18

Raquella schlief in ihrem Zimmer, als er zu ihr kam. Sie wurde von Albträumen geplagt, und als sich die Tür mit einem Knarren öffnete, war sie sofort wach. Sie setzte sich rasch auf und zog die Decke hoch. Die Silhouette von Vendetta, der sich schwerfällig auf seinen Gehstock stützte, hob sich deutlich gegen den hellen Flur im Hintergrund ab. Obwohl sein überraschender Besuch sie verunsicherte, schlug sie einen selbstsicheren, fast vorwurfsvollen Ton an.

»Es ist spät, Sir. Was kann ich für Sie tun?«

Vendetta keuchte leise.

»Ich kann wieder gehen«, verkündete er mit belegter Stimme. »Zum ersten Mal seit Wochen kann ich meine Beine benutzen. Ich dachte, du würdest das vielleicht erfahren wollen.«

»Aber gewiss doch, ich bin hoch erfreut, Sir. Vergeben Sie mir, aber es ist spät, und ich habe schon geschlafen. Sicherlich wäre ich morgen früh etwas empfänglicher.«

Der Anflug eines Lächelns huschte über Vendettas Gesicht.

»Entwickelst du neuerdings einen gewissen Scharfsinn, Raquella?«

Es war das erste Mal seit Langem, dass er sie mit ihrem Namen angesprochen hatte. Es gefiel ihr nicht, wie er aus seinem Munde klang.

»Ich denke, das sollte man unterstützen … bis zu einem gewissen Punkt. Ich habe dich nicht nur geweckt, um dir meine Fortschritte zu zeigen, obwohl das an und für sich schon ein ausreichender Grund wäre. Nein, es gibt da ein Geheimnis, das ich gerne mit dir teilen möchte. Ich weiß nicht, wie du darauf reagieren wirst, aber ich dachte mir, es wäre durchaus amüsant, das herauszufinden.«

Raquellas Finger umklammerten die Bettdecke. Vendettas Stimmungsschwankungen wurden immer unberechenbarer. Sie fragte sich, ob das Gift auch sein Gehirn angegriffen hatte und er langsam verrückt wurde. Oder war er schon immer so gewesen, und sie war zu eingeschüchtert gewesen, um es zu bemerken?

»Es wäre mir eine Ehre, dieses Geheimnis zu erfahren, aber kann das nicht bis morgen warten?«

Der Vampir schwang seinen Gehstock und fegte mit ihm über Raquellas Schminktisch hinweg. Haarspangen, Familienfotos und Kosmetiktiegel fielen krachend auf den Holzboden. Das Geräusch von zersplitterndem Glas ließ Raquella zusammenzucken.

»Du stehst auf oder ich schlage dich da, wo du liegst«, fauchte Vendetta. Er machte eine Pause und eine gemäßigtere Stimmung bemächtigte sich seiner. »Ich warte draußen, während du dich anziehst. Beeil dich.«

Er schloss die Zimmertür.

Zitternd zog sich Raquella etwas an und folgte ihrem Meister. Es war halb vier Uhr morgens und in den zugigen Korridoren von Vendetta Heights war es still und kalt. Sie hörte den Wind, der wütend an den Mauern des Hauses rüttelte. Ansonsten war nur das Klopfen von Vendettas Gehstock auf dem Boden zu hören. Seine Vorfahren starrten von den Porträts an den Wänden herab. Raquella glaubte zu hören, was sie dachten: Was tut er da? Verschwendet seine Zeit mit einem einfachen Dienstmädchen. Sie ist nicht einmal würdig, um sein Tafelsilber zu polieren. Aber gleichzeitig war sich Raquella wiederum bewusst, dass er nach seinen eigenen Regeln spielte und nicht nach denen der anderen.

Sie marschierten weiter zum Westflügel von Vendetta Heights. Es war der Teil des Hauses, in dem Gäste wohnten, und er wurde nicht benutzt, seit Raquella hier arbeitete. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass jemand die Gaslampen im Flur entzündet hatte. Vendetta ignorierte die Tür zur Haupthalle, die das Zentrum des Flügels bildete, und ging weiter bis zu einer unscheinbaren Tür am Ende des Korridors. Zielsicher wählte er den richtigen Schlüssel an einem großen Schlüsselbund in seiner Tasche aus, öffnete die Tür und bedeutete Raquella, ihm zu folgen.

Der Raum hinter der Tür glich eher einem Kämmerchen denn einem Zimmer und war gerade groß genug, dass zwei Menschen darin stehen konnten. Die Luft war erfüllt von Vendettas rasselndem Atem und dem Rascheln von Raquellas Kleidung. Als sein kalter Atem über ihren Nacken strich, spürte sie auf unangenehme Weise seine Nähe. Zwei Gucklöcher waren in die Wand geschnitten worden, die, wie das Dienstmädchen feststellte, einen Blick in die Haupthalle ermöglichten.

