3
Fahles Sonnenlicht durchflutete früh am Morgen Elias Carnegies Büro. Carnegie kauerte auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch und beäugte misstrauisch den zurückeroberten Diamantring.
»Seltsam, woran Menschen ihr Herz hängen«, murmelte er. »Ich würde nicht einmal eine Lammkeule dafür hergeben.«
Jonathan ließ sich auf dem zerschlissenen Sofa am Fenster nieder.
»Der würde dir ohnehin nicht stehen«, entgegnete er matt.
Der Wermensch bedachte ihn mit einem zornigen Blick.
»Warum gehst du nicht und wäschst dich? All das Blut macht mich hungrig und ich würde dich nur ungern auffressen.«
Jonathan stand seufzend auf und begab sich nach nebenan ins Badezimmer. Während er sich in der dumpfen Ruhe des Badewassers entspannte, schweiften seine Gedanken ab zu den Ereignissen der vergangenen Monate. Es waren erst acht Wochen vergangen, seit die Darkside-Kopfgeldjägerin Marianne versucht hatte, ihn mitten in London zu entführen. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Sein Leben war komplett auf den Kopf gestellt worden, als er entdeckt hatte, dass es in London eine verborgene Schattenwelt voller gefährlicher Kreaturen gab, in der Theresa, seine Mutter, geboren worden war. Sie wurde seit zwölf Jahren vermisst, und Jonathan wusste nicht, ob sie tot war oder noch lebte. Aber hier – in Darkside – fühlte er sich ihr irgendwie näher, als ob ein Teil seiner Seele nach jahrelangem Hungern wieder Nahrung bekäme.
Er hatte Carnegie unzählige Male gedrängt, ihm mehr über das Verschwinden seiner Mutter zu erzählen, aber der Wermensch gab sich bei diesem Thema ungewöhnlich wortkarg. Jonathan wurde vor Frust fast wahnsinnig. Er spürte, dass Carnegie mehr über Theresa wusste, als er verriet, aber egal, wie sehr er ihn drängte, er rannte gegen eine Wand. In vielerlei Hinsicht erinnerte es ihn daran, wie es war, bei seinem Vater aufzuwachsen.
Der Gedanke an Alain Starling löste eine Welle von Schuldgefühlen in ihm aus. Sein Vater erholte sich in London von seiner letzten »Finsternis«, einer Art Krämpfe, die ihn seelisch und körperlich quälten. Wenn Alain nicht gewesen wäre, hätte der Vampir Vendetta Jonathan umgebracht. Beide, Vater und Sohn, waren nur knapp mit dem Leben davongekommen. Jonathan hoffte zwar, dass es Alain unter den aufmerksamen Augen von Miss Elwood, einer Freundin der Familie, wieder besser gehen würde, aber trotzdem fühlte er sich schuldig, da er nicht zurückgekehrt war, um sich selbst davon zu überzeugen. Es schien, als sei Jonathan unwillig, Darkside zu verlassen, als fürchtete er wie sein Vater, dass etwas passieren könnte, das dazu führte, dass er nie wieder hierher zurückkehren könnte.
Nach der Aufregung in der Blutspielbank war Jonathan in eine melancholische Stimmung verfallen. Er hievte sich aus der Badewanne und trocknete sich mit einem Handtuch ab. Als er sich schließlich eine Hose und ein T-Shirt angezogen hatte und in das Büro zurückgekehrt war, hatte Carnegie Gesellschaft.
»… habe ich mich sofort auf den Weg gemacht, als ich ihre Nachricht erhielt. Haben Sie wirklich meinen Ring?«
Die Person, die sprach, war Miss Felicity Haverwell, eine wohlsituierte Dame mittleren Alters, die auf einen klassischen, recht komplizierten Hochstaplertrick von Lorcan Bracket hereingefallen war. Sie rieb sich ängstlich die Hände, während sie sprach. Carnegie nickte.
»Ja, Madam. Allerdings nicht ganz kampflos …«
Miss Haverwells Augen weiteten sich.
