Kapitel 39

Er fährt sich mit der Hand übers Kinn, als sei er unsicher, was er tun soll. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und meine Haut kribbelt. Wenn er mich nicht berührt, werde ich platzen.

Ich werde in mich zusammenfallen.

Er macht einen Schritt auf mich zu, und ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, irgendetwas, das ihn näher zu mir bringen wird. Aber er durchquert den Raum ohne Aufforderung. Er setzt sich auf die Bettkante, als sei er sich nicht sicher, ob ich ihn dort haben will. Als habe er Angst, dass ich ihn jeden Moment hinunterstoßen würde. Lieber würde ich mir die Eingeweide herausreißen.

Guy schluckt.

Er ballt die Fäuste.

Er beißt die Zähne aufeinander.

»Sag doch was«, bitte ich ihn.

Er sieht mich an. Seine Augen sind voller Furcht. Mir stockt der Atem. »Jaxon sagt, dass Titus tot ist.«

Ich spüre einen Kloß im Hals. Plötzlich fühle ich mich wieder wie ein Kind, als müsse mich jemand in den Arm nehmen und trösten. Oben auf dem Felsen war ich mutig. Ich habe mich Titus gestellt und überlebt. Aber hier, wo Guy so dicht neben mir sitzt, verschlingt plötzlich das Entsetzen meine Seele. Tränen strömen mir über die Wangen. Ich wundere mich über sie und bin überrascht, dass ich noch weinen kann, obwohl ich so dehydriert bin. Das ist der Moment, in dem mir klar wird, dass ich keinen Durst habe und dass die Männer, die für das Rennen arbeiten, mir Flüssigkeit gegeben haben müssen.

Guy wischt mir die Tränen weg und schüttelt den Kopf. »Er ist mir entkommen, Tella«, erklärt er. »Als er wegrannte, wusste ich … ich wusste, dass er dich verfolgen würde.« Guy schaut auf seinen Schoß und beißt sich innen auf die Wange. »Ich habe versucht, ihn zu finden, bevor er dich findet. Ich habe es versucht.« Er kneift die Augen zusammen. »Ich hätte ihn umgebracht.«

Ich setze mich auf – knirsche gegen den Schmerz in meinem Unterleib mit den Zähnen – und schlinge ihm die Arme um die Taille, begrabe den Kopf an seiner Brust. Ich spüre, dass er tief Luft holt. Dann legt er mir die Arme um die Schultern. »Tella«, flüstert er mir ins Haar. »Es ist okay. Ich bin da.«

Ich beiße mir auf die Lippen und drücke meine Wange enger an ihn. »Ich erinnere mich an das, was du mir erzählt hast.«

Er versteift sich. »Woran erinnerst du dich?«

Ich ziehe mich zurück, richte mich auf und sehe ihm ins Gesicht. »Diese Tätowierung auf deinem Rücken. Sie steht für etwas«, erwidere ich. »Du hast gesagt, dass Falken Schlangen jagen.«

Guy schaut mich lange an, dann nickt er. »Das ist richtig.«

Ich falte die Hände wie Caroline, wenn sie nervös ist. Es hilft nicht. »Du bist hier, um die Menschen zu töten, die dieses Rennen organisieren.«

Er blickt über die Schulter zur Tür. Als er wieder zu mir sieht, nimmt er die Schultern zurück und setzt sich gerade hin. Sein Schweigen ist Eingeständnis genug, aber ich möchte es hören, möchte, dass er es laut ausspricht.

»Sag es mir«, verlange ich. »Sag mir, dass ich recht habe.«

Frische Tränen stehlen sich aus meinen Augen. In diesem Moment habe ich mehr Angst als während des ganzen Rennens. Angst, dass Guy bei dem Versuch sterben wird, diese Leute zu finden – und vor dem, was ich tun würde, um das zu verhindern. Er streicht mir mit den Daumen über die Wangen und sagt: »Du hast recht. Ich bin hier, um den Brimstone Bleed zu zerstören. Um sicherzustellen, dass niemand jemals wieder darunter leiden muss. Ich habe trainiert …« Seine Stimme verliert sich, und er berührt gedankenverloren sein verstümmeltes Ohr, als erinnere er sich an dieses Training. Dann legt er mir die Hand unters Kinn und hält es so, dass ich ihm in die Augen sehe. »Tella, erinnerst du dich, was ich dir über Gabriel Santiagos Tochter Morgan erzählt habe?«

Ich nicke. Wie könnte ich das vergessen?

