16
Um ein Uhr morgens tummelten sich drei Gestalten neben einer Droschke, die am Rand eines matschigen Pfades hielt. Sie waren viele Meilen in Richtung Südwesten gefahren und hatten das immerwährende Chaos der Hauptstraße hinter sich gelassen. Sie hatten die Baelmonk-Brücke überquert und schließlich die matschigen Pfade erreicht, die von Hecken und Büschen gesäumt waren, deren verwelkte braune Blätter wohl das darstellten, was man in der Schattenwelt als »blühende Landschaften« bezeichnete. Selbst im Dunkel der Nacht ließen sich die drei Silhouetten deutlich unterscheiden: Die erste war groß und schlank, die zweite klein und rund, und der gewaltige Umriss der dritten wurde von einem großen Zylinder gekrönt.
Arthur schmierte sich gerade Schuhcreme ins Gesicht, als er innehielt und Carnegie einen empörten Blick zuwarf.
»Hättest du nicht wenigstens deinen Hut in der Kutsche lassen können?«
»Er könnte gestohlen werden! Und überhaupt, wo ich hingehe, geht der Hut auch hin.«
Der Reporter seufzte und steckte die Schuhcreme wieder in die unförmige Tasche, die über seiner Schulter hing.
»Wir sollten jetzt los. Der Mond hat sich hinter ein paar ziemlich dicken Wolken verzogen, das sollte uns entgegenkommen.«
Carnegie sah Arthur neugierig an.
»Seit wann bist du denn ein Einbruchexperte?«
Arthur zuckte mit den Schultern.
»Ich bin Reporter. Manchmal muss man eben einen Schritt weitergehen, um eine gute Geschichte zu bekommen.«
»Wie weit? In die Schlafzimmer fremder Leute?«
»Wenn es sein muss. Schließlich habe ich auf diese Weise den Entführungsfall der Wilberforce-Zwillinge aufgeklärt. Was ist daran so lustig?«
Jonathan hatte vergeblich versucht, ein Lachen zu unterdrücken.
»Es tut mir leid, Arthur. Es ist nur … na ja, du siehst nicht gerade wie der typische Einbrecher aus.«
Der Reporter funkelte ihn an.
»Ich bin schon in Herrenhäuser in der Savage Row eingebrochen, da hast du noch in die Windeln gemacht. Kümmere dich lieber um dich selbst.«
Er betrachtete nochmals Mariannes Nachricht.
»Also, wenn die Kopfgeldjägerin recht hat, dann sollte sich de Quincys Haus hinter diesen Bäumen befinden. Folgt mir und passt auf, wo ihr hintretet.«
Arthur bewegte sich erstaunlich sicher zwischen den Bäumen, dicht gefolgt von Carnegie. Im Gegensatz zu ihnen musste sich Jonathan auf jeden Schritt konzentrieren, um zu vermeiden, dass er geräuschvoll auf Äste oder Zweige trat. Zwischen den morschen Baumstämmen zogen Nebelschwaden hindurch. Abseits der Fabriken und Schornsteine, die das Zentrum von Darkside dominierten, war die Luft im Wald frischer und kühler, als Jonathan erwartet hatte. Sein Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft.
Er wusste nicht genau, wie lange sie so durch den Wald geschlichen waren, als Carnegie ihn plötzlich warnend am Arm festhielt. In der Dunkelheit konnte Jonathan eine hohe Steinmauer ausmachen, die vor ihnen in den Himmel aufragte. Um sie herum waren die Bäume abgeholzt worden, um zu verhindern, dass mit ihrer Hilfe jemand die Mauer überwinden konnte. Für den Fall, dass die Höhe des Bauwerks nicht ausreichte, hatte man es an der Oberkante noch mit spitzen Stahldornen ausgestattet.
Carnegie schüttelte den Kopf.
»De Quincy wünscht wirklich keinen Besuch.«
Arthur griff in seine Tasche und holte ein Seil hervor, an dem ein Haken befestigt war.
»Ich könnte mir vorstellen, dass die Mauer unser geringstes Problem sein wird«, murmelte er.
Er nahm ein paar Schlaufen des Seils in die Hand, ließ das Ende mit dem Haken einige Male geübt in der Luft kreisen und warf es über die Mauer. Mit einem dumpfen Geräusch blieb der Haken an einer der Dornen hängen und krallte sich fest. Carnegie nickte anerkennend.
»Guter Wurf. Du vergeudest dein Talent bei der Zeitung.«
Arthur spuckte sich in beide Hände, umklammerte das Seil und kletterte hinauf. Jonathan starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Er hätte es nie für möglich gehalten, aber irgendwie schaffte es der Reporter, seinen massigen Körper die Mauer hochzuhieven. Arthur musste bemerkenswert starke Arme haben. Jonathan dachte daran, was für ein gefährliches Leben Arthur führte und wie oft er wohl schon einem Mordanschlag entgangen war. Man unterschätzte den Reporter leicht, aber unter seinen Speckrollen verbarg sich ein eiserner Wille.
