Kapitel 6
Wie ich feststelle, fahren am Bahnhof von Lincoln sowohl Züge als auch Busse. Ich habe keine Ahnung, was ich nehmen soll, aber ich weiß, dass ich nach Valden muss. Ich beschließe, dem Menschen am Fahrkartenschalter einfach zu sagen, wohin ich möchte, und er es dann herausfinden soll.
Auf dem Bahnhof ist erstaunlich viel los, dafür, dass es spät nachts oder besser früh morgens ist – oder wie auch immer man es nennen möchte. Der Boden ist mit kleinen, weißen Fliesen bedeckt, und über mir sind riesige Oberlichter, die tagsüber wahrscheinlich ziemlich beeindruckend sind. Große, runde Sitzbänke laden zum Verweilen ein, und weil die Decke hoch ist und der Boden gefliest, klingt jedes noch so winzige Geräusch nach einer Elefantenstampede.
Schließlich stoße ich zufällig auf den Schalterbereich. Er besteht aus einer großen Theke, hinter der ein unruhig wirkender Mann von Mitte dreißig steht. Er trägt einen dunkelblauen Anzug mit einem frischen, weißen Hemd. Seine Krawatte ist gelb, was mir unheimlich gut gefällt. Der Mann sieht mich näher kommen und fährt sich mit der Hand über die kanariengelbe Krawatte. Dann tut er es wieder. Und wieder. Es ist entweder sein erster Tag in dem Job, oder die Tatsache, dass ich ein Mädchen bin, ist ihm extrem unangenehm.
»Hey«, sage ich zu dem nervösen Mann. »Ich muss nach Valden.« Es hat keinen Zweck, um den heißen Brei herumzureden.
Bei meiner Bitte flippt Gelber Krawattenmann aus. Seine Augen werden riesig, und er beginnt zu schwitzen. »Valden?«, krächzt er.
»Ja, Valden. Ich würde gern dort hinfahren.« Ich lege mein Taschengeld auf die Theke zum Beweis dafür, dass ich es ernst meine.
Der Mann sieht sich um, als würde gleich ein SWAT-Team in diese Unterhaltung platzen, und schiebt mir das Geld wieder hin. »Sind Sie sich sicher, dass Sie nach Valden möchten?«
»Äh, ja. Ich bin mir sicher.« Aber jetzt ist die glänzende Stirn des Mannes zu einer tropfenden glänzenden Stirn geworden, und ich bin mir plötzlich gar nicht mehr sicher. Vielleicht ist Valden gar kein Ort, an den ich fahren möchte. Vielleicht liegt es im Herzen eines Vulkans, und damit möchte ich nichts zu tun haben. »Können Sie mir sagen, in welchem Staat Valden liegt?«
Die gelbe Krawatte zittert, genau wie der Mann hinter der schäbigen Theke. »Es ist kein Ort. Es ist nur ein Wort, damit ich Bescheid …« Er hält inne, um sich die Stirn abzuwischen, und ich spüre, wie sich Schweißperlen auf meiner eigenen Stirn bilden. Von seiner Erklärung geht es mir nicht besser.
Mit einem Blick auf meinen Rucksack schiebt er einen Fahrschein über die Theke. Ich erwarte, dass er mit Säure getränkt ist, die mir die Haut verbrennt, aber als ich das Ticket entgegennehme, wird mir klar, dass meine Finger überleben werden. Genau wie mein Taschengeld, da dieser Typ mir anscheinend eine Freifahrt spendiert. Ich stecke das Geld wieder in die Tasche.
»Wo muss ich hin?« Ich versuche, selbstbewusster zu klingen, als ich mich fühle. Nämlich so gar nicht.