Guy atmet mit zusammengepressten Lippen ein, und mir wird klar, dass er mir den Rest der Geschichte erzählen wird. Ich verkrampfe mich, während ich warte. »Nach Morgans Tod«, beginnt er sanft, »hat Santiago herausgefunden, dass die Pharmis das Feuer gelegt hatten. Und er wollte Rache. Er wollte, dass die Pharmis, die seine Tochter getötet hatten, die sein Werk zerstört hatten, für das bezahlten, was sie getan hatten. Er bedrohte ihre Familien, sagte, er werde ihre Kinder und Partner und Eltern ermorden, wenn sie sich nicht seinen Bedingungen fügten.« Guy schluckt, dann fährt er fort: »Santiago war ein mächtiger Mann mit mächtigen Freunden. Er hätte tun können, was er versprochen hat.«

Ich blicke zu Boden und frage mich, was ich tun würde, wenn jemand meine ganze Familie bedrohen würde. Jemand, von dem ich glaube, dass er seine Drohung wahr machen wird. »Was wollte er von ihnen?«, flüstere ich.

Guy reibt mir den Nacken. Ich schließe die Augen, während seine Finger Kreise auf meine Haut zeichnen. »Er hat von ihnen verlangt zu wählen. Er hat von ihnen verlangt, dass sie ein Mitglied ihrer Familie wählen, das bei einem Rennen antritt.«

Ich reiße die Augen auf.

»Dann hat Santiago ihnen gesagt, dass sie noch jemanden wählen sollen. Jemanden, dem ein Virus injiziert werden würde, dass sie entwickeln würden. Dieses Familienmitglied würde als Motivation für denjenigen dienen, der bei dem Rennen antritt.« Guy hört auf, meinen Nacken zu reiben. »Als Strafe dafür, dass sie etwas mit dem Tod seiner Tochter zu tun hatten, hat Santiago ein Rennen ins Leben gerufen. Und alle sechs Jahre hat er die Pharmis gezwungen, zwei Menschen aus ihren Familien auszuwählen. Einen, der antritt, und einen, der krank wird. Cousins, Brüder, Großtanten … sie konnten jeden wählen. Aber sie mussten wählen. Und das Einzige, was sie tun konnten, um zu helfen, war die Erschaffung von Tieren, die ihnen bei dem Rennen zur Seite stehen würden.«

Nach allem, was ich durchgemacht habe, kann ich dieses letzte Puzzlestück nur schwer verkraften. Das Wissen, dass vor fast sechzig Jahren jemand aus meiner Familie an Morgans Tod beteiligt war. Und dass mein Hiersein eine Folge davon ist. Ich fange an zu zittern, während mir etwas anderes einfällt …

Schöpfer Collins.

Der, der Madox erschaffen hat.

Er könnte zu meiner Familie gehören.

»Wieso gibt es das Rennen immer noch? Ist Santiago nicht tot?«

»Andere haben seinen Platz eingenommen«, antwortet Guy schnell, und ich kann die Bitterkeit in seiner Stimme hören. »Es ist jetzt größer, als Santiago es je erwartet hätte. Es gibt Menschen da draußen, die die Einzelheiten nicht kennen, die es für ein illegales Pferderennen halten und Wetten darauf abschließen. Und andere, die den Pharmis bei der Entscheidung helfen, wer aus ihren Familien infiziert werden und wer teilnehmen soll. Und es gibt auch Manager. Menschen, die das eigentliche Rennen überwachen und die Spieler laufend darüber informieren, wie ihr Pferd sich macht.«

Ich bin überwältigt von all dem, was Guy mir erzählt, und ein Teil von mir fragt sich: Warum erzählst du mir das jetzt? »Ist das alles, was du weißt?«, frage ich mutlos. »Ist da noch mehr?«

»Ja. Unwichtige Details.« Er drückt meine Hand.

»Du wirst wirklich versuchen, dieses Rennen zu beenden?«, frage ich. »Für immer?«

Guy macht eine Faust und schlägt sich damit zweimal aufs Knie. »Mein Vater hat mir erzählt, dass die Organisatoren des Rennens die fünf besten Kandidaten rekrutieren, um für sie zu arbeiten.« Guy hält inne und leckt sich die Lippen. »Ich werde gewinnen, und dann werde ich den Job annehmen.«

»Du wirst versuchen, sie von innen heraus fertigzumachen«, spekuliere ich.

