Kapitel 16

Während wir ums Feuer sitzen, versucht Titus, Konversation zu machen. Er macht Witze darüber, wie unberechenbar Pandoras sein können, aber außer Caroline tut ihm niemand den Gefallen, zu lächeln. Sein Grizzly steht auf und verschwindet in die Dschungelnacht. Es gefällt mir gar nicht, dass sein Pandora außer Sichtweite ist und dass Titus es ihm so einfach erlaubt, sich abzusetzen.

Ich nehme mir ein totes Blatt und versuche, Madox zu unterhalten. Ich wedele mit dem Blatt hin und her und er springt einige Male danach, aber dann lässt er sich auf den Boden fallen und schließt die Augen. Ich lächle vor mich hin und streichle ihn. Mein Fuchs hatte einen großen Tag.

»Das war ziemlich beeindruckend.« Beim Klang von Titus’ Stimme zucke ich zusammen. »Wie er die Gestalt gewechselt hat.«

Ich sehe ihn lange an, während ich Madox kraule. »Woher weißt du, dass er die Gestalt gewechselt hat?«

Titus grinst, sodass ich jeden Zahn in seinem Mund sehen kann. »Als ich ankam, war er ein Löwe.«

Ich schaue mich um und bemerke, dass alle anderen ihn beobachten. Ich frage mich, warum er noch bei uns ist. Wir haben den Standort seiner Flagge längst gefunden. Ich warte darauf, dass Harper etwas sagt, aber sie schweigt.

»Wo ist dein Pandora?«, frage ich ihn.

Titus zuckt mit den Schultern, als sei es ihm vollkommen egal. »Ist wahrscheinlich jagen gegangen.« Wie aufs Stichwort späht der Bär aus dem Gebüsch. Er mustert seinen Kandidaten für einen langen Moment, dann kommt er herangetapst und setzt sich neben ihn. Seine massigen Schultern sind von seltsamen Peitschenmalen überzogen. Ich frage mich, ob er sie von dem Kampf oder von etwas anderem hat. Meine Neugier über seine Verletzungen erlischt schlagartig, als ich sehe, was der Bär zwischen den Kiefern hat. Ich stoße einen überraschten Laut aus.

Das Kaninchen wehrt sich gegen den Bären, und ich kann bereits Blut von seinen Hinterläufen tropfen sehen. AK-7 öffnet das Maul und lässt das Kaninchen auf den Boden fallen. Es versucht sofort wegzulaufen, aber der Bär hält es fest. Dann zieht er eine Kralle leicht über seine Beute. Er tut es wieder und wieder, während das Kaninchen kreischt. Die Eingeweide des Tieres beginnen aus seinem Bauch zu quellen, aber der Bär quält es noch immer, und noch immer schreit das Kaninchen.

»Tu etwas, damit er aufhört. Er foltert es«, sage ich zu Titus. Die anderen Kandidaten schütteln den Kopf und murmeln Proteste.

»Warum?«, fragt er lachend. »Er muss doch fressen.«

Titus beobachtet voller Faszination, wie der Bär eine riesige Pfote über das Kaninchen legt und zudrückt. Ich springe auf und laufe zu AK-7 hinüber, aber es ist zu spät. Der Schädel des Kaninchens zerbricht mit einem hörbaren Knacken.

»Oh Gott.« Ich wende mich ab, und Tränen brennen mir auf den Wangen. Als ich wieder hinsehe, beißt der Bär dem Kaninchen ein Bein ab. Etwas Rotes blitzt vor meinen Augen auf. »Was ist los mit ihm?« Ich wische mir die Tränen ab. »Was ist los mit dir?«

Titus hält die Hände hoch, aber das Feixen auf seinem braun gebrannten Gesicht entgeht mir nicht. »Beruhige dich. Das ist ein Pandora, kein Teddybär.«

Ich stürme auf ihn zu, aber zwei starke Hände packen mich. »Tella.« Warmer Atem kitzelt mich im Nacken. »Setz dich hin.«

Als ich den Kopf drehe, sehe ich Guy hinter mir stehen, spüre seine Finger auf meiner Haut brennen. »Setz dich selbst hin.« Ich funkle die anderen Kandidaten an, und endlich ergreift Levi das Wort.

»Ernsthaft, Mann«, sagt er. »Warum bittest du ihn nicht, woanders zu fressen?«

Titus schiebt sich das blonde Haar hinter die Ohren. »Ich verstehe nicht, was daran so schlimm ist.«

Guy lässt mich los und geht einen Schritt auf ihn zu. »Wenn du mit uns kommen willst, frisst der Bär woanders.«

»Genau«, sagt Harper und nickt.

Titus hält zum Zeichen seiner Kapitulation die Hände hoch. »Na schön. AK-7, friss das woanders.«

Der Bär sieht ihn an, dann steht er auf und geht. Der Kaninchenkadaver baumelt ihm aus dem Maul.