»Sie nehmen Zug 301. Dort entlang.« Er zeigt über seine Schulter nach rechts. Dann tritt er zurück, als könne er es nicht erwarten, mich loszuwerden. Als ich in die Richtung gehen will, in die er gedeutet hat, wirft er sich die Hände vors Gesicht. »Oh mein Gott. Das hätte ich fast vergessen. Warum vergesse ich das dauernd?« Er lässt die Hände fallen und sucht unter dem Tisch nach etwas, sieht sich wieder um und hält mir über die Theke etwas hin. »Stecken Sie sich das an Ihr T-Shirt.«
Es ist eine kleine, goldene Anstecknadel in Form einer Schlange, und sie ist ziemlich schwer. Als ich sie über meinem Herzen befestige, zieht sie den Stoff meines langärmeligen Shirts herunter, und die Schlange funkelt mit einem glitzernden, grünen Auge zu mir empor.
»Das ist Ihr Erkennungszeichen«, sagt er.
Das hatte ich mir schon gedacht, aber es erleichtert mich, ihn meinen Verdacht bestätigen zu hören. Als sei es ein Zeichen des Universums, dass ich schon zurechtkommen werde, wenn ich so etwas herausfinden kann. »Danke«, sage ich. »Hübsche Krawatte.«
Der Mann lächelt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich seinen Tag irgendwie besser gemacht habe. Ich möchte ihm sagen, dass er meine Nerven nicht direkt beruhigt hat, aber er will sichtlich nichts mehr mit mir zu tun haben, also ziehe ich die Riemen meines Rucksacks straffer und gehe auf die Bahnsteige zu.
Zu meinem Erstaunen schaffe ich es in den richtigen Zug, ohne mich umzubringen, obwohl es zugegebenermaßen viel schwerer ist, auf die Schienen zu stürzen, als ich ursprünglich gedacht habe. Eine Frau, die zu viel Parfüm mit Rosenduft trägt, bringt mich an meinen Platz, der sich, wie sich herausstellt, in einem Schlafwagen befindet. Als ich den kleinen Raum mit einem Minifenster und niedlichen Etagenbetten an beiden Seiten betrete, kann ich es mir nicht verkneifen, meinen Freudentanz aufzuführen. Dann frage ich mich, wie lange genau ich in diesem Zug sitzen werde und warum ich überhaupt einen Platz zum Schlafen brauche. Die Frage bedeutet nichts Gutes für meine geistige Gesundheit. Ich meine, Züge sind cool und so. Aber nicht, wenn ein kleines, weißes Gerät einem gesagt hat, man solle damit in eine Stadt fahren, die es nicht gibt.
Ich höre ein scharfes Knacken und drehe mich um. Ein Mädchen in meinem Alter drängt sich in den Raum und benimmt sich, als gehöre dieser Schlafwagen und alles darin ihr – mich eingeschlossen. Sie hat kurzes, dunkles Haar, mit einem stumpfen Pony vor der Stirn, das wie mit dem Lineal geschnitten aussieht. Sie schaut sich in alle Richtungen um und blickt überall hin, nur nicht zu mir. Sekunden später betritt ein weiteres Mädchen den Raum. Dieses sieht etwas jünger und erheblich weniger feindselig aus. Es hat langes, gewelltes Haar und große, blaue Augen, und es sieht mich direkt an.
»Hi«, kiekst Blauauge.
»Hi«, sage ich mit einem Nicken. Dann bemerke ich ein Glitzern an ihrer Bluse. Es ist eine Schlangenbrosche – die Gleiche wie meine. Ich werfe einen Blick zu dem aggressiven Mädchen und bemerke, dass es auch eine hat. Beide tragen eine Tasche, und plötzlich wird mir klar, dass sie ebenfalls Pandora-Eier eingepackt haben.
Sie sind Kandidaten, denke ich erleichtert. Ich bin nicht allein. Dann fällt mir wieder ein, dass sie meine Konkurrentinnen sind. Ich frage mich, wie diese Mädchen ihre Einladungen bekommen haben und ob sie auch jemanden haben, den sie zu retten versuchen. Ich frage mich, wie wir alle ausgewählt wurden, um an dem Rennen teilzunehmen. Wählt der Veranstalter dieser Show nur Kandidaten mit kranken Familienmitgliedern aus? Haben sie alle das Gleiche?