Wieder drückt er mir die Hand, als wolle er sagen: Das ist richtig.

»Wenn Harper bleibt, kann sie uns vielleicht helfen«, entgegne ich, und mein Herz schlägt schneller. »Hast du gesehen, wie sie gegen die Trigger gekämpft hat? In der Nacht, in der sie unser Lager angegriffen haben? Sie war wie dieser …«

»Tella«, unterbricht Guy mich. »Du wirst mir dabei nicht helfen. Ich erzähle es dir nur, damit es keine Geheimnisse mehr gibt.«

»Aber mit mir und Harper …«

»Harper ist fort.«

Ich lasse seine Hand los. »Wovon redest du?«

Guy umfasst mein Gesicht. »Du warst fast einen ganzen Tag bewusstlos«, antwortet er. »Harper ist letzte Nacht gegangen. Sie hat Caroline und Ransom mitgenommen.«

»Wie konnte sie das tun?« Ich fasse mit beiden Händen an meinen Kopf und versuche zu verstehen, was er mir da erzählt. »Wir dürfen doch erst am letzten Tag im Basislager wählen, ob wir gehen wollen, oder?«

»Sie war die Gewinnerin«, erklärt er. Dann senkt er die Stimme zu einem Flüstern. »Sie hat aufgrund ihrer Umstände eine Bitte vorgebracht.« Ich runzle die Stirn, und Guy streicht mir mit dem Daumen über die Falte zwischen meinen Brauen. Er sieht mich nicht an, als er sagt: »Harpers Tochter ist gestorben.«

Ich lege mir die Hand auf den Mund und unterdrücke ein Schluchzen. Kopfschüttelnd denke ich daran, dass sie es mir erst gestern gesagt hat. Dass ich Harper erst als Freundin und Mitstreiterin und dann als Mutter angesehen habe.

Guy schiebt die Hand in seine Cargohose und zieht einen Umschlag hervor. »Sie hat das für dich dagelassen.« Bevor ich fragen kann, was darin steht, drückt er seine Lippen auf meine. Der Brief flattert aufs Bett, und ich schlinge Guy die Arme um den Hals. Er zieht mich enger an sich und küsst mich leidenschaftlicher, bis alle Gedanken an das Rennen verschwinden. Er küsst mich, bis nur noch er und ich und das Gefühl unserer Haut auf der des anderen existieren. Ich zittere, als er mir die Hände über den Rücken wandern lässt und um den Hals legt. Seine Zunge gleitet in meinen Mund, und mir wird heiß. Ich möchte hier, in diesem Moment leben – mit ihm so nah und in seinen Armen.

Als wir uns endlich voneinander lösen und beide nach Luft schnappen, wandern unsere Hände weiter. Sie berühren Beine und Lippen und Wangen. Es ist, als hätte unser Verstand einander losgelassen, aber als könnten unsere Körper nicht einmal im Traum aufhören.

»Lies ihren Brief«, sagt er schließlich. »Ich bin draußen.«

Er geht zur Tür, und selbst dann noch strecke ich die Hand nach ihm aus. Ich möchte ihm zurufen, dass er bleiben soll. Aber stattdessen schaue ich auf den Brief hinab, den Harper für mich dagelassen hat.

Ich atme tief ein und fahre mit dem Finger unter der zugeklebten Lasche entlang …

Dann ziehe ich den Brief heraus.

Tella,

ich gehe heute Nacht fort, und ich nehme Caroline und Ransom mit. Du solltest wissen, dass ich meine kleine Dosis des Mittels Caroline geben werde. Sie verdient eine Chance, eine echte Beziehung zu ihrer Mutter aufzubauen. Was mich betrifft, ich muss nach Hause fahren. Ich muss bei meiner Familie sein. Ich muss meine Tochter wiedersehen.

Ich werde nie wieder dieselbe sein, Tella. Nicht ohne sie. Aber glaub mir – ich werde zurückkommen. Ich werde dafür sorgen, dass das, was mir passiert ist, nicht auch dir passiert.

Ich werde dir helfen, das Brimstone Bleed zu gewinnen.

