Kapitel 2

Mein Kopf zuckt nach rechts und links, als ich nach jemandem in meinem Zimmer suche. Aber natürlich ist niemand da. Dann begreife ich, was los ist. Mom und Dad wissen, wie schwer dieser Umzug für mich war, und jetzt versuchen sie, mein Glück zu kaufen. Oder zumindest eine Pause von meinem Gejammer.

Bin ich wirklich so einfach gestrickt?

Bitte! Hätten sie kleine blaue Schachteln hinten an den Umzugswagen gebunden, wäre ich ihnen nachgejagt, bis meine Füße geblutet hätten.

Ich fliege förmlich durch mein Zimmer und springe aufs Bett, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Ich habe die letzten neun Monate ohne Internet oder Handy verbracht, und in diesem Moment fühle ich mich wie ein wilder Hund, der seine Beute beäugt.

Ich halte mir die Schachtel nah an die Lippen und flüstere ihr zu: »Du gehörst mir, Süße. Ganz allein mir.«

Ich will sie gerade aufreißen, als ich mich bremse. Dieser Moment, in dem ich mich frage, was darin ist, wird so schnell vorbei sein. Und sobald er vorüber ist, habe ich nichts, worauf ich mich freuen kann. Vielleicht sollte ich die Befriedigung meiner Neugier aufschieben, damit warten, bis ich es nicht mehr ertragen kann. Ich könnte tagelang glücklich sein, nur weil ich weiß, dass ich etwas habe, worauf ich mich freuen kann.

Ich schüttele die Schachtel sanft.

Leg die Schachtel hin, Tella, befehle ich mir.

»Vergiss es«, sage ich laut.

Ich lege die Hand auf den Deckel und nehme ihn ab. Und blicke auf ein winziges Kissen. Ich stelle mir alle möglichen Miniaturtiere vor, die so ein Kissen in ihren Miniaturbetten benutzen. Aber das ist blöd, denn wie würden sie jemals einen passenden Kissenbezug finden?

Ich packe das Kissen mit den Fingerspitzen, und als ich es hochhebe, bin ich überrascht über das, was ich darunter schlafen sehe. Ich schnippe das Kissen auf mein Bett und greife in die Schachtel nach einem kleinen, weißen Gerät. Es ist nicht größer als ein Fünf-Cent-Stück und total komisch verbogen. Es sieht aus … es sieht aus wie ein Hörgerät.

Ich rümpfe die Nase, während ich es in der Hand drehe und wende. Dann kreische ich fast vor Aufregung los, als ich auf der anderen Seite ein rotes Blinklicht sehe. Blinklichter sind cool. Sie sind ein Zeichen für Technologie und Fortschritt und vielleicht sogar eine Verbindung zur Außenwelt – zu meinen Freunden. Oder vielleicht ist es Musik. Wer weiß, was für abgefahrenes Zeug im letzten Jahr auf den Markt gekommen ist? Ich wette, dieses Baby speichert ungefähr eine Million Songs. Und ich werde sie mir alle anhören. Jeden. Einzelnen. Song.

Während ich mir schwöre, mich echt und halbherzig bei meinen Eltern zu entschuldigen, und hoffe, dass ich gleich Lady Gagas neuesten Hit hören kann, stecke ich mir das Gerät ins Ohr. Halleluja, es passt! Ich könnte nicht glücklicher sein, wenn mein Bostoner Objekt der Begierde mir gerade Diamanten geschenkt hätte.

Ich fummele eine Sekunde lang herum, bevor meine Finger auf dem roten, blinkenden Knopf landen. Uuuuuund … ab gehts, Baby.

Sobald ich auf den Knopf gedrückt habe, höre ich ein Klicken. Das Geräusch hält mehrere Sekunden an. So lange, dass ich mich schon völlig fertig fühle. Aber dann verwandelt sich das Klicken in ein Rauschen, als schalte sich jemand an einem Funkgerät zu.

Ich springe vom Bett auf, gehe durch den Raum und neige den Kopf, als suche ich nach einem Signal. Ich komme mir vor wie ein Idiot, und doch ist es das Tollste, was ich seit einer Ewigkeit erlebt habe. Ich zucke zusammen, als ich eine Frauenstimme höre. Sie ist klar und deutlich. Als hätte diese Dame noch nie in ihrem Leben ein Wort falsch ausgesprochen. Voller Konzentration starre ich auf den Boden. Und lausche.