Am oberen Ende angekommen, duckte sich Arthur zwischen zwei Dornen. Er vergewisserte sich, dass die Luft rein war, und gab Carnegie ein Zeichen, der sich mit Leichtigkeit hochzog. Jonathan atmete tief durch und begann ebenfalls seinen Aufstieg. In der Schule war er im Sportunterricht nie besonders geschickt gewesen und der Nebel hatte das Seil rutschig gemacht. Er machte einen Schritt nach dem anderen und ertastete sich mit den Füßen Tritte in der Mauer, sodass er trotzdem langsam, aber stetig nach oben kletterte. Schließlich kamen die Dornen in Sicht und ein starker Arm zog ihn das letzte Stück hinauf und setzte ihn auf der Mauer ab.
»Nicht schlecht für das erste Mal«, flüsterte Carnegie.
Jonathan nickte, da er zu sehr außer Atem war, um zu sprechen. Neben ihm spähte Arthur über das Gelände wie der Ausguck auf einem Piratenschiff. Jonathan folgte seinem Blick.
»Was zum Teufel ist das?«, schnaufte er.
Vor ihnen ragte inmitten eines weitläufigen Schotterfeldes eine runde, kuppelförmige Konstruktion auf. Bedrohliche Stahlwände erhoben sich weit in den Himmel. Es war die tote Hülle eines Gebäudes. Zahllose Fenster reihten sich nebeneinander auf, die meisten von ihnen waren zerbrochen. Innen war kein Licht zu sehen.
»Natürlich!«, rief Arthur. »Das Panoptikum!«
»Pan-was?«
»Panoptikum. Es ist eine Art Gefängnis. Es wurde von den Behörden gebaut, bevor Darkside vom Rest Londons abgeschnitten wurde. Sie hatten gehofft, damit die Kriminalitätsrate zu senken, aber es hat nicht funktioniert.«
»Warum nicht?«
»Darksider sind keine großen Freunde von Gefängnissen. Draußen versammelten sich so viele Leute, die den Insassen bei der Flucht helfen wollten, dass sich daraus eine Belagerung entwickelte. Die Wächter flüchteten, als Darkside gegründet wurde, und seitdem wurde das Gefängnis nicht mehr benutzt. Um ehrlich zu sein, hatte ich sogar vergessen, dass es existiert.«
Jonathan suchte das bedrohlich wirkende Gebäude nochmals mit seinen Augen ab.
»Und Marianne glaubt, dass de Quincy dort wohnt?«
Der Reporter zuckte mit den Schultern.
»Es ist nicht gerade gemütlich, aber es ist sicher, darauf kannst du dich verlassen. Sollen wir es uns ansehen?«
Aus den Augenwinkeln nahm Jonathan eine Bewegung wahr.
»Warte mal. Was ist denn das?«
Er deutete auf zwei Schatten, die sich auf sie zubewegten.
»Oh, Hunde«, seufzte Arthur. »Ich mag keine Hunde.«
Nach Jonathans Auffassung wurde das Wort »Hunde« den beiden Ausgeburten der Hölle, die auf sie zugaloppierten, nicht ganz gerecht. Sie hatten annähernd die Größe von Ponys und ihre Bewegungen waren Ausdruck schierer Muskelkraft. Bei jedem Bellen zeigten sie ihre sabbernden Kiefer, die vor Zähnen nur so strotzten. Als sie den Teil der Mauer erreichten, auf dem die drei Eindringlinge kauerten, sprangen sie an ihr hoch und rissen mit ihren Krallen ganze Stücke aus dem Mauerwerk. Jonathan lehnte sich panisch zurück. Jetzt ein Fehltritt, und er würde von den Bestien zerfleischt werden.
Ohne ein Wort zu sagen, sprang Carnegie nach unten. Er hielt mit einer Hand den Hut fest, während sein Mantel wie die Flügel einer Fledermaus im Wind flatterte. Die Bestien wollten sich auf den Wermenschen stürzen, als er landete, hielten aber plötzlich verwirrt inne. Sie hörten auf zu bellen und schlugen nicht mehr mit den Pranken. Einer von ihnen schnüffelte vorsichtig und rieb den Kopf an Carnegies Bein.
Carnegie blickte grinsend zu seinen Begleitern hoch.
»Kommt schon. Alles in Ordnung. Das sind Mischlinge – halbe Wölfe. Sie werden euch nichts tun, solange ich bei euch bin.«
Arthur warf das Seil hinunter und ließ sich auf den Boden hinabgleiten. Nach kurzem Zögern folgte ihm Jonathan. Die Hunde beäugten die beiden neugierig, aber ohne Bosheit. Carnegie streichelte den Hund zu seiner Linken.