– Harper

Harpers Brief zu lesen ist zu viel. Ich krieche aus dem Bett und krümme mich vor Schmerzen. Die Stiche in meinem Bauch sind empfindlich und wund, aber ich kann nicht länger hier liegen. Ich richte mich auf und gehe durch den Raum. Ich schlurfe wie ein alter Mann, und mir schwirrt der Kopf. Ich denke an das Rennen und an das, was ich getan habe. Ich denke an Madox und dass ich ohne ihn am Boden zerstört wäre. Ich denke an Caroline und Ransom und Harper – die alle auf dem Weg nach Hause sind. Ich denke sogar an Jaxon und Olivia und Braun, meine neuen Freunde.

Und ich denke an Guy.

Ich erinnere mich daran, dass er nicht nur für seinen Cousin hier ist – dass sein Ziel größer ist als eine Schwester oder eine Mutter oder eine Tochter. Dass er versuchen wird, das Brimstone Bleed zu zerstören. Ich frage mich, ob ich stark genug bin, um ihm zu helfen – ob ich zulassen kann, dass diese Sache größer ist als Cody. Ob ich helfen kann, mehr als nur meinen Bruder zu retten.

Madox kommt hereingetapst, und ich nehme ihn auf den Arm, wobei ich sorgfältig darauf achte, mich nicht zu überanstrengen. Der Fuchs schmiegt sich mir an den Hals, und mein Herz singt. Mit meinem Pandora in den Armen begreife ich, dass mehr auf dem Spiel steht als unsere geliebten Menschen zu Hause. Da sind auch die Tiere, die die Schöpfer – die Pharmis – entwickelt haben. Was geschieht mit ihnen, wenn das Rennen vorbei ist? Werden sie getötet? Wenn ja, gehen sie freiwillig in den Tod, oder wehren sie sich? Ich schaue meinen Fuchs an und zittere.

Als ich aufblicke, wird mir bewusst, dass ich vor dem ovalen Spiegel stehe.

Bei meinem Anblick dreht sich mir der Magen um. »Himmel«, sage ich zu meinem Pandora. »Ich brauche ein verdammtes Bad.« Meine Locken sind voller Sand, und mein Gesicht ist dreckverschmiert. Mein weißes Hemd ist fast braun von Schweiß und Schmutz, und auf meiner Wange habe ich einen großen blauen Fleck. Aber meine Lippen verziehen sich zu einem kleinen Lächeln, als ich sehe, dass die grünblaue Feder immer noch über meiner Schulter hängt.

Schließlich sehe ich meine Augen. Die Augen meiner Mutter. Und plötzlich wird mir klar, was sie gemeint hat. Als ich mit dem Daumen unter ihnen entlangstreiche, bemerke ich, dass sie eine Stärke zeigen, die ich noch nie zuvor bemerkt habe. Die gleiche Stärke, die ich immer in ihr gesehen habe.

Erkenntnis – oder vielleicht Akzeptanz – macht sich in mir breit.

Meine Mutter hat uns nach Montana gebracht, um meinen Bruder zu retten. Um ihn vor dem Rennen zu verstecken. Um mich zu verstecken. Aber sie haben uns trotzdem gefunden. Sie hat es die ganze Zeit über gewusst. Es lag in ihren Augen: Wissen und Entschlossenheit und Stärke.

Ich weiß, was sie mir mit der Bemerkung sagen wollte, dass ich ihre Augen hätte.

Du hast auch meine Stärke.

Mir wird klar, dass die Feder in meinem Haar mehr ist als das, was sie zu sein scheint. Die hat meiner Mutter gehört, hat sie gesagt. Aber mich verfolgt das, was sie nicht gesagt hat. Die Fragen, auf die ich nie gekommen bin. Die Fragen, die ich jetzt stellen würde, wenn sie hier wäre: Wann hat sie diese Feder getragen, Mom? Hat sie sie im Dschungel getragen? In der Wüste? Hat sie sie als Kandidatin getragen?

Aber vielleicht gibt es noch eine andere Frage, deren Antwort mich noch brennender interessiert.

Was ist aus ihr geworden?

Ich schaue auf Madox hinab. Meine Mutter wollte nie, dass ich hier bin, aber sie wusste, dass ich trotzdem gehen würde. Und sie wusste, dass ich gewinnen könnte.

Ich werde gewinnen.

Ich werde Cody retten.

Dann werde ich Guy helfen, dieses ganze Rennen zu vernichten.