Prolog
Der Umschlag hatte ihn vor sieben Tagen erreicht. Als er am späten Abend an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, hatte der Umschlag dort gelegen und ihn erwartet. Ein großes schwarzes Rechteck, das sorgsam mit einem roten Band umwickelt war. Es stand kein Name darauf, und nichts deutete darauf hin, dass es mit der Post gekommen war. Rückblickend war er der Meinung, dass er vielleicht etwas vorsichtiger hätte sein sollen, ehe er den Umschlag öffnete, aber er war einfach davon ausgegangen, dass einer seiner Kollegen ihm einen Streich spielen wollte. Polizisten taten so etwas manchmal.
Deshalb war Oberinspektor Ian Shaw nicht beunruhigt, als er das Band löste und den Umschlag öffnete. Er war neugierig, aber nicht beunruhigt. Seine Hände begannen erst zu zittern, als er den Inhalt erblickte, die Fotos durchsah und die kunstvoll handgeschriebene Nachricht las, die ihm genau mitteilte, was er zu tun habe und wer die Fotos zu Gesicht bekäme, wenn er es nicht täte. Er sackte in seinem Stuhl zusammen und vergrub das Gesicht zwischen den Händen.
Sieben Tage waren inzwischen vergangen und er hatte seitdem kaum geschlafen. Shaw hatte so viel zu verlieren. Seit der Polizist mit der Untersuchung der beiden Kindesentführungen beauftragt worden war, hatte sich sein Leben grundlegend verändert. Es war ihm gelungen, einen der Jungen wieder zu seiner Mutter zu bringen, aber der zweite … – nun, Jonathan Starling galt offiziell als vermisst, doch Shaw wusste, wo er sich befand und dass er glücklich und in Sicherheit war. Die Lösung des Falls war in aller Öffentlichkeit vonstattengegangen und Shaw hatte im Mittelpunkt gestanden. Eine Beförderung und zahlreiche aufsehenerregende Zeitungsinterviews waren unmittelbar gefolgt. Seine Kollegen begegneten ihm plötzlich mit Respekt (und nicht unwesentlichem Neid), während seine Frau mit einem Stolz in der Stimme von ihm sprach, den er nie zuvor von ihr gehört hatte.
So kam es, dass er weder seine Familie noch seine Vorgesetzten darüber unterrichtete, was vor sich ging, und auch nicht den Erpressern sagte, dass sie sich zum Teufel scheren sollten. Stattdessen schlich sich Oberinspektor Shaw eines Nachts in den Keller des Polizeireviers und durchforstete alte Akten. Es beanspruchte nicht viel Zeit, denn schließlich lag der Fall Jonathan Starling noch nicht lange zurück. Danach war alles relativ einfach. Er telefonierte mit dem Labor, ordnete einen Test an und erhielt eine Menge Ergebnisse. Der Kriminaltechniker klang zwar erstaunt darüber, dass er den Test durchführen sollte, aber schlussendlich tat er es einfach. Ian Shaw war in diesen Tagen ein gewichtiger Name bei der Polizei.
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Nun stand er in Rotherhithe am Uferweg der Themse und blickte hinüber zum Südufer. In der Nachricht hatte man ihm genaue Anweisungen gegeben, wo er warten sollte. Während er mürrisch auf das aufgewühlte Wasser starrte, dachte Shaw darüber nach, dass dies der ideale Ort für zwielichtige Machenschaften war. Selbst am helllichten Tag wagten sich die Touristen nicht so weit hinaus, sie bevorzugten die breiten und belebten Uferwege nahe der Blackfriars- und Waterloobrücke. Gegen zweiundzwanzig Uhr in einer klirrend kalten Dezembernacht war dieser Stadtteil wie ausgestorben.
Er war zu Fuß zum Ufer gegangen, vorbei an den ehemaligen Fährhäusern, die einst die Seefahrer der Handelsschiffe des britischen Empires willkommen geheißen hatten, die im Streben nach Profit die Weltmeere durchsegelten. Inzwischen hatten sich die Fährhäuser in vornehme Apartmenthäuser mit Blumenkästen, Satellitenschüsseln und Alarmanlagen verwandelt. Trotzdem war es Shaw, als könne er den Widerhall der Rufe längst verstorbener Seeleute und Hafenarbeiter hören.
Die Wellen zu seinen Füßen klatschten stärker gegen die Uferbefestigung. Er blickte nochmals auf die Uhr. Aufgrund der Genauigkeit der Anweisungen war er sich sicher, dass, wer immer ihn treffen wollte, pünktlich sein würde. Nicht zum ersten Mal kam Shaw der Gedanke, dass er sich durch sein Erscheinen selbst in Gefahr begeben hatte. In der Nachricht war ihm mitgeteilt worden, dass er unbewaffnet kommen solle, aber dieser Hinweis war unnötig. Er hatte in seinem Leben noch keinen Schuss abgefeuert, und er beabsichtigte auch nicht, dies jetzt zu tun.