»Meine Vorfahren waren ein misstrauischer Haufen«, flüsterte Vendetta. »Ich glaube nicht, dass es in diesem Haus einen Raum gibt, den man nicht auf die eine oder andere Weise ausspionieren kann. Nicht dass ich mich normalerweise mit solchem Unsinn beschäftigen würde, aber wie du siehst, sind heute Nacht einige Dinge anders.«

Raquella bemerkte, wie er darauf wartete, dass sie durch die Gucklöcher blickte. Ihr Herz schlug schneller, als sie ihr Gesicht gegen die Wand presste. Die Beleuchtung dahinter war schummrig, sodass die Ränder des Zimmers im Verborgenen lagen. Die einzige Lichtquelle bildete ein großes Kaminfeuer, das gegen die Dunkelheit ankämpfte. Vor der Feuerstelle stand ein Mann. Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und starrte traurig in die Flammen. Es war William Joubert.

Raquella schnappte nach Luft.

»Vater? Aber was macht er hier?«

»William kam gestern Abend zu mir und sagte, er sei in Schwierigkeiten und benötige einen Unterschlupf. Ich entschied mich, ihm die Tür zu öffnen.«

»Er ist hierher gekommen und hat um Hilfe gebeten?«

»William und mich verbindet eine … gemeinsame Vergangenheit. Er hätte vor einigen Jahren mal für mich arbeiten sollen, bevor gewisse Umstände dazwischen kamen. Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass wir beide uns kennen könnten? Was glaubst du, warum ich von allen Mädchen in Darkside gerade dich eingestellt habe? Was glaubst du, warum du noch am Leben bist?«

In Raquellas Kopf drehte sich alles.

Ihr sanftmütiger, freundlicher Vater und ihr bösartiger Meister kannten sich? Welche Umstände könnten diese beiden Männer je zusammengeführt haben? Eigentlich spielte das gar keine Rolle. William befand sich in Sicherheit und versteckte sich an dem Ort in Darkside, an dem ihn niemals jemand suchen würde. Vielleicht war es möglich, dass ihre Familie trotz allem, was geschehen war, zusammenbleiben konnte.

»Sie können sich nicht vorstellen, wie meine Mutter sich freuen wird. Dies ist ein Akt großer Güte, Sir.«

Vendetta lächelte grausam.

»Nein, nicht ganz«, erwiderte er. »Du musst wissen, dass, wer auch immer hinter deinem Vater her ist, deine Mutter wie ein Adler beobachten wird. Sollte deine Mutter plötzlich regelmäßige Ausflüge nach Vendetta Heights unternehmen, würde es nicht lange dauern, bis die Verfolger eins und eins zusammenzählen. Das kann ich nicht zulassen. So weit geht meine Gastfreundschaft nicht.«

»Wollen Sie damit sagen, ich soll meiner Mutter nicht erzählen, dass mein Vater hier ist?«

»Oh, du kannst es ihr erzählen. Aber ich werde sie niemals in dieses Haus lassen, und sollte sie dennoch versuchen, sich Zutritt zu verschaffen, werden die Dinge sich schnell zum Schlechten wenden.«

Raquella war hin- und hergerissen. Sie blickte zu ihrem Vater.

»Warum?«, fragte sie verbittert.

Vendetta drückte ihr Kinn mit der Hand behutsam so weit nach oben, dass ihre Blicke sich trafen. Unter dem eiskalten Blick seiner blauen Augen lief ihr ein Schauer den Rücken hinunter.

»Las dir eines gesagt sein: Ich hätte deinen Vater draußen in der Kälte stehen lassen können, bis sie ihn zur Strecke gebracht und wie einen Hund abgeknallt hätten. Er ist nur deshalb noch am Leben, weil ich ihn hereingelassen habe, und diese Tat birgt ein gewisses Risiko für mich. Und in Anbetracht meiner momentanen Verfassung …« Er wandte seinen Blick ab. »Raquella, ich bin so, wie ich bin. Mehr Dankbarkeit kannst du von mir nicht erwarten.«

All dies war zu viel für Raquella. Sie wusste nicht, ob sie glücklich oder traurig, dankbar oder wütend sein sollte. Sie vermutete, dass Vendetta genau das von Anfang an beabsichtigt hatte. Abermals fand sie in ihrem Inneren die Ruhe, die sie die letzten Jahre in dieser gefährlichen Umgebung überleben lassen hatte.

»Darf ich mit ihm sprechen?«, fragte sie eilig.

»Aber bitte«, entgegnete Vendetta. »Dein Vater ist mein Gast.«