»Mussten Sie ihm wehtun, um ihn zurückzubekommen?«
»Sagen wir einfach, er wird sich hier eine Zeit lang nicht herumtreiben.«
»Wo ist der Ring? Darf ich ihn sehen?«
Carnegie grinste.
»Selbstverständlich dürfen Sie. Sobald Sie mich bezahlt haben.«
Sie machte ein langes Gesicht und kramte in ihrer Geldbörse.
»Oh, natürlich … Es war nicht meine Absicht …«
Jonathan warf dem Wermenschen einen vorwurfsvollen Blick zu, worauf dieser eilig fortfuhr.
»Es ist nicht so, dass ich Ihnen misstraue, Miss Haverwell. Ich hatte nur in der Vergangenheit Probleme mit einigen Klienten und bin deshalb der Meinung, dass es am besten ist, wenn wir uns an die vereinbarten Regeln halten. Ihr Ring ist unversehrt, sehen Sie?«
Er streckte ihr seine lange, schwarz behaarte Hand entgegen. Der Ring lag funkelnd in der Mitte seiner Handfläche. Bei seinem Anblick hellte sich Miss Haverwells Miene auf. Sie griff vorsichtig nach ihm, streifte ihn über ihren Finger und seufzte erleichtert.
»Oh, vielen Dank, Mister Carnegie. Ich dachte, ich würde ihn nie wieder sehen. Sie müssen wissen, er bedeutet mir so viel …«
»Gewiss«, entgegnete er gelangweilt.
»Er ist der Schlüssel zu meinem Glück …«
»Zweifelsohne.«
»Wie sollte ich bloß dies ohne ihn tun?«
Sie drückte auf den Diamant und ein feiner Sprühnebel entwich aus der Mitte des Juwels. Die Luft war schlagartig von Tausenden kleiner, schillernder Bläschen erfüllt. Jonathan starrte sie verwundert an und spürte, wie sie sanft an seiner Haut vorbeistrichen, während sie zu Boden sanken. Er dachte gerade, dass der Ring das faszinierendste Spielzeug war, das er je gesehen hatte, als um ihn herum plötzlich alles schwarz wurde.
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Wie durch einen Nebel nahm er die Hand wahr, die ihn an seinem T-Shirt packte und schüttelte.
»Kommen Sie, Sir. Stehen Sie auf«, forderte ihn eine Stimme auf.
Jonathan befand sich mitten in einem tiefen, geheimnisvollen Traum, der sich um seine Familie drehte, und er schien kurz davor, alles zu begreifen. Er wollte auf keinen Fall aufwachen, aber die Stimme ließ nicht locker. Widerwillig gab Jonathan nach und stöhnte.
Er befand sich noch in der Ecke von Carnegies Büro, wo er zusammengesackt war. Der Wermensch lag mit dem Gesicht nach unten auf seinem Schreibtisch und schnarchte sanft vor sich hin. Während sie ohnmächtig gewesen waren, hatte jemand das Büro durchwühlt, Möbel umgestoßen, Schubladen herausgerissen und Papiere auf dem Boden verteilt. Ein kleiner Junge beugte sich mit sorgenvoll geweiteten Augen über Jonathan.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Bin mir nicht ganz sicher. Wer bist du?«
»Jimmy Dancer. Arthur Blake vom ›Darkside-Kurier‹ schickt mich mit einer Nachricht für einen Elias Carnegie.« Er warf einen unsicheren Blick auf den schnarchenden Detektiv. »Isser das?«
Jonathan nickte und die Bewegung bereitete ihm Kopfschmerzen. Mühsam raffte er sich auf und schleppte sich zum Schreibtisch.
»Hab alles versucht, um ihn zu wecken«, erklärte Jimmy. »Hab ihm sogar ins Ohr geschrien.«
»Zum Glück hast du das nicht bei mir versucht. Warte mal.«
Jonathan rieb sich energisch das Gesicht und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, Carnegie aus seiner Benommenheit zu wecken.
