vorhänge zu, Junge.«
Jonathan tat, wie ihm geheißen war, und das Arbeitszimmer verdunkelte sich. Er ging hinüber zur Wand und drehte einige Gaslampen auf. Als Carnegie seinen Kampf mit dem Paket aufgab und es zu Boden fallen ließ, sah Jonathan das Blut in seinen Mundwinkeln und den abwesenden, animalischen Blick in seinen Augen. Das Bündel bewegte sich und ein schwarzer Stiefel sowie ein vertrauter, leuchtend roter Haarschopf kamen zum Vorschein.
»Raquella! Geht es dir gut?«
Jonathan starrte Carnegie an – fraß er jetzt schon seine Bekannten auf? Der Wermensch bemerkte seinen entsetzten Blick und schnaubte.
»Keine Sorge, Junge. Ich bin satt.«
»Ich wollte nicht … ich dachte nur …« Jonathan stammelte auf der Suche nach einer Antwort schuldbewusst vor sich hin.
»Dann halt uns nicht auf!«
Raquella befreite sich aus dem Tuch, stand auf und strich ihre Kleidung glatt. Sie bedachte Carnegie mit einem unheilvollen Blick und wandte sich anschließend Jonathan zu.
»Du bist ja ein echter Kavalier«, zischte sie angesäuert. »Ich dachte, ihr Lightsider hättet Manieren.«
»Ich bin nur überrascht, dich zu sehen, das ist alles. Was machst du hier? Wird Vendetta dich nicht umbringen, wenn er das herausfindet?«
»Er ist noch dabei, sich zu erholen. Außerdem haben wir Vorsichtsmaßnahmen getroffen, wie du sehen konntest.« Sie warf einen verärgerten Seitenblick auf Carnegie. »Obwohl ich mir immer noch nicht vorstellen kann, dass dies der beste Plan war.«
Der Wermensch zuckte mit den Schultern.
»Du bist hier, oder nicht? Warum erzählst du uns nicht, was passiert ist?«
Raquella seufzte und setzte sich. Sie senkte den Kopf für einige Sekunden, und als sie aufblickte, sah Jonathan zu seinem Entsetzen, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Es geht um meinen Vater«, schluchzte sie verzweifelt. »Er ist verschwunden oder etwas Schlimmeres. Ich weiß es nicht. Ihr müsst mir helfen, ihn zu finden!«