Kapitel 5
Blaine knallte sein viertes Sam-Adams-Boston-Lagerbier mitten auf den Esstisch. «Auf Christian.»
Nigel und Jarvis erhoben ihre Flaschen. «Auf Christian.»
Blaine nahm einen tiefen Schluck, doch die regionale Spezialität schmeckte in seiner Kehle wie Sand. Es war zum aus der Haut fahren. Eigentlich liebte er dieses Bier. Die wenigen glücklichen Momente in der Höhle, an die er sich erinnern konnte, hatte er mit den Jungs und Sam A. verbracht. Und jetzt? Er war viel zu aufgewühlt, um es genießen zu können. Er schleuderte die Flasche auf den Tisch zurück, wo sie neben Christians unberührtem Bier liegen blieb.
Nachdem der Nebel Blaine und sein Team mitten im Boston Common Park ausgespuckt hatte, hatten sie stundenlang nach dem Portal gesucht, es jedoch nicht mehr finden können. Sie waren nur einer Unmenge Touristen mit Red-Sox-Käppies und einem Haufen Enten begegnet.
Es schien, als würde das Reich der Hexe überhaupt nicht existieren – was ja genau ihrer Absicht entsprach.
Schließlich hatten sie beschlossen, sich zunächst einmal zu sammeln und einen etwas durchdachteren und geringfügig Erfolg versprechenderen Plan auszuhecken. Darum hatten sie sich erst einmal etwas Kleingeld und eine nette Bleibe besorgt. Geld regiert die Welt, selbst, wenn man es von einer gemeinen Hexe stehlen muss, die es aus der Asche toter Versuchsobjekte generiert hat. Blutgeld bekam da eine völlig neue Bedeutung.
Blaine hatte sich eine Eigentumswohnung im obersten Stockwerk mit geschosshohen Fenstern, weitläufiger Terrasse und Blick auf den Hafen geleistet. Die Granitarbeitsflächen und edelstahlverkleideten Haushaltsgeräte waren, wenn man dem Makler Glauben schenken konnte, das Beste vom Besten.
Nach anderthalb Jahrhunderten voller Entbehrungen gab sich Blaine nur noch mit dem Feinsten zufrieden. Nigel und Jarvis hatten sich in demselben Gebäude niedergelassen.
Aber ohne Christian kamen ihnen ihre Luxuswohnungen trostlos vor.
Zwar sprach es keiner laut aus, doch alle empfanden so. Sie brauchten im Grunde keinen Plan ausdenken, keine Rettungsaktion starten. Die Tentakel waren eine richtig gemeine Scheiße. Christian war tot.
Blaine schob seinen Stuhl zurück. «Ich hole uns noch Pizza.»
Er schlenderte über den Hartholzboden in die Küche, doch dort angekommen beachtete er das Essen gar nicht. Er schlug mit der Faust gegen eine Stuhllehne, lehnte sich dann dagegen und ließ den Kopf hängen. Seine Finger gruben sich in das Metall und er konnte spüren, wie es unter dem Druck seiner Hand nachgab. «Scheiße», flüsterte er, «Christian, es tut mir leid.»
«Blaine.» Angelicas singende Stimme erklang mitten in der Küche.
Blaine wirbelte herum und war sofort auf hundertachtzig. Seine Flammen loderten, die Funken versengten die Wände, den Boden und die Schränke – doch eine Hexe, die er hätte kalt machen können, war nirgends zu sehen.
Jarvis und Nigel kamen beide mit gezogenen Waffen hereingestürmt. «Wo ist sie?», fragte Jarvis.
Blaine drehte sich langsam zu ihnen um und schüttelte dabei den Kopf. «Sie verlässt die Höhle niemals.»
«Ich habe sie auch gehört.» Nigel hatte seine Klingen ausgefahren und war zu allem bereit.
«Ach, armer Blaine.»
Endlich fiel ihm das Glitzern rund um den Edelstahlkühlschrank auf. «Dort!» Er schleuderte einen Feuerball nach dem Gerät, doch die einzige Reaktion war ein belustigtes Kichern.