Guy sieht Titus noch einen Moment lang an, bevor er sich zu mir umdreht. Er sieht mir forschend ins Gesicht. »Du kannst dich hinsetzen.«

»Was hast du da in der Hand?«, fragt Caroline. Ich sehe sie an und bemerke, dass die Frage an Guy gerichtet ist. In dem Moment sehe ich erst die beiden Schlangen in seinen Händen.

Ich stolpere rückwärts und lande hart auf dem Boden. Er sieht zu, wie ich hinfalle, dann nimmt er einen langen Zweig aus dem Feuer und piekst ihn durch die Schlangen.

»Abendessen«, sagt er schließlich. »Sie sind nicht giftig.«

»Normalerweise lasse ich RX-13 jagen«, bemerkt Harper, und es überrascht mich, dass selbst sie sich unwohl zu fühlen scheint. »Aber ich schätze, ich könnte ihr einen freien Abend geben.« Harper wedelt mit der Hand in Richtung des Adlers. »Geh für dich selbst jagen.«

Levi und Ransom machen das Gleiche mit ihren Pandoras, obwohl Ransoms Waschbär zögert. Er scheint wegen etwas erregt zu sein, aber ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Es dauert nicht lange, und die drei Tiere verschwinden im Dschungel. Ich sollte ihnen Madox hinterherschicken. Er sollte lernen, mit den anderen Pandoras auszukommen. Aber ich möchte ihn lieber in meiner Nähe haben.

Mir dreht sich der Magen um, als Guy die gesäuberten Schlangen brät und dann jedem von uns ein Stück gibt. Als er Titus eine Portion anbietet, sagt dieser: »Ist das alles, was ich zu essen bekomme?«

Zur Antwort wirft Guy das verkohlte Stück Schlange auf die Erde vor seinen Füßen. »Wenn man zu viel isst, schläft man zu tief.«

»Wir wechseln uns ab«, unterbricht Harper ihn. »Wir können tief schlafen, wenn wir es wirklich brauchen.«

Guy wirft ihr einen Blick zu, dann deutet er mit dem Kinn auf die Schlange und sagt, dass sie mehr haben könne, wenn sie wolle. Ich beschließe, Guys Beispiel zu folgen und nur das zu essen, was er mir gibt.

Ein unbehagliches Schweigen macht sich breit, während wir das zähe und knochige Fleisch kauen. Ich würge viermal, schaffe es aber irgendwie, das Essen bei mir zu behalten. Während ich einen Bissen Schlange herunterschlucke, kann ich aus irgendeinem Grund nur daran denken, dass ich eigentlich die Art von Mensch bin, die zu Hause drei glitzernde Federboas in Violett, Rosa und Rot über dem Spiegel hängen hat. Und jetzt esse ich Schlange.

Alle schauen Titus zu, als er sich das verkohlte Fleisch in den Mund schiebt und kaut. Es gefällt mir nicht, wie sein Blick beim Essen über meinen Körper wandert oder wie er Harper beäugt, während sie sich um das Feuer kümmert.

Caroline scheint zu spüren, dass es höchste Zeit ist, die allgemeine Befangenheit aufzulockern. »Wir haben uns heute gut geschlagen, nicht?«

Ich lächle in ihre Richtung. Ihre Augen haben einen sanften Grauton, und sie verraten mir alles, was ich über sie wissen muss. Sie ist freundlich und großzügig … und sie wird dieses Rennen nicht gewinnen.

Harper reicht Dink einen Stock aus dem Feuer, und der Junge zeichnet damit Häschen in die Erde. »Wir haben uns wirklich gut geschlagen«, sagt Harper zu Caroline und kehrt an ihren Platz zurück. »Und morgen werden wir uns noch besser schlagen.«

Ich möchte sie fragen, wie sie da so sicher sein kann. Aber dann wird mir klar, dass sie es nicht ist. Es ist einfach etwas, was Anführer sagen, um die Truppen anzuspornen. Harper dreht ihr langes, blondes Haar zu einem Knoten und befestigt ihn mit einem dünnen Zweig. Ihre grünen Augen tanzen im Feuerschein, und ich frage mich, wie sie wohl ist, wenn sie zu Hause ist. Wessen Kind sie ist. Wie ihr Zimmer aussieht. Ich frage mich, ob wir Freundinnen sein würden, wenn wir auf dieselbe Highschool gegangen wären, oder ob wir einander ignorieren würden, zu unterschiedlich, um außerhalb dieses Rennens eine Beziehung zueinander zu pflegen. Eines weiß ich jedoch: Eine Freundin wie Harper hätte das Leben an der Ridgeline High viel aufregender gemacht.

»Meinst du, wir …«, beginnt Caroline.

»Leute«, unterbricht Levi sie. »Seht mal.«

Wir alle schauen auf seine Hand. Darin hält er seinen weißen Ohrhörer.

Das rote Licht blinkt.