»Wenn Sie diese Nachricht hören, sind Sie eingeladen, als Kandidat am Brimstone Bleed teilzunehmen. Alle Kandidaten müssen sich binnen achtundvierzig Stunden melden, um ihre Pandora-Gefährten auszuwählen. Wenn Sie nicht «

»Tella?« Mein Dad. »Was machst du da?«

Ich wirbele herum und vollführe einen kleinen Freudentanz. »Was ist das für ein Ding?« Ich zeige auf das Gerät in meinem Ohr. »Wo habt ihr es gekauft? Das ist der absolute Wahnsinn.«

»Was gekauft?« Das Gesicht meines Dads wechselt von verwirrt zu … alarmiert. Einen Moment fühle ich mich wie ein kleines Kind. Als würde ich jede Sekunde in die Ecke gestellt und müsse da vor Wut vor mich hin kochen, während Cody mit seiner Freiheit angibt wie damals, als wir vier und sieben Jahre alt waren. »Was hast du da im Ohr?« Mein Dad klingt merkwürdig. Seine Worte sind genau gewählt, er spricht langsam und deutlich. »Gib es her.«

»Was? Warum?«, frage ich.

Dad streckt die Hand aus. »Sofort.«

Sein Ton lässt keine Widerrede zu. Mein Dad ist ein ziemlich kleiner Mann, aber in diesem Moment kommt er mir riesengroß vor. Ich ziehe das Gerät aus dem Ohr und lasse es in seine ausgestreckte Hand fallen. Als er die Faust darum schließt, bin ich mir sicher, dass mein neues Spielzeug für immer konfisziert ist.

»Warum habt ihr es mir geschenkt, wenn ihr es mir sofort wieder wegnehmt?«, frage ich.

Dad sieht mich an, als würde er gleich etwas Tiefgründiges sagen, aber dann murmelt er: »Deine Mom braucht Hilfe in der Küche.« Er verlässt das Zimmer, meine einzige Chance auf ein bisschen Spaß innerhalb des nächsten Äons in seiner Tasche.

Ich halte mich am Türrahmen fest und lasse den Kopf hängen. Der Ausraster meines Dads bedeutet, dass nicht er das funkende Hörgerät in mein Zimmer gelegt hat, was die Frage aufwirft, wer es war. Dann dämmert es mir. Als ich an Codys Zimmer vorbeikomme, brülle ich: »Netter Trick, du Arsch.« Noch während ich das rufe, stelle ich mir vor, was wäre, wenn er es nicht gewesen ist. Mir passiert nie etwas Aufregendes. Niemals. Aber das hindert mich nicht daran, Tagträumen nachzuhängen.

In meinem Kopf existiert eine Welt voller Möglichkeiten. Jetzt gerade stelle ich mir vor, dass mich der Anführer eines mysteriösen Geheimkultes angeworben hat, um am Brimstone Blood teilzunehmen. Oder Bleed. Oder wie auch immer Cody es genannt hat. So oder so, es klingt irgendwie gruselig. Die Gemeinheiten seiner kleinen Schwester gegenüber sind offenbar noch fieser geworden. Und ich finde es so richtig gemein, mir falsche Hoffnungen zu machen.

Die eigentliche Frage ist, wie er die Stimme dieser Frau aufgezeichnet hat. Anscheinend hat der Knabe mir etwas verheimlicht. Mom hat darauf bestanden, dass Cody sich entspannt, nachdem wir hierhergezogen waren, daher das Technikverbot, aber er muss trotzdem etwas versteckt haben. Einen Laptop. Ein Smartphone. Irgendetwas.

Beim bloßen Gedanken daran bildet sich Schaum vor meinem Mund.

Ich frage mich flüchtig, ob ich vielleicht Tollwut bekomme.

Mom ist nicht in der Küche, aber ich sehe sie im Schlafzimmer, wo sie leise mit Dad spricht.

»Du hast es versprochen!«, zischt mein Dad. »Du hast versprochen, dass sie sie hier nicht finden würden.«

»Es tut mir leid. Jetzt ist es zu spät.«

»Noch nicht, es ist noch nicht …«

Als meine Mom mich sieht, bringt sie ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Tella«, sagt sie, »ich möchte, dass du das Abendessen machst und dann zu uns in Codys Zimmer kommst.« Damit schließt sie die Tür.

»Boah, krass unhöflich«, murmele ich, hauptsächlich zu mir selbst. Einen Moment frage ich mich, worüber meine Eltern geredet haben. Ich kann nicht behaupten, dass es mich nicht verunsichert hat, was ich gehört habe, aber wenn man mit einem chronisch kranken Bruder lebt, gewöhnt man sich daran, seine Eltern hinter geschlossenen Türen jede Menge schrägen Mist sagen zu hören. Also tue ich ihre Gereiztheit ab und richte meine Aufmerksamkeit auf meinen Marschbefehl.