«Mein entzückender Blaine. Inzwischen solltest du doch begriffen haben, dass du mir nichts tun kannst.»
Blaine zischte einen Fluch und dimmte seine Flammen zu einem leichten Glimmen herunter. Nigel und Jarvis hatten sich hinter ihm postiert und alle drei starrten sie den Kühlschrank an. Sie hatte recht. Sie hatten Hunderte Male versucht, sie zu töten, aber es war nicht mehr dabei herausgekommen als ein paar angesengte blonde Hexensträhnchen. Die Flucht war ihr Plan B gewesen.
Die Kühlkombination flimmerte wieder und auf dem Metall erschien verschwommen Angelicas Gesicht. Blaine zog angewidert die Oberlippe hoch, drehte sich dann ohne ein weiteres Wort um und verließ die Küche. Diese überkandidelte Girlpower-Tussi hatte keine Macht mehr über ihn.
Nigel und Jarvis gingen ihm nach und setzten sich schweigend zu ihm an den Tisch.
Alle drei schütteten ihr Bier auf Ex runter.
«Sie wird uns nicht in Ruhe lassen», sagte Nigel irgendwann.
«Blaine!», keifte die Hexe. Sie klang jetzt richtig sauer.
Sein Blick überflog das Wohnzimmer. Hier gab es keinen Edelstahl, von dem sie hätte Besitz ergreifen können. Er sank gegen die Lehne. «Ich glaube, ich werde die Küche umgestalten», sagte er laut, «der viele Edelstahl wirkt für meinen Geschmack ein bisschen zu streng.»
Nigel grinste breit. «Das werde ich in meiner Küche auch so machen.»
«Blaine!», kreischte die Hexe. «Christian ist nicht tot!»
Blaines Hand krampfte sich um seine Bierflasche und seine Teamkollegen wurden ganz still. Keiner sprach.
«Aber er leidet fürchterlich», schrie sie.
Die Flasche zerbrach in Blaines Hand und die Scherben schnitten in seine Haut. Die Hexe kannte sich mit Leiden sehr gut aus.
«Wenn du mit deinem Team zurückkommst, gebe ich ihn euch wieder», tönte sie. «Nigel kann ihn heilen.»
Blaine stand vom Tisch auf und schlurfte zum Fenster. Die Sonne ging gerade unter und die Stadt sah einfach wunderschön aus. Kilometer um Kilometer erstreckte sich vor ihm eine Welt, die es zu erkunden galt, wann immer und wie immer er es wollte. Die absolute Freiheit. Die Hexe log, um ihn zurückzulocken. Christian war tot. Er hatte ihn im Stich gelassen. Mehr gab es nicht zu sagen.
«Na gut, dann sprich eben selbst mit ihm», fuhr sie eingeschnappt fort. «Ich begreife beim besten Willen nicht, weshalb du mir nicht vertraust. Habe ich dich denn jemals belogen? Weshalb verwechselt ihr Männer bloß immer Foltern mit Lügen», murmelte sie. «Das hat absolut nichts miteinander zu tun.»
Blaine wandte sich widerwillig vom Fenster ab. Von hier aus konnte er die Küche gut überblicken. Er sah die charakteristischen hohen Wangenknochen und langen Wimpern der Hexe. Sie wirkte angestrengt, die Adern an ihrem Hals waren angeschwollen und sie hantierte mit etwas herum.
Jarvis und Nigel schoben ihre Stühle zurecht, damit auch sie nichts von der Show verpassten.
Die Östrogendiktatorin stieß ein Grunzgeräusch aus, das Jarvis zusammenzucken ließ. Dann erschien auf einmal gleich neben ihrem Gesicht das von Christian auf der Oberfläche des Kühlschranks. Er sah leichenblass und zerzaust aus. Seine geschwollenen Augen waren geschlossen. «Seht ihr? Bis ihr drei wieder hier seid, wird dieser arme, süße Junge hier für eure Flucht bezahlen.» Sie tätschelte Christians Wange. «Sag’s ihnen, mein Kleiner. Sag ihnen, dass sie kommen und dich retten sollen.»