»Seht ihr? Sie sind harmlos.«
In diesem Augenblick tauchte der Mond hinter den Wolken auf. Das Gelände des Panoptikums wurde von seinem fahlen Licht überflutet, und eine Gestalt wurde sichtbar, die sich durch die Luft bewegte.
»Was um Darksides Willen ist das?«, murmelte Carnegie.
Die Gestalt hangelte sich mit Armen und Beinen an einem Seil entlang, das zwischen der Mauer und dem Panoptikum gespannt war. Obwohl ein Fehlgriff dazu geführt hätte, dass sie in den sicheren Tod gestürzt wäre, bewegte sie sich mit der grazilen Leichtigkeit einer Ballerina.
»Das ist der Typ aus dem Kain-Club!«, rief Jonathan.
»Beeindruckend«, murmelte Carnegie widerstrebend. »Wenn auch auf eine ziemlich angeberische Art.«
»Aber wenn er der Mörder ist, müssen wir schnell ins Gebäude! Beeilt euch!«
Jonathans Füße wirbelten Staub auf, während er wie ein Windhund in Richtung des Gebäudes raste. Den Blick fest auf das Panoptikum gerichtet, nahm er nur vage Carnegie und die Hunde wahr, die neben ihm herliefen. Hinter sich hörte er Arthur schwer schnaufen. Das Schotterfeld schien sich endlos hinzuziehen, und Jonathan rannte, bis seine Lungen brannten und seine Beine schmerzten. Über ihm schwang sich der Eindringling beinahe gelangweilt das Seil entlang und verkürzte den Abstand zur Kuppel mit jeder Bewegung.
Plötzlich befand sich Jonathan im kühlen Schatten des Panoptikums. Aus der Nähe wirkte das Gefängnis sogar noch bedrohlicher. Es war auf einem Fundament aus Verzweiflung und Wahnsinn erbaut und besaß nicht die schauderhafte Eleganz der anderen Gebäude in Darkside. In den Jahren, die vergangen waren, hatten seine vernarbten Mauern die Menschen draußen genauso abgewiesen, wie es zuvor die Schreie seiner Insassen eingeschlossen hatte. Nun herrschte eine teilnahmslose Stille. Den Haupteingang bildete eine dicke Stahltür, deren Hauptaufgabe es war, den Zutritt eher zu verwehren, denn zu ermöglichen.
Jonathan schüttelte den Kopf und drehte sich zu Carnegie um, der gerade mit den Hunden angelaufen kam.
»Das Ding ist eine Festung. Kommen wir durch eines der Fenster rein?«, fragte er.
Der Wermensch schüttelte den Kopf.
»Dahinter sind Zellen. Wir würden nur auf Gitter treffen. Wir müssen den Haupteingang nehmen.«
Carnegie beäugte die Stahltür und machte sich gerade bereit, um sich mit der Schulter voran dagegen zu werfen, als ein erschöpfter Ruf hinter ihm ihn bremste.
»Warte!«
Arthur stolperte müde auf sie zu.
»So kommst du da nie rein. Lass mich es versuchen.«
Der Reporter griff abermals in seine Tasche und zog einen Lederbeutel heraus, der eine Reihe langer, dünner Metallgegenstände enthielt. Er ließ sich auf die Knie sinken und stocherte damit in verschiedenen Kombinationen im Türschloss herum. Jonathan blickte nach oben und sah, wie der Eindringling das Ende des Seils erreichte und sich auf die Stahlkonstruktion schwang.
»Beeil dich, Arthur.«
Der Reporter verzog das Gesicht.
»Das ist kein normales Schloss. Es wird eine Zeit dauern.«
Arthur lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Er machte eine kurze Pause, um sich die Stirn mit einem Taschentuch abzutupfen, und stürzte sich mit neuem Elan auf das Schloss. Einen Draht steckte er oben in das Schloss und versuchte dann mit einem zweiten den Mechanismus von unten auszuhebeln.
Carnegie knurrte ungeduldig.
»Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«
»Wenn du mich einfach in Ruhe lässt und ich mich konzentrieren kann, dann …«
Ein lautes Klicken ertönte.
»Geschafft!«, rief Arthur.
Die Tür schwang auf und gab den Blick auf einen langen Korridor frei, der tiefer in das Herz des Panoptikums führte. Die Hunde schnüffelten vorsichtig an der muffigen Luft und machten einige Schritte nach hinten. Jonathan blickte nervös zu Arthur.
»Das ist kein gutes Zeichen.«
Aus dem Inneren des Gebäudes ertönten ein markerschütternder Schrei und der laute Knall eines Pistolenschusses.