Heute ist Sunday-Funday, den mein Dad erfunden hat und der darin besteht, dass wir in Codys Zimmer Spaghetti essen. Wir sitzen alle mit Papptellern um sein Bett und niemand darf etwas Negatives sagen. Tatsächlich bedeutet es, dass sich alle alles Schreckliche für Montag aufheben, was für einen echt positiven Start in die Woche sorgt.

Ich gieße die Spaghetti ab und gebe eine Dose Tomatensauce hinzu. Dann küsse ich mir die Fingerspitzen wie ein italienischer Fernsehkoch. Ich nehme den übergroßen Edelstahltopf, fülle vier Teller mit Nudeln, bestreue sie mit Parmesan aus der Tüte und lege eine Scheibe aufgebackenes Knoblauchbrot dazu.

Alles, was wir essen, wird mit viel Liebe zubereitet und ist so voll mit Konservierungsstoffen wie nur menschenmöglich. Da wir dreißig Meilen vom nächsten Lebensmittelladen entfernt wohnen, ist dafür gesorgt, dass wir nie wieder etwas Frisches essen werden, es sei denn, wir bauen es selbst an, und das wird so was von nicht passieren. Meine Eltern haben ihre Brieftaschen schon immer körperlicher Arbeit vorgezogen; noch ein Grund, warum wir nicht aus der Stadt hätten wegziehen dürfen.

Wie eine Kellnerin, die ein gutes Trinkgeld bekommen hat, trage ich ein Tablett mit Tellern und Gläsern in Codys Zimmer. Ich stütze sogar eine Hand in die Hüfte, damit ich es an unseren Möbeln, die für dieses Haus zu teuer sind, vorbeibalancieren kann. Als ich in den Flur komme, höre ich Mom und Dad hastig mit Cody tuscheln. Ich bleibe stehen und lausche, aber die Dielenbretter wählen genau diesen Moment, um unter meinen Schuhen zu knarren.

Alle verstummen.

»Hast du die Spaghetti?«, fragt mein Dad. Dabei klingt er, als grabe er nach Informationen, die nichts mit dem Abendessen zu tun haben.

Ich biege mit meinem bis dahin elegantesten Schwung um die Ecke. Er ist so gut, dass ich das Tablett beinahe ganz fallen lasse. Trotzdem, wenn ich mich entscheiden müsste zwischen dem schwungvollen Durchschlängeln und der Vermeidung von Bodenkontakt der Spaghetti würde ich das Erstere wählen. »Das Abendessen ist serviert, edle Gäste.« Ich halte das Tablett fest und verteile die Teller an meine Familie. Als ich Dad die Nudeln gebe, halte ich kurz inne und schaue ihm prüfend ins Gesicht. Ich weiß, dass es Cody war, der die Schachtel in mein Zimmer gelegt hat, aber es macht mir zu schaffen, dass mein Dad sich deswegen so aufgeführt hat. Er hasst es, wenn Cody und ich uns zum Spaß anzicken, und ich schätze, er war einfach nicht in der Stimmung für eine weitere Runde. Trotzdem will ich wissen, dass er nicht mehr sauer ist. Und vor allem möchte ich dieses Gerät aus seiner Tasche zurückhaben. Streich oder nicht, es ist mein Rettungsanker im Kampf gegen Langeweile und Vereinsamung.

Beim Essen redet Mom bis zum Erbrechen darüber, was morgen im Unterricht ansteht. Ich will sie daran erinnern, dass Sunday-Funday Gespräche über negative Themen verbietet, aber ich halte den Mund. Wir haben August, was zwei Sachen bedeutet: A) Es beginnt ein neues Semester im Haushalt der Holloways, und B) Mom ist auf einer chronischen Übereifer-Diät. Und vielleicht auch auf Crack.

Sobald wir hierhergezogen waren, hat Mom angefangen, Cody und mich zu Hause zu unterrichten. Es war ein herber Schlag für mein soziales Leben, nur noch übertroffen von den Worten: Stell dir vor! Wir ziehen nach Montana. Ich hätte nie gedacht, dass meine Mutter der Typ ist, der in die Wildnis zieht und ihren Kindern Hausunterricht gibt, aber es stellte sich heraus, dass sie voller angenehmer Überraschungen steckt. Ich gebe zu, in puncto Lehrerin ist sie die Beste, die ich je hatte. Vielleicht weil sie jedes Mal strahlt, wenn ich eine richtige Antwort gebe, oder weil sie tanzt, wenn wir unsere Prüfungen mit Auszeichnung bestehen.