Christians Augenlider zuckten und öffneten sich. Er lebte! Blaine raste in die Küche und kauerte sich vor den Kühlschrank. «Hey, Mann, wie geht’s dir?»
Ein Schleier lag über Christians himmelblauen Augen und sein Blick ging an Blaine vorbei. «Nettes Plätzchen hast du dir da ausgesucht», nuschelte er.
«Nur das Allerbeste.» Blaine berührte die Metalloberfläche. Sofort schoss ein brennender Schmerz durch seine Hand und er zog sie wild fluchend zurück. Vorhin hatte ihn der Stahl noch nicht verbrannt. Die Hexe hatte also schon die Kontrolle darüber übernommen. «Würde dir auch gefallen. Ich habe einen Flachbildfernseher mit einer 65-Zoll-Bildröhre.»
Christian nickte anerkennend. «Halt mir ein Zimmer frei. Ich komme bald nach.»
«Ähem, hallo? Keine Besuche.» Die Hexe krallte ihre Fingernägel in Christians Hals und er verdrehte die Augen. «Mein Liebling, sag ihnen, dass sie nach Hause kommen sollen. Ihr wisst genau, dass ihr alle mir gehört.»
«Trio, wenn du wegen mir zurückkommst, trete ich dir so in den Arsch, dass du nicht mehr landest.» Christian schlug wieder die Augen auf. Sein Blick war unstet. «Du würdest niemals zulassen, dass ich für dich meine Freiheit aufgebe. Dasselbe gilt auch für mich.» Er hob die Hand und Blaine legte seine dagegen. Das Metall fühlte sich kalt an. Christian schien die Wirkung des Stahls abzuschwächen.
Damit war zumindest klar, dass es sich nicht nur um Trugbilder handelte.
Christian war tatsächlich noch am Leben und in den Fängen der Hexe.
Blaine kümmerte sich nicht die Bohne um Christians Wünsche. Egal, was es kosten würde, er würde einen Weg finden, um Christian nach Hause zu holen. Die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens interessierte ihn nicht im Geringsten. Er würde es schaffen.
Im Gegensatz zu seinen Eltern ließ Blaine niemanden im Stich. Niemals.
Als Trinity das blaue Symbol auf Augustus’ Telefon berührte, verschwand das Restaurant in einem blendend-weißen Licht. Keine Farben, keine Kontraste mehr, nur ein wilder Sturm von Nichts.
Reinas Fingernägel gruben sich in ihr Handgelenk. «Das sieht hier aus wie im Himmel. Ich glaube, mir wird schlecht.»
«Augustus hat seine Finger mit im Spiel. Ich denke nicht, dass wir gleich vor der Himmelstür stehen.» Oder vielleicht doch? Trinity hatte wirklich keine Ahnung. Sie war angespannt und die ganze Sache mit dem rosa Staub und der Mordanklage lag ihr schwer im Magen. «Ich glaube, das war keine gute Idee.» Sie drückte probeweise noch einmal auf das blaue Icon – man kann ja nie wissen, gut möglich, dass damit der ganze Prozess wieder rückgängig gemacht wurde und sie beide statt im weißen Nichts plötzlich in einem Wellnesstempel landeten. Oder so.
Leider hatte sie Pech, denn plötzlich erklangen Glocken und sie standen in einer kalten, finsteren Höhle. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen, geschweige denn die nahen Felswände oder den Ursprung des Wassers, das sie irgendwo in der Dunkelheit rauschen hörten.
«Ich muss dir recht geben. Das ist nicht der Himmel.» Reina ließ Trinity los. «Vielleicht der Eingang zur Hölle? Oder der Styx?»