Bei diesen Gedanken schwirrt mir der Kopf. Wie dem auch sei, es gibt keinen Grund, zu diesen Mädchen nicht höflich zu sein, ganz egal, warum sie hier sind. Wir machen das alle gemeinsam durch.
»Ich bin Tella«, sage ich zu Blauauge.
Das Mädchen sieht mich mit einer solchen Erleichterung an, dass mir das Herz wehtut. Sie öffnet den Mund zu einer Antwort, bricht aber ab, als jemand Neues durch die Tür kommt.
Das Erste, was ich sehe, ist ein Farbrausch. Das Kleid der Frau ist so grell und so schockierend grün, dass ich fast meinen Namen vergesse. Es schmiegt sich um ihren Körper und endet an den Knien. Ihr hellblondes Haar ist straff zurückgekämmt und zu einem festen Knoten gedreht, und ihre Lippen sind knallrot geschminkt. In der linken Hand hält sie eine goldene Clutch. Sie ist jemand wie ich – ein Modeguru, wenn man so will –, und ich fühle mich im Vergleich zu ihr underdressed und ungepflegt. Ich frage mich, wo sie ihre Schuhe gekauft hat.
»Bitte, setzt euch.« Die Frau wedelt mit einer kleinen Hand in Richtung der Etagenbetten. Ihre Stimme ist vollkommen gleichmäßig, vollkommen ruhig. Ich frage mich, ob schon mal jemand Nein zu ihr gesagt hat. Wenn ja, dann hat dieser Jemand bestimmt schnell seine Meinung geändert.
Blauauge setzt sich auf das untere Etagenbett und ich setze mich ihr gegenüber auf das andere. Miss Aggressiv springt auf das Bett über mir, und ihre Beine baumeln mir vor der Nase. Ich presse verärgert die Lippen zusammen und rutsche zur Seite, damit ich etwas sehen kann.
Die Frau schließt die Tür hinter sich und sperrt ab. Kein gutes Zeichen. Sie greift in ihre goldene Clutch und zieht drei blaue Schachteln hervor, genau wie die, die ich auf meinem Bett gefunden habe, nur viel kleiner; so klein, dass ich mich frage, was um alles in der Welt darin sein könnte. Die Frau reicht jedem von uns eine blaue Schachtel. Als sie zu mir kommt, streift sie meine Finger. Ich verkrampfe mich, aber sie lächelt nur. Ich begreife, dass die Frau für dieses … Rennen arbeiten muss. Ich mustere sie und suche nach Hinweisen, die mir dabei helfen zu verstehen, worauf ich mich da eingelassen habe – die mir helfen zu gewinnen.
»Macht sie auf«, sagt sie.
Ich hebe den Deckel von meiner blauen Schachtel. Diesmal gibt es kein Miniaturkissen – nur eine grüne Tablette. Ich nehme sie aus der Schachtel und lege sie in meine Hand. Die Pille sieht aus, als sei sie mit Flüssigkeit gefüllt. Sie sieht schön aus, und ich verspüre den starken Drang, sie einzunehmen.
»Schluckt die Pille sofort. Wenn ihr es nicht tut, werdet ihr disqualifiziert.« Mit diesen Worten schließt sie die Tür auf und geht.
Ich schaue zu Blauauge hinüber und frage mich, ob sie das Hämmern meines Herzens hören kann. Es schlägt so heftig in meiner Brust, dass ich befürchte, gleich einen Herzinfarkt zu bekommen. Wie ist das alles passiert? Wie bin ich von Heimunterricht und Cody ärgern und Sunday Funday hierhergekommen? Ich könnte aussteigen, denke ich. Ich könnte jetzt einfach aufgeben und beschließen, dass das alles zu verdammt verrückt ist.
Aber dann denke ich an Cody. Ich weiß, dass er das hier für mich tun würde. Er würde nicht einmal zögern. Trotz all seiner ätzenden Eigenschaften fand ich ihn immer mutig.
