Es gibt Dinge, die kann man nicht steuern
Freitag der Dreizehnte, mein Glückstag! Denn an diesem Tag begann ich, mich zu verlieben.
Sonntagabend, der Tag nach dem Klassentreffen, klingelte das Telefon. Es war Mark. Er fragte, ob er noch mal vorbeikommen könne. Er wollte mich unbedingt sehen. Also gut, dachte ich. Als er dann da war und vor meinem Zimmer stand, bemerkte ich, dass er total schöne, blaue Augen hat. Auch als wir uns später unterhielten, fielen sie mir immer wieder auf – ich glaube, ich verliebte mich zuerst in seine Augen. Sie sind aber auch besonders schön: Sie schimmern blau bis dunkelblau und leuchten richtig. Ein großer, schlanker Mann.
Satte 1,93 Meter, die mich behüten sollten. An meiner Seite. Sein auf mich anfangs blass wirkendes Gesicht, war plötzlich so warm. Es strahlte mich an. Er trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern. Sie stand ihm gut. Plötzlich stimmte einfach alles.
Ein erneuter Blick in die Sterne. Der Mond ist etwas gewandert. Bald sehe ich ihn nicht mehr. Seine Bahn führt ums Haus auf die andere Seite. Der Große Wagen ist mir treu. Sollte ich mutig sein? Es ging hier um keine Spritztour mehr. Es ging um keinen Vorzeigepartner mehr. Es ging um die Liebe. Ich bin mutig und steige ein in den Großen Wagen. Wo er mich wohl hinfährt? Vielleicht tatsächlich in das Land der Liebe.
Montag. Der erste Besuch bei Mark. Ich sah auch das erste Mal seine Eltern. Seine Mutter ist eine sehr liebe Person. Sie nannte mich immer Klementinchen. Ich wusste, dass sie mich mochte. Sein Vater war eher der arrogante Typ, der immer irgendwelche ›Machosprüche‹ draufhatte. Der Schlimmste, den ich mitbekommen habe: »Ich bin der Herr im Haus. Ich verdiene das Geld, um die Familie durchzufüttern.« Marks Mutter wäre so gerne arbeiten gegangen. Aber sie war gefangen im Goldenen Käfig. Ich kam gar nicht auf die Idee, einen Vergleich zu Mark zu ziehen. Obwohl ich bei solchen Sachen immer sehr genau und hellhörig bin.
Der erste Blick in sein Zimmer. Es war groß. Sehr groß. Seine Wände waren mit einer Werner-Beinhardt-Uhr und einem Simpsons-Poster geschmückt.
Ein Simpsons-Poster! Das erinnerte mich an meinen Ex. Er bestand jeden Abend darauf, diese Serie zu schauen. Obwohl ich dabei war, mich neu zu verlieben und mein Ex-Freund mir egal sein könnte, gefiel mir der Gedanke, dass sie etwas gemeinsam hatten. Schließlich war meine Sommeraffäre erst vier Wochen her, und etwas Gewohntes machte sich nicht schlecht, dachte ich. Hier und da hangen auch Fotos. Wir setzten uns aufs Bett und er zeigte mir ein Album, in dem sich auch Bilder seiner Ex-Freundin befanden. Komisch! Na ja! Er hat mir eben einen Ausschnitt seines Lebens zeigen wollen. Als ich mich umdrehte, sah ich über dem Bett einen Kalender, ebenfalls mit Fotos. Beim näheren Hinsehen erkannte ich SIE.
»Du hast ja einen Kalender mit Bildern von deiner Ex-Freundin«, sagte ich und war natürlich gespannt, was er darauf antworten würde.
»Ja, den hat sie mir zu Weihnachten geschenkt.«
Ich wunderte mich über seine belanglose Antwort. Dieser Kalender schien ihm wohl nicht wichtig zu sein, und trotzdem störte er mich.
»Möchtest du den hier hängen lassen?«
»Ja, wieso nicht? Es ist ein schönes Andenken an den gemeinsamen Urlaub, den wir damals hatten.«
Innerlich kochte ich fast. War ihm der Kalender doch wichtiger als ich dachte?
»Ich möchte, dass du ihn abhängst.«
»Wieso? Sie ist doch meine Ex.«
»Genau, sie ist deine Ex!«, sagte ich und dachte: ›Genau das ist das Problem.‹ Doch ich hatte keine Lust auf eine Diskussion, also sagte ich nichts weiter.
In diesem Moment war klar, dass er mir nicht mehr gleichgültig war, denn sonst wäre mir dieser Kalender total egal gewesen.
Wir setzten uns aufs Bett: »Jetzt möchte ich aber endlich einen Kuss«, bemerkte er und schon küsste er mich. Die Schmetterlinge in meinem Bauch fuhren Achterbahn und kitzelten mich überall.
Wir kamen uns an diesem Abend etwas näher. Es war sehr schön. Doch gegen zwölf Uhr musste ich gehen. Am nächsten Morgen musste ich wieder früh raus. Er hatte da ja ein bisschen mehr Freiheit, denn er war schließlich Juniorchef seines Ladens. Er begleitete mich wie ein Gentleman nach draußen an mein Auto. Dann drückte er mir zum Abschied einen Brief in die Hand. Den ich allerdings erst zu Hause las:
Hallo Traumfrau!
Leider bin ich kein besonders guter Briefeschreiber, aber ich versuchs trotzdem. Ich lieg hier gerade im Bett, es ist elf Uhr und ich bin mit meinen Gedanken wieder mal bei dir. Es ist jetzt zweieinhalb Wochen her, dass ich dich kennen lernte. Auch, wenn ich mich, wie du bestimmt gemerkt hast, anfangs ziemlich zurückgehalten habe.