Für einen langen Moment sagt niemand etwas, dann fummeln alle in ihren Taschen, um ihre eigenen Geräte hervorzuholen. Als wir sie alle haben, halten wir sie vor uns hin. Sie funktionieren noch. Selbst nach diesem ganzen Regen. Ich stoße einen erleichterten Seufzer aus, und dann frage ich mich, ob mir das nicht eher Sorgen machen sollte, anstatt mich zu beruhigen.

Sieben Lichter blinken und bilden einen Kreis aus roten Blitzen um das Feuer. Ich zähle die Geräte. Es sind zu wenige.

Dink beginnt leise zu weinen.

»Ist schon gut. Es ist alles in Ordnung.« Caroline nimmt ihn in die Arme. »Wir werden dir erzählen, was es sagt.«

»Was? Hast du etwa dein Gerät verloren?«, fragt Titus Dink lachend. Obwohl ich es auch gern wissen würde, möchte ich ihm für die Frage eine Ohrfeige verpassen.

Dink weint heftiger, und Caroline wirft Titus einen Blick zu, der ihn zum Schweigen bringen soll.

»Und wo sind eure Pandoras?«, fügt Titus hinzu und schaut zwischen Caroline und Dink hin und her.

»Sie haben es nicht geschafft«, antwortet Caroline für sie beide. »Und Dink hat sein Gerät verloren, es war ein Unfall.«

Titus legt den Kopf schief und presst die Lippen aufeinander, als fühle er mit ihnen. »Es ist nicht seine Schuld. Dieses Rennen ist für gewisse Leute einfach nicht geeignet.«

Caroline wird rot. Sie droht ihm mit ihrem Finger. »Pass lieber auf, Junge …«

»Leute.« Levi hebt die Hand und deutet auf das Gerät. »Können wir uns jetzt bitte die Nachricht anhören?«

Titus zuckt mit den Schultern, als sei es ihm egal, und alle stecken sich die Geräte ins Ohr. Aber ich … ich kann Caroline nicht aus den Augen lassen, wie sie Titus anfunkelt. Vielleicht habe ich sie unterschätzt. Jeder von uns hat zu Hause einen guten Grund, um sich durch diesen Dschungel zu kämpfen. Caroline hat auch einen, da bin ich mir sicher. Aber sie hat auch einen weiteren Grund, der direkt neben ihr sitzt.

Ich spüre, dass mich jemand ansieht, und stelle fest, dass Guy mich mustert. Ich mache ein Gesicht, das heißen soll: Was? Er zeigt auf sein Ohr, wie um zu sagen, dass ich hinterherhinke. Ich verdrehe die Augen und setze das Gerät ein.

Kaum steckt es in meinem Ohr, überrollt mich eine Welle der Angst. Harper sieht uns an und reckt den Daumen hoch. Alle außer Dink berühren die roten Blinklichter. Das Klicken und Rauschen setzt ein, und ich verkrampfe mich vor lauter Erwartung. Ich weiß, dass überall im Dschungel und hier vor mir andere Konkurrenten wahrscheinlich dieselbe Nachricht hören. Aber aus irgendeinem Grund ist es so, als spreche die Frau direkt zu mir.

»Wenn Sie mitgezählt haben, werden Sie wissen, dass dieser Abend den sechsten Tag des Rennens beschließt. Sie haben bis zum Mittag des vierzehnten Tages Zeit, um im Basislager einzutreffen. Ihnen bleiben daher noch etwa acht Tage, um Ihr Ziel zu erreichen.«

Ich bekomme eine Gänsehaut bei dem Gedanken, acht weitere Tage im Dschungel zu verbringen. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Als ich mich auf dem Lagerplatz umschaue, verstehe ich mehr denn je, dass ich wahrscheinlich nicht die geringste Chance hatte, bevor ich diesen Leuten begegnet bin.

»Wir sind überaus stolz darauf, in diesem Jahr ein so breit gefächertes Kandidatenfeld zu haben. Das Rennen wird dadurch sehr aufregend werden.« Die Frau hält inne, und ich höre Papier rascheln. »Es interessiert Sie vielleicht zu erfahren, dass genau einhundertzweiundzwanzig Menschen am Brimstone Bleed teilnehmen.«

Einhundertzweiundzwanzig Menschen? Ich denke wieder an den ersten Tag an der Startlinie, an all die namenlosen Gesichter. Ich wünschte, ich würde sie kennen. Ich wünschte, ich wüsste, wo sie jetzt sind. Mir kommt ein neuer Gedanke: Wenn wir alle beschlossen hätten, als Team an dem Wettrennen teilzunehmen, und wenn wir verlangt hätten, den Preis zu teilen, hätten diese Leute genug von dem Mittel für alle herstellen können?

Die Frau blättert in weiteren Papieren.

»Gegenwärtig treten einhundertundvierzehn Kandidaten im Brimstone Bleed gegeneinander an.«