Trinity wurde flau in der Magengegend. «Das ist überhaupt nicht lustig, Rei. Momentan reagiere ich auf die Hölle etwas empfindlich.»
«Meine Süße, das sollte kein Scherz sein.»
«Oh –» Plötzlich wurde die Höhle von einem fahlen Lichtschein erhellt. Trinity sah sich schnell um. Tropfsteine hingen von der Höhlendecke herunter, Wasser rieselte daran herab und tröpfelte in einen kleinen, aquamarinblauen See. An seinen Ufern blühten exotische Blumen in Pink, Gelb und Blau und unter einer Palme stand auf einem Fleckchen weißem Sand eine einladend wirkende, steinerne Bank. Ein regenbogenfarbener Fisch sprang aus dem Teich, machte einen doppelten Salto und verschwand dann wieder in den glitzernden Fluten. Die blubbernden Geräusche des Wassers wirkten beruhigend.
Zumindest ein wenig. «Oh Mann», sagte Trinity, «das ist das Vorzimmer vom Hauptquartier des Triumvirats.»
«Das ist ja fantastisch!», quiekte Reina. Sie zückte eine längliche Kamera und begann zu knipsen.
«Was für eine einmalige Gelegenheit. Das wird den Tod brennend interessieren. Er ist noch nie hierher eingeladen worden.» Sie trat näher an die sandige Oase heran. «Dafür werde ich sicher ein Lob kriegen –»
«Ms Harpswell.» Eine große, elegante Frau in einem goldenen Gewand trat aus der Wand (ähem, von wegen solide Steinwände. Fällt euch etwas auf?). Sie trug schwarze High Heels und eine Diamantkette, die schätzungsweise an die zehn Kilo wog. Ihre platinblonden Haare waren zu einem eleganten Knoten frisiert.
Trinity hatte keine Idee, wer diese Dame wohl sein mochte, aber Reina gab gleich ein begeistertes Quietschen von sich. «Das ist Felicia Maguire», raunte sie ihr zu, «die großartigste Killerin, die es jemals gegeben hat. Sie ist eine wahnsinnig wichtige Geschäftspartnerin von uns. Kommt ständig zum Essen vorbei. Ich wurde ihr aber noch nie vorgestellt.»
Okay, der liebe «Oh scheiße»-Augustus hatte also ihren Vater eingepackt und sie dann zu einem Treffen mit einer erstklassigen Mörderin geschickt. Das waren ja finstere Aussichten.
Reina streckte der Frau die Hand hin. «Hallo, ich bin Reina. Ich bin eine der Assistentinnen des Todes. Es ist wirklich eine große Freude Ihre Bekanntschaft zu machen, Ms Maguire.»
Felicia ließ Reina ihre Fingerspitzen schütteln. «Nett, Sie kennenzulernen, meine Liebe.»
Reina schoss ein Foto von Felicia. «Würden Sie mir etwas über Ihren nächsten Auftrag verraten? Ich wäre zu gerne dabei, um Sie in Aktion zu erleben. Ich kann mich in Dampf auflösen, es würde also niemand bemerken, wenn ich ein bisschen zusehe.»
Felicia konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken. «Es tut mit leid, meine Liebe, aber das ist vertraulich.» Dann zwinkerte sie Reina zu. «Wenn ich Ihnen das verraten würde, müsste ich Sie anschließend töten.»
«In Ordnung.» Reina reckte den Hals vor und deutete auf ihre Kehle. «Es wäre mir eine riesige Ehre, von Ihnen ermordet zu werden.»
Felicia zuckte mit den Brauen und erwiderte ungerührt: «Sie sind unsterblich.»
Reina winkte ab. «Ach, Wortklaubereien. Ich würde einfach so tun, als würde ich sterben.»
Felicia lächelte sie herzlich an. «Du gefällst mir. Ein andermal vielleicht.» Dann wandte sie sich an Trinity und ihr Lächeln verblasste. «Heute geht es um dich.»
Trinity versteifte sich. «Ja, das überrascht mich nicht sonderlich.»