»Such nach einer schmutzigen braunen Flasche. Sie muss irgendwo auf dem Fußboden liegen.«
Nachdem sie einige Minuten auf dem Boden herumgekrabbelt waren, entdeckte Jonathan die Flasche unter einem zerbrochenen Stuhl. Auf das zerrissene und verblasste Etikett hatte jemand Carnegies Spezialmischung gekritzelt. Er wusste nicht genau, welche Zutaten diese Mischung enthielt, und das war gut so. Er wusste allerdings, dass das Gebräu als hoch explosiver Sprengstoff zu gebrauchen war, und er hatte das ungute Gefühl, dass Carnegie es ab und zu auch trank.
Er bedeutete Jimmy zurückzutreten, hielt sich die Nase fest zu, entkorkte die Flasche und schwenkte sie unter Carnegies Nase. Der Wermensch schoss brüllend in die Höhe und schlug mit seinen Klauen um sich. Jimmy schrie vor Angst.
»Alles in Ordnung, Carnegie! Ich bin’s!«, rief Jonathan.
Der Wermensch blinzelte überrascht.
»Diese Frau – Miss Haverwell. In ihrem Ring muss eine Art Betäubungsspray gewesen sein. Es hat uns beide umgehauen. Sie hat deine ganzen Sachen durchwühlt. Vermutlich hat sie alles Wertvolle mitgenommen.«
Carnegie fluchte und richtete sich ungelenk auf.
»Was hab ich dir gesagt? Goldene Regel, Junge. Gib ihnen nie, was sie wollen, bevor sie bezahlt haben. Egal ob sie fünf oder fünfundneunzig Jahre alt sind. Also, los geht’s. Es wird Zeit, dass wir die Dame ausfindig machen und ein paar Worte mit ihr wechseln.«
Er wandte sich zur Tür, hielt dann aber inne, da er Jimmy bemerkt hatte.
»Wer zur Hölle bist du?«
»Ich habe eine Nachricht von Mister Blake vom ›Darkside-Kurier‹«, piepste der Junge und reichte ihm vorsichtig ein gefaltetes Blatt Papier. Der Detektiv las die Nachricht, starrte Jonathan an und las sie nochmals.
»So wie es aussieht, wird Miss Haverwell warten müssen«, brummte er schließlich.
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Der »Darkside-Kurier« war die einzige Zeitung in Darkside und fast so alt wie die Schattenwelt selbst. Angesichts der allgemein üblichen Haltung gegenüber Menschen, die Fragen stellten und sich in die Angelegenheiten anderer einmischten, war es erstaunlich, dass die Zeitung sich überhaupt so lange gehalten hatte. Dass sie überlebte, lag zum Teil an der unersättlichen Gier ihrer Leser, etwas über waghalsige Verbrechen und teuflische Intrigen zu lesen. Aber die Zeitung hatte auch einen praktischeren Nutzen: In einer Welt ohne Fernsehen war die beste Möglichkeit, etwas zu verkaufen, eine Anzeige auf den braunen, faltigen Seiten.
Obwohl die Zeitung geduldet wurde, war sie keineswegs beliebt. In Darkside war der Beruf des Reporters eine überaus gefährliche Art, sein Geld zu verdienen. Die Büros des Kuriers befanden sich versteckt zwischen den großen Gerbereien im Osten, weit außerhalb des Zentrums. Jimmy führte Jonathan und Carnegie zu Fuß dorthin, wobei er nie weiter als einige Meter geradeaus ging, bevor er wieder einen Haken schlug, um eine weitere Abkürzung zu nehmen. Hinter Jimmy hielt Jonathan, dessen Kopf nach wie vor benebelt war, die Augen offen. Er kannte sich inzwischen etwas besser auf der Hauptstraße und der Fitzwilliam aus, aber es gab immer noch etliche Gegenden in Darkside, die ihm völlig unbekannt waren. Außerdem wusste er, dass hier keine Straße wirklich sicher war.
