Kapitel 1
Ich war stärker als früher.
Stärker als die Sechzehnjährige aus Montana, deren Bruder im Sterben lag, stärker als vor sechs Wochen. Und stärker als vor neun Monaten. Da ging ich in Boston mit meiner besten Freundin einkaufen, meine Hauptsorge der perfekte Korallenton meines Lipgloss. Ich mochte am liebsten einen gekühlten griechischen Salat, aber bitte ohne Zwiebeln, simste meinen Freundinnen sofort, wenn es bei Express einen Ausverkauf gab, und hatte einen ganzen Schrank voller Glitzerkram. Ein Mädchen hat doch ein Recht auf Glitzerkram.
Früher, als meine Familie von Krankheit heimgesucht wurde, als mein Bruder Cody zum ersten Mal eine zweite Portion Hackbraten ablehnte und abzunehmen begann, dachte ich: Das ist es jetzt. Das ist die Tragödie, mit der ich in meinem Leben fertigwerden muss – der Verfall meines großen Bruders und meiner ganzen Familie gleich mit ihm, hautnah.
Ich versuchte, tapfer zu sein. Zu lächeln, auch wenn es keinen Grund dazu gab. Im Wartezimmer des Arztes einen geistreichen Witz zu machen, damit Cody seine Angst abschütteln und lachen konnte.
Leb wohl, Angst. War nett mit dir! Aber jetzt brauche ich dich nicht mehr, denn meine Schwester ist ja hier.
Jetzt nahm ich am Brimstone Bleed teil, um sein Leben zu retten. Ich hatte gedacht, das miese Blatt, das uns ausgeteilt worden war, sei Codys Krankheit. Aber jetzt zeigt sich, dass eben jenes Blatt, das noch schlimmer ist als die Krankheit, mir einen winzigen Krümel Hoffnung anbietet. So ist das Leben. Wenn du in der Scheiße steckst, denkst du: Zumindest kann es nicht noch schlimmer kommen.
Und dann kriegst du eine übergebraten, weil du so unglaublich naiv warst.
Ich war nicht geschaffen für ein Rennen quer durch den Dschungel oder einen Marsch quer durch die Wüste, bei dem mir die Glut der Sonne die Haut verbrannte.
Aber wie gesagt …
Ich war jetzt stärker als früher.