Felicia lief los, durchmaß mit weit ausgreifenden Schritten die Höhle und hechtete über einen Haufen Geröll. Von der Eleganz, mit der sie gerade noch aus der Wand getreten war, war nicht mehr viel zu sehen. Dann ließ sie sich auf die Bank plumpsen, blieb dort vorgebeugt sitzen und stützte ihre Ellenbogen auf ihre gespreizten Knie. Interessante Pose. Hätte sie nicht ein so langes Kleid getragen, man hätte wirklich ALLES sehen können. «Hör zu, Trinity, so läuft’s. In Boston läuft ein Monstrum frei herum, dem es Spaß macht, Menschen zu zerfleischen – viele Menschen. Wir haben versucht, es auszuschalten. Ohne Erfolg.»
Trinity ließ sich auf einem Stein nieder. «Aha.»
Felicia zog unvermittelt den Kragen ihres Kleides herunter. Ein Stück Fleisch, mehrere Zentimeter lang, fehlte dort. «Es fand mich sexy. Das war seine Art, mich um eine Verabredung zu bitten.» Sie hielt kurz still, damit Reina ein Foto machen konnte. «Es wollte mich gar nicht töten, und trotzdem habe ich drei Tage gebraucht, um mich zu heilen.» Sie brachte ihr Gewand wieder in Ordnung. «Keiner weiß, wie man es aufhalten kann oder was es überhaupt ist. Es kann sein Aussehen verändern. Jedem von uns hat es sich in einer anderen Form gezeigt.»
«Oh ...» Trinity ahnte langsam, worauf sie hinaus wollte, und ihr wurde elend zumute. Der Fluch der Schwarzen Witwe verlieh ihr unter anderem die Fähigkeit, dass sie bei jedem Lebewesen, egal, ob sie nun verliebt war oder nicht, erkannte, wie man es töten konnte. Allerdings musste sie am Ende dann nur die töten, die sie auch liebte. Einfach gemein. «Es war kein Zufall, dass Augustus meinen Vater mitgenommen hat.» Hatte das Triumvirat etwa die ganze Situation so arrangiert, damit sie Trinity zwingen konnten, ihnen zu helfen? Wenn dem so war, dann war das eine beachtliche Leistung. Krank und ein bisschen zu sehr Big Brother, aber nichtsdestotrotz beeindruckend.
Felicia lächelte wieder. «Was für ein kluges Mädchen du bist.» Sie überreichte Trinity einen schwarzen Küchenwecker, der sechs Tage, zweiundzwanzig Stunden, fünf Minuten und acht Sekunden anzeigte. «Die Hinrichtung deines Vaters ist für Sonntagabend um sieben Uhr angesetzt. Diese Uhr zählt den offiziellen Countdown herunter.»
Trinity nahm widerwillig den Wecker entgegen. Die Hinrichtung würde drei Minuten vor dem Ende ihres Fluchs stattfinden, immer vorausgesetzt, dass sie bis dahin niemanden tötete.
«Wenn du den Verrückten in deiner Stadt erledigst, wird Elijah begnadigt.»
Reina ließ sich neben Trinity auf den Boden sinken. «Das ist eine schwierige Entscheidung, meine Liebe. Das käme unserem Mädchenurlaub in Minnesota gehörig in die Quere.»
Trinitys Kehle schnürte sich zu. «Ich kann nicht mehr töten.»
«Dann stirbt Daddy.» Felicia reichte Trinity einen Stapel Papiere. «Das hier sind die wenigen Informationen, die wir über die Kreatur sammeln konnten, und dein Vertrag. Die Gegenleistung für den Tod des Monsters ist die Freiheit deines Vaters.» Sie hielt ihr einen Stift hin. «Bitte sehr.»
Trinity überflog die Blätter. Ich, Trinity Harpswell, bezeuge hiermit, dass ich eine Schwarze Witwe bin und ich meine Schwarze-Witwen-Fähigkeiten dazu einsetzen werde, das Ziel zu töten – ihr Magen zog sich zusammen. «Das kann ich nicht tun.»