Der Geruch von verkohltem Leder kündigte an, dass sie sich den Gerbereien näherten. Der Gestank war so unerträglich, dass er Jonathan zu überwältigen drohte. Imposante aus schwarzen Ziegelsteinen gemauerte Fabriken überfluteten die umliegenden Straßen mit giftigen Rauchwolken. An die Wand eines nahe gelegen Gebäudes hatte jemand ein drei Meter hohes Paar Bullenhörner mit roter Farbe geschmiert. Jonathan fröstelte. Das war sogar nach Darkside-Maßstäben eine üble Gegend.
»Sind wir bald da?«, rief er.
Jimmy zeigte auf ein unscheinbares baufälliges Gebäude, dass zwischen zwei Fabriken eingeklemmt war. Es gab kein Schild über der Eingangstür und keinen Hinweis darauf, was drinnen vor sich ging.
»Da ist es.«
Carnegie marschierte zielstrebig durch die Eingangstür in ein verlassenes Büro. Innen war es kalt und dunkel und durch die Spalten der Fensterrahmen zog der Gestank von den benachbarten Fabriken herein und verpestete die Luft. Der Boden bebte vom Poltern und Stampfen der Maschinen in einem Raum darunter. Jonathan warf Jimmy einen fragenden Blick zu.
»Druckerpressen«, erläuterte der. »Sie laufen tagsüber, damit wir nachts die Zeitung ausliefern können. Mister Blake wird oben sein.«
Während sie eine morsche Treppe hinaufstiegen, zupfte Jonathan Carnegie am Ärmel.
»Für eine Zeitung zu arbeiten, scheint hier kein Vergnügen zu sein.«
»Ist es nicht. Wenn du in Darkside Reporter sein willst, musst du entweder sehr mutig oder sehr verzweifelt sein.«
»Und was ist Mister Blake?«
»Von beidem etwas.«
Die Fenster der oberen Büros waren vernagelt, und im Schein des Kerzenlichts konnte Jonathan eine Handvoll Leute erkennen, die sich über ihre Arbeit beugten. Sie sprachen in kurzen, knappen Sätzen miteinander und wirkten wenig erfreut, als sie die Neuankömmlinge am oberen Treppenabsatz entdeckten. Jimmy führte sie zu einem heruntergekommenen Schreibtisch, an dem ein Reporter einige Fahnen begutachtete. Speckrollen quollen aus seinem Kragen und unter den Säumen seiner Ärmel hervor. Es sah so aus, als würden seine Hemdknöpfe jeden Moment den Kampf verlieren, den sie führten, um seinen mächtigen Bauch bedeckt zu halten, und wie Kugeln durch die Luft schießen. Ein Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn und er atmete stoßweise geräuschvoll durch die Nase. Bei genauerer Betrachtung war Jonathan von seinen dunkelbraunen Augen fasziniert, die einen Hinweis darauf lieferten, dass sich ein wacher Verstand hinter dieser plumpen Erscheinung verbarg.
Arthur wandte sich an Carnegie, ohne aufzublicken.
»Hast dir Zeit gelassen.«
»Wir hatten etwas Ärger im Büro. Wie dem auch sei, jetzt sind wir hier. Du hast mir eine Nachricht zukommen lassen. Was ist passiert?«
»Jemand ist ermordet worden. Ziemlich unschön sogar. Kommt mit ins Büro des Herausgebers, da erzähl ich euch alles.«
Arthur schälte sich aus seinem Stuhl und watschelte ans andere Ende des Büros, an dem eine schmale Treppe zu den Privaträumen führte. Während sie die Treppenstufen erklommen, rief er Carnegie über die Schulter zu.
»Wer ist der Junge?«
»Sein Name ist Jonathan. Jonathan Starling.«
Der Reporter blieb abrupt stehen. Dann drehte er sich um und warf Carnegie einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Starling, wie Theresas Sohn?«
Der Wermensch nickte zaghaft.
»Was soll das?«, rief Jonathan. »Woher kennen sie meine Mutter?«
Arthur Blake hielt einen Moment inne, bevor er trübsinnig antwortete.
»Jeder hier kennt Theresa Starling. Sie hat in diesem Büro gearbeitet.«