Cody sitzt im Bett und nickt, während Mom über Unterrichtspläne redet. Irgendwie klingt sie heute Abend zu eifrig, als gebe sie sich zu große Mühe, uns alle zum Lächeln zu bringen. Ich schaue meinen Dad an und sehe, dass sie zumindest bei einem von uns gescheitert ist. Die Gabel meines Dads dreht sich in einem endlosen Kreis und verwandelt mein Spaghetti-Meisterwerk in rötlich-orangefarbenen Matsch.

Ich kann den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht länger ertragen. »Dad, bist du okay?«

Er reißt den Kopf hoch, aber es dauert eine Weile, bis sein Mund den Ansatz eines Lächelns zeigt. »Ja, alles bestens.«

Bestens? Jetzt weiß ich, dass etwas nicht stimmt. Unwillkürlich blicke ich zu seiner Tasche, in der er das Gerät verstaut hat. Er legt eine Hand darüber, und unsere Blicke begegnen sich.

»Lass uns spülen gehen, Andrea.« Dad löst den Blick von mir und richtet ihn auf Mom. Sie könnten heute Abend nicht unterschiedlicher sein: Dad in seiner düsteren Nervosität und Mom mit ihrem gekünstelten Lächeln.

Meine Mom nickt und sammelt unsere Pappteller ein. Dann verlässt sie das Zimmer, nachdem sie meinem Dad einen letzten Blick zugeworfen hat. Diese schrägen Schwingungen bringen mich um, daher öffne ich den Mund, um etwas zu sagen, irgendwas. »Netter Streich, Cody. Zu blöd, dass Dad deine Pointe gekillt hat.« Es ist nicht gerade super, aber ich habe das Gefühl, dass die schlechte Laune meines Dads mit der blauen Schachtel begonnen hat. Warum es nicht ansprechen, solange Dad noch im Zimmer ist?

Cody ist gerade dabei, sich im Bett höher aufzusetzen, aber er hält inne, als er hört, was ich gesagt habe. Er senkt den Blick und krallt die Faust in die Decke. Sein Gesicht wirkt beinahe gequält. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Was, wenn Cody diese Schachtel nicht in mein Zimmer gelegt hat? Aber wenn er es nicht war, wer dann? Dad ist zu sauer, er kann es nicht gewesen sein, und Mom würde so etwas nicht machen. Zumindest glaube ich das. Sie hat mich im letzten Jahr jedoch zu oft überrascht, als dass ich mir da sicher sein könnte.

Der Schauer, der meinen Rücken hinabläuft, verwandelt sich allmählich in eine Gänsehaut. Aber genau in dem Moment hebt Cody den Kopf und grinst. »Ich musste mein Hirn ganz schön anstrengen, kleine Schwester«, sagt er und tippt sich an die Schläfe. Dann schüttelt er den Kopf, als sei ich eine große Enttäuschung. »Hätte so toll sein können.«

Ich seufze vor Erleichterung. Ein Abenteuer klingt viel verlockender, wenn es sich sicher in meinem Kopf abspielt. Kurz dachte ich, er würde vielleicht sagen: »Wovon redest du?« Und dann hätte ich überlegen müssen, ob ich wirklich gewollt hatte, dass etwas Aufregendes passiert, oder ob ich davon nur hatte träumen wollen.

Ich verdrehe die Augen und sage: »Total lahm. Das war echt so lahm.«

Ich gehe zur Tür, überrascht, dass Dad geschwiegen hat. Wenn er wirklich deshalb sauer ist, warum hat er dann nichts gesagt? Als ich hinausgehe, um Mom in der Küche zu helfen, schaue ich noch einmal über die Schulter. Ich sehe, wie Dad Cody zunickt. Es ist nur ein Nicken, nichts Besonderes. Aber irgendetwas ist da. Sie wirken erleichtert, und es ist ein äußerst beunruhigendes Gefühl – nicht zu wissen, worüber sie sich solche Sorgen gemacht haben.

Während ich durch den Flur in Richtung Küche gehe, wo meine Mutter vor sich hin summt, kann ich nicht aufhören, an das Gerät zu denken. Was es wirklich ist. Wie Cody es in die Finger bekommen hat.

Ob es überhaupt Cody war.

Sein Gesichtsausdruck, als Dad genickt hat, lässt mich alles hinterfragen. Ich stelle mein Glas auf die Küchentheke, und obwohl ich weiß, dass meine Mom mit mir redet, höre ich kein einziges Wort. Ich kann nur noch daran denken, dass ich das kleine weiße Gerät zurückbekommen muss. Und zwar heute Abend.