«Gibt es denn nicht noch eine andere Möglichkeit?», fragte Reina. «Ich meine –»
«Das sind die Bedingungen, die wir Augustus übermittelt haben. Das Herz des Ungeheuers gegen das Leben deines Vaters. Sonst nichts.» Dann fuhr sie ehrfurchtsvoll fort: «Augustus ist, was die Erfüllung seiner Pflichten angeht, ausgesprochen unflexibel. Wenn er erst einmal losgelegt hat, ist er einfach nicht mehr aufzuhalten. Er ist so furchtbar und gleichzeitig auch so stattlich.»
«Stattlich?», wiederholte Reina. «Er hat einen Buckel und Ausschlag und das findest du scharf? Er müffelt nach alten Bananen.»
Felicia lachte auf. «Oh, meine Liebe, du hast noch so viel zu lernen.» Sie fächelte sich mit ihrer Hand Luft zu, als hätte sie eine Hitzewallung. «Nun, Trinity. Wirst du unterschreiben?»
Reina legte ihren Arm um Trinity und drückte sie. «Du musst das nicht tun. Dein Vater würde es verstehen.»
«Er würde verrückt, wenn ich jemanden tötete, um ihn zu retten.» Trinity konnte förmlich hören, wie er sie anbrüllte: Wenn du mich liebst, dann lässt du mich sterben und nimmst deine Freiheit als ein Geschenk von mir an. Aber sie konnte es nicht zulassen, dass ihr Vater ihretwegen starb. Wenn andere wegen ihrer Schwächen leiden mussten, wozu sollte sie dann überhaupt noch weiterleben? So jemand war sie mit Sicherheit nicht. Es musste einen Ausweg geben – und sie hatte sieben Tage Zeit, um ihn zu finden.
Martin war nicht die eigentliche Bewährungsprobe gewesen.
Das hier war sie – und das Leben ihres Vaters und ihre eigene Seele standen auf dem Spiel.
«Trin?»
Sie nahm den Stift und unterzeichnete den Vertrag.
Die Oberfläche des Kühlschranks war leer und tiefes Schweigen breitete sich in der Küche aus.
Blaine stand wie betäubt da. Christian lebte. Und er war in den Fängen eines Weibsstücks, das eine Schwäche fürs Foltern hatte. Wenn er die Beine in die Hand nehmen und zurückkehren würde, dann wäre er frei.
Nein. Nicht frei. Sie würde ihn verschonen.
Das war ein großer Unterschied.
Nigel fand zuerst seine Stimme wieder. «Wenn wir zurückgehen, wird sie ihn uns übergeben – aber der ganze Mist wird auch wieder von vorne anfangen.» Er hob theatralisch die Hand. «Zugegeben, ich bin nur durch die Widrigkeiten des Lebens zu dem Mann geworden, der ich bin – aber ich habe von der beknackten Gefangenschafts-/Folter-/Entmannungsroutine die Nase gründlich voll.»
Blaine erhob sich fluchend. «Wir werden uns auf keinen Fall stellen.»
«Ich kann es gar nicht fassen, dass ihr nicht zurückwollt. Habt ihr etwa keine Lust auf Partys mit einem wahnsinnigen Dämonenweib mit fragwürdigen Wertvorstellungen? Ihr seid solche Weicheier.» Jarvis riss den Kühlschrank auf, um sich ein neues Bier zu holen. Vorsichtshalber benutzte er einen Topflappen, damit der Stahl ihn nicht verbrannte. «Euch ist schon klar, dass sie alle Schwachpunkte in ihrem System inzwischen beseitigt hat. Wenn wir da wieder reingehen, dann kommen wir nicht mehr raus. Nie mehr.»
«Nein. Und das ist inakzeptabel.» Der Piratenschädel auf Blaines Brustmuskel brannte. «Aber wir lassen Christian nicht dort zurück.»