Die Strömung nahm zu und auf den Wellenkämmen bildete sich Schaum. Shaw nahm in der Dunkelheit eine Bewegung auf der Themse wahr, und ihm war plötzlich klar, warum man ihn angewiesen hatte, hier zu warten. Eine gedrungene Barkasse pflügte durch die Wellen auf ihn zu, mit einer Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit, die er einem solchen Gefährt nicht zugetraut hätte. Obwohl sie dampfbetrieben war, brummte sie eher, denn zu dröhnen, und aus dem Schornstein stieg in sanften Kringeln Rauch auf. Die Barkasse war komplett schwarz lackiert, und Shaw bezweifelte, dass er sie überhaupt entdeckt hätte, wenn sie nicht direkt auf ihn zugehalten hätte.
Das Boot drehte gefährlich nah am Ufer bei und schaffte es irgendwie, die Position auf den Wellen schaukelnd zu halten. Am Heck bewegte sich jemand, und eine Hand bedeutete Shaw, an Bord zu springen. Der Polizist sah sich um, stellte fest, dass ihn niemand beobachtete, und schwang sich über die Ufermauer auf den schmalen Absatz dahinter.
Obwohl die Barkasse sich bemerkenswert ruhig hielt, war sie so weit vom Ufer entfernt, dass der Sprung sich schwierig gestalten würde. Als Shaw zögerte, winkte die Hand nochmals, und von irgendwo her rief jemand: »Verflucht noch mal, kommen Sie schon!« Shaw reagierte instinktiv, sprang vom Ufer ab und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem nassen Vorschiff. Sofort wurde er von einer Hand gepackt, die ihn hochzog, und während sich die Barkasse vom Ufer entfernte, wurde Shaw mit Nachdruck in die Kajüte geschoben. Seine unsichtbare Begleitung schloss hinter ihm die Tür und zog es offenbar vor, draußen an Deck zu bleiben.
Zwei Männer erwarteten den Polizisten in der engen Kajüte. Der erste war massig wie ein Walross und grinste breit, als er aufstand, um Shaw zu begrüßen, ganz so, als träfe er einen alten Freund wieder. Vor ihm lag auf einer Platte ein Berg Hühnerschenkel, die bis auf die Knochen abgenagt waren. Der hünenhafte Begleiter des Walrosses hätte kaum einen krasseren Gegensatz darstellen können. In seinem gebügelten Anzug und seinem Zylinder wirkte er eher, als würde er zum Tanztee gehen und nicht zu einem geheimen Treffen. Sein Gesicht war zu einer dauerhaft verächtlichen Miene verzogen, die es ihm erleichterte, ein Monokel vor sein linkes Auge zu klemmen. Als er seinen Zylinder zum Gruß lüftete, stellte Shaw erstaunt fest, dass seine grauen Haare in steifen Büscheln vom Kopf abstanden und dabei aussahen wie getrocknete Pinsel in einem Becher.
»Oberinspektor Shaw!«, rief der zweite Mann mit nasaler Stimme. »Ich kenne Sie von Fotos. Ich freue mich, dass Sie zu unserem Rendezvous kommen konnten.«
»Ich gehe mal davon aus, dass Sie mir nicht Ihren Namen verraten werden«, entgegnete Shaw eisig.
Ein höhnisches Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes.
»Warum sollte es mir etwas ausmachen, ob Sie meinen Namen kennen oder nicht? Ich bin Nicholas de Quincy, aber das wird Ihnen nicht weiterhelfen. Sie werden mich in Ihren Akten nicht finden.«
Oberinspektor Shaw sank der Mut. Seit er den Umschlag erhalten hatte, hatte er gehofft, dass die Erpresser ganz gewöhnliche Strolche und Gangster von der Stange seien. Während er sich mit dem Starling-Fall beschäftigte, hatte er einen Einblick in eine andere, düstere Welt bekommen, und er hatte gehofft, diese Erfahrung nicht noch einmal machen zu müssen. Vergeblich, wie es schien.
»Humphrey Granville«, sagte der erste Mann höflich. »Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Sir.«
Er wischte seine fettverschmierte Hand an seinem Hemd ab und streckte sie Shaw entgegen. Wie betäubt schüttelte der Inspektor sie. De Quincy starrte ihn mit unverhohlener Verachtung an.
»Ist dieser Idiot Rafferty nüchtern genug, dass man ihm das Ruder alleine überlassen kann?«
Humphrey zuckte mit den Schultern.
»Vermutlich nicht. Aber er steuert diese Art von Boot, seit er laufen kann. Ich denke, er kriegt das hin.«
»Entschuldigen Sie …«, unterbrach ihn Shaw. »Aber was zur Hölle geht hier vor sich?«
»Typisch Polizist – kommt gleich zur Sache!«, bemerkte de Quincy süffisant. »Das macht’s einfacher. Ich gehe davon aus, dass Sie den Umschlag erhalten haben, den ich Ihnen vor exakt einer Woche hinterlassen habe?«
»Habe ich, und ich muss ihnen sagen, dass diese Fotos …«
De Quincy machte eine abwehrende Handbewegung.