Eigentlich wollte ich mein Single-Dasein genießen und habe meine Gefühle ignoriert. Und wieder erfahren, dass man gegen manche Dinge eben machtlos ist. ES GIBT DINGE, DIE KANN MAN NICHT STEUERN!
Als wir uns am Samstag so intensiv angeschaut haben, wurde mir erst richtig bewusst: Ich war der glücklichste Mensch auf der ganzen Disco, und ich konnte genau fühlen, was los war. Ich hab mich in dich verliebt. Ich verliebe mich nicht so oft, doch wenn´s passiert, dann richtig. Deine Blicke, dein Lächeln, dein Geruch und deine Nähe machen mich verrückt und ich will einfach nur bei dir sein. Da du dir nie sicher bist, ob ich es ehrlich meine oder ironisch, was ich sage, habe ich´s aufgeschrieben und werd´s dir auch noch persönlich sagen:
Ich liebe Dich!
Dein Freund Mark
PS: Und ich kann´s kaum abwarten, dich wieder zu sehen!
›Traumfrau‹ nannte er mich. Wenn dieser Brief ehrlich gemeint war, hat es ihn voll erwischt. Jedoch von seiner anfänglichen Zurückhaltung habe ich nichts gemerkt.
Ach, wer weiß, was Männer unter Zurückhaltung verstehen. Ich glaube, das darf man nicht überbewerten. Was mir allerdings sehr gut gefiel: Als ich ihn auf der Disco anschaute – ich kann mich noch genau daran erinnern –, sei er der glücklichste Mensch auf der ganzen Disco gewesen. Im ersten Moment erwartete ich schon fast, dass er ›Welt‹ schreiben würde. Also, das hätte ich wirklich für übertrieben gehalten. Doch: ES GIBT DINGE, DIE KANN MAN NICHT STEURERN? Na ja, ich habe bis jetzt noch keinen Mann kennen gelernt, der so bedingungslos handelt, einer, der scheinbar so schnell aufgibt und nachgibt. ES GIBT DINGE, DIE KANN MAN NICHT STEUERN? Manche Dinge kann man tatsächlich nicht steuern: wenn ein tragisches Unglück passiert, auf das man keinen Einfluss hat, oder ein Unfall, den man nicht stoppen kann, wunderschöne Sternschnuppen und ein Wunsch, der sich erfüllt. Doch für sein eigenes Glück ist man oft selbst verantwortlich. Man muss sich dafür öffnen und man muss es zulassen. Sich zu verlieben muss man auch zulassen. Oder man kann es sich verkneifen. Zuerst findet man jemanden einfach nur attraktiv. Wer dann schon ans sich verlieben denkt oder an die Liebe auf den ersten Blick glaubt, der kann schnell enttäuscht werden, wenn er den Auswählten dann näher kennen lernt. Nach dem ersten Date und nach dem ersten Kuss ist das wieder etwas völlig anderes, denn da hat man denjenigen meist schon etwas näher beschnuppert und dann kann der Funke schon mal überspringen.
Irgendwie hat mich der Brief verzaubert. Und den ersten Kuss hatten wir auch schon ¼
Am nächsten Tag habe ich den Brief immer wieder heimlich auf der Arbeit gelesen. Ich fühlte mich so gut und lebendig, wie schon lange nicht mehr. Er hat es doch tatsächlich geschafft, mir Schmetterlinge in den Bauch zu zaubern. Ich war verliebt. Ganz plötzlich, ganz neu. Dabei dauerte es bei mir doch sonst ewig. Wenn er mir den Brief drei oder vier Tage früher gegeben hätte, hätte ich ihn eiskalt abserviert. Ich würde sagen, da hatte er Glück gehabt. Und ich erst. Im siebten Himmel schwebte ich.
Dann bekam ich einen Anruf von meiner Mutter. »Na, wie geht es dir?«, fragte sie.
»Ich glaube, ich habe mich verliebt.«
»Das ist schön. Na ja, du bist jetzt 20, Klementine. Das könnte der Richtige sein. In diesem Alter.«
Meine Mutter hatte meinen Vater mit 19 geheiratet. Und dann kam ich. Ich wurde ganz euphorisch. Mark könnte der Richtige sein. Mein Mann fürs Leben. Wie es wohl sein würde, wenn wir unser erstes Kind bekommen? Ob es ein Junge oder ein Mädchen wird? Vielleicht würden wir Zwillinge bekommen. Immerhin hat er Zwillingsschwestern. Ich habe mal gehört, dass sich so etwas vererbt. Vielleicht wird es ein Pärchen. Ein Junge und ein Mädchen zugleich? Wie könnten wir unsere Kinder nennen? Alexander und Alexandra? Wenn es Zwillinge sind, kann man ihnen ja schließlich auch passende Namen geben.
Und wenn wir heiraten: Wie würde ich dann heißen? Klementine Feinscherer. Nein. Ich bin doch eine moderne Frau, also entscheide ich mich für einen Doppelnamen: Lautmann-Feinscherer. Klementine Lautmann-Feinscherer. Wie klingt das? Na ja, besser als Auerbach-Zitzenabel, oder Steinsolenmann-Piepmann. Und so schwelgte ich in meiner Zukunfts-Phantasie. Ja, eine moderne Frau entscheidet sich für einen Doppelnamen, oder bin ich eher eine Person, die nicht loslassen kann, und deshalb ihren Mädchennamen nicht aufgeben will? Soll ich jetzt wirklich ehrlich zu mir sein? Ach, dieses Thema ist blöd. Also: Klementine Lautmann-Feinscherer!