»Verdammte Pharmis«, sagt das Mädchen. »Runter damit.«
Blauauge keucht auf. Dann sieht sie mich an. »Sie hat sie genommen.«
Ich zucke mit den Schultern und versuche, so zu tun, als sei alles cool, obwohl ich gleich ohnmächtig werde. Dann schaue ich auf die grüne Pille hinab und treffe eine Entscheidung. Ich werde meinen Bruder nicht im Stich lassen. Ich stecke mir die Pille in den Mund und schlucke. Sie geht glatt runter, aber ich hole trotzdem eine Wasserflasche aus meinem Rucksack. Ich nehme einige Schlucke, dann reiche ich sie Blauauge.
»Hier, damit geht es besser.«
Sie nimmt das Wasser mit zitternder Hand entgegen. Als sie mich ansieht, die Pille an den Lippen, nicke ich. Ich weiß nicht, warum ich ihr helfe. Ich sollte es wahrscheinlich nicht tun. Ich habe keine Ahnung, was wir da einnehmen. Vielleicht helfe ich ihr gerade, ihr Todesurteil zu unterzeichnen.
Bei dem Gedanken überläuft mich ein Schauder. Ich zittere so heftig, dass ich mich hinlegen muss. Als ich den Kopf auf dem prallen Kissen drehe, sehe ich, wie Blauauge die Pille einnimmt und dann zwei Schlucke Wasser trinkt. Sie legt sich auf ihr Bett und hält die ganze Zeit über den Blick auf mich gerichtet.
Ich schaue nach oben und frage mich, was Miss Aggressiv tut. Ihre Beine über der Bettkante sind verschwunden. »Was hast du damit gemeint?«, frage ich und klopfe auf die Unterseite ihres Bettes.
»Womit?«, erwidert Miss Aggressiv, obwohl ihre Stimme nicht mehr ganz so aggressiv klingt. Sie klingt eher … erschöpft.
»Du hast etwas über Pharmis gesagt«, antworte ich. »Was ist das?«
»Nicht was – wer«, gibt sie zurück, obwohl ich sie kaum verstehen kann. Es klingt, als würde sie nuscheln.
Ich will mich aufrichten, um sie mit Fragen zu bombardieren, da sie zu wissen scheint, was hier los ist. Aber alles um mich herum dreht sich. Ich lasse mich wieder aufs Bett fallen und schaue zu Blauauge hinüber. Sie sieht mich an, ihr Gesicht eine Maske der Furcht.
»Wer sind die Pharmis?«, frage ich laut. Meine Stimme klingt merkwürdig. Ich bin mir nicht sicher, ob ich merkwürdig spreche oder anders höre.
Das Mädchen über mir reagiert nicht, und langsam beginne ich einzuschlafen. Blauauge und ich sehen einander noch sekundenlang an, als wäre alles okay, wenn wir nur Blickkontakt hielten. Aber dann schließen und öffnen sich flatternd ihre Lider. Einmal. Zweimal. Ihre Wange drückt sich tiefer in das Kissen. Sie macht die Augen nicht wieder auf.
Meine eigenen Lider fühlen sich an, als hingen Gewichte daran. Es ist nur eine Schlaftablette, versichere ich mir selbst. Das ist alles, was wir eingenommen haben. Da ich seit wer weiß wie lange nicht mehr geschlafen habe, schließe ich nur für einen Moment die Augen. Ich will sie wieder öffnen, gleich, aber als sie geschlossen sind, fühlt es sich so gut an.
»Kann mich jemand hören?«, frage ich, die Augen immer noch geschlossen. Meine Stimme klingt, als käme sie von der anderen Seite einer Mauer. Obwohl meine Arme sich schwer anfühlen, gelingt es mir, meinen Rucksack an mich zu ziehen. Ich schlinge die Arme darum und bete, dass mein Ei darin sicher ist. Als mir meine Feder über den Hals fällt – und mich kitzelt –, erinnert sie mich an meine Mutter.
Ich stelle mir ihr Gesicht vor, und ich lasse los.