»Das interessiert mich nicht«, unterbrach er schroff. »In Anbetracht der Tatsache, dass Sie hier sind, gehe ich davon aus, dass Sie meine Anweisungen befolgt haben? Schließlich wissen wir beide, was passieren würde, wenn dem nicht so wäre …«
»Wagen Sie nicht einmal, daran zu denken, diese Bilder weiterzugeben, sonst werde ich …«
»Zorn … Ausflüchte … wüste Drohungen«, fiel ihm de Quincy ins Wort. » Das habe ich alles schon hundertfach gehört. Haben Sie meine Anweisungen befolgt?«
Shaw nickte.
»Und was haben Sie herausgefunden?«
Der Polizist griff in seine Tasche und holte ein Blatt Papier hervor.
»Nun, ich habe die Starling-Akte durchgesehen und die leuchtend orangefarbenen Haare gefunden – die von der Kopfgeldjägerin, die Jonathan Starling Marianne nannte. Ich habe sie zusammen mit den Haaren, die Sie mir gegeben haben, ins Labor geschickt und die Techniker angewiesen, bei beiden Proben einen DNA-Test durchzuführen.«
Granville und de Quincy beugten sich näher zu ihm.
»Und?«, fragte Granville, atemlos vor Anspannung.
Shaw blickte auf das Blatt Papier.
»Natürlich sind sich die Leute vom Labor bei diesem Test nie zu hundert Prozent sicher, aber nach der DNA-Analyse gehen sie zu neunundneunzig Prozent davon aus, dass diese Personen eng verwandt sind.«
Granville heulte freudig auf und schlug sich triumphierend mit der Faust in die Hand. De Quincy lächelte selbstgefällig.
»Fein, fein, fein. Das sind definitiv interessante Neuigkeiten.«
»Wir sind Ihnen so dankbar für Ihre Hilfe, Oberinspektor«, rief Granville überschwänglich. »Zutiefst dankbar.«
»Es war mir ein Vergnügen«, entgegnete Shaw sarkastisch. »Und jetzt her mit den Fotos!«
De Quincy seufzte betrübt. »Ich fürchte, ich kann Sie ihnen jetzt noch nicht geben.«
»Sie haben es mir zugesichert!«
»Ich habe Ihnen zugesichert, sie niemandem zu zeigen, wenn Sie tun, was ich von Ihnen verlange, und daran halte ich mich auch. Sie haben uns sehr geholfen. Und sollte ich wieder Hilfe auf dieser Seite von London brauchen, dann weiß ich, an wen ich mich wenden kann.«
Shaw schrie wütend auf und stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf de Quincy, als Granville plötzlich eine alte Steinschloss-Pistole hervorzog und auf ihn richtete.
»Bedauerlicherweise«, ergriff Granville das Wort, »muss ich Sie auffordern, von meinem Partner zurückzutreten. Sollten Sie ihm noch näher kommen, sehe ich mich leider gezwungen, Sie zu erschießen. Ich weiß, dass Sie etwas andere Waffen gewöhnt sind, aber ich versichere Ihnen, dass diese Pistole echte Kugeln abfeuert. Und ich bin ein guter Schütze.«
Shaw wich schwer atmend von de Quincy zurück, der ihn höhnisch angrinste.
»Sie sind ebenso erbärmlich berechenbar wie alle anderen. Und jetzt verschwinden Sie! Lassen Sie sich versichert sein, dass ich mich wieder bei Ihnen melden werde.«
Granville deutete zur Tür und geleitete Shaw aus der Kajüte in die eisige Nacht hinaus.
»Edwin!«, rief er dem Steuermann zu, der sich immer noch am Heck der Barkasse verbarg. »Setz den Oberinspektor ab und dann bring uns nach Hause.«
Die Barkasse änderte umgehend den Kurs und steuerte auf das Ufer zu. Shaw war so verwirrt und orientierungslos, dass er nicht einmal wusste, ob sie auf das Nord- oder das Südufer zufuhren. Als sie an einem kleinen hölzernen Steg landeten, fuchtelte Granville wieder mit seiner Pistole herum.
»Ich bin mir sicher, dass Sie von hier aus nach Hause finden werden«, sagte er vergnügt. »Leben Sie wohl!«
Als er zurück an Land war, stiegen Shaw angesichts der überwältigenden Ungerechtigkeit seiner Lage Zornestränen in die Augen.
Im Schutz der Dunkelheit auf dem Vorschiff beobachteten die beiden Männer, wie er sich auf dem Absatz umdrehte und sich auf den Weg zurück nach London machte.
»Mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit!«, gluckste Humphrey Granville.
»Ja«, sinnierte Nicholas de Quincy. »Also gut, Marianne ist eine Ripper. Lass uns die Auktion beginnen.«