Jarvis nahm sich ein Bier und verzog das Gesicht. «Warm. Die Zicke hat es aufgeheizt.» Er schmiss es zurück und knallte die Kühlschranktür zu. «Woher zum Teufel wissen die Frauen bloß immer so genau, mit welchen ärgerlichen Kleinigkeiten sie uns nerven können? Genetische Veranlagung? Bilden sie Arbeitskreise und tauschen sich aus? Ein kaltes Bier, das war alles, was ich wollte. Und sie wusste es.»
«Sie muss sterben.» Nigel blickte nachdenklich. Er ließ versonnen einen Pinsel durch die Finger gleiten. «Nur dann ist endlich Schluss.»
«Na, da wünsche ich dir viel Glück.» Jarvis holte ein Päckchen Beef Jerky aus einem Küchenschrank. Schon so eine einfache Sache, wie essen zu können, wann immer sie wollten, war ein großes Geschenk für die drei. «Sie ist ja ein so zerbrechliches, kleines Ding.»
«Alles lässt sich irgendwie töten», erwiderte Nigel. «Wir müssen nur herausfinden, wie.»
«Mann, ihre Existenz zu beenden – da würde mein schönster, feuchter Traum wahrwerden. Ich mache mit.» Jarvis riss die Tüte auf und zog ein großes Stück getrocknetes Fleisch heraus. «Aber auf ihre Einladung lasse ich mich nicht ein. Sobald wir auch nur einen Schritt in ihre Höhle setzen, wird es wieder losgehen: Lockenstab hier, Pediküre da. Nein danke, das muss ich nicht mehr haben.» Er biss ein großes Stück geräucherte Kuh ab und verdrehte die Augen. «Wahnsinn. Das ist um Klassen besser als Rucola- und Rote-Beete-Salat mit Diätdressing. Ich spüre schon, wie mir die Brusthaare wieder wachsen.»
«Dann locken wir sie eben raus und machen sie so fertig.» Nigel hielt nun auch in der anderen Hand einen Pinsel und spielte damit herum.
«Und wie genau erledigen wir sie?» Jarvis biss einen weiteren Fleischhappen ab. «Den Teil deines Plans habe ich nicht ganz mitbekommen.»
«Immerhin stehen wir hier, oder nicht? Wir sind frei. Es gibt immer einen Weg.» Nigel hatte seine Hände gehoben. Er ließ die Pinsel in seinen Fingern so schnell kreisen, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Die transparenten Kunststoffstiele waren nur noch ein verschwommenes, glitzerndes Prisma aus Licht. «Das ist wie in der Kunst. Man muss seinen Geist für die unendlichen Möglichkeiten öffnen. Den Widerstand aufgeben.»
Jarvis schnaubte irritiert. «Mann, ich glaube, du bist doch ein bisschen zu lange in der Hexenhöhle gewesen. Ein hoffnungsloser Fall. Wenn du nicht bald ein bisschen Testosteron bildest, wird dir noch deine Hosenschlange abfallen.»
Nigel hob die wirbelnden, glänzenden Pinsel weiter ins Licht. «Seht euch diesen Zauber an, diese Schönheit.»
Blaine kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die Prismen, beobachtete, wie sie schneller und schneller flackerten, bis sie beinahe lebendig zu sein schienen. Ein Lebewesen. Eine Person, die zwischen Nigels Fingerspitzen rannte. Floh. Rannte. Wie das Hologramm eines richtigen Menschen. Prismen. «Moment mal.» Er fixierte die Pinsel noch eingehender. «Nigel hat recht.»
«Nigel hat einen Dachschaden.»
«Nein. Die Lichtbrechung –» Endlich machte es in Blaines Gehirn «klick» und er schlug die Hände zusammen. «Da soll mich doch der Teufel holen. Eine Schwarze Witwe würde erkennen, wie man sie töten kann.»
Die Pinsel kamen zum Stillstand. «Gut Trio. Du hast recht, das könnte sie.»
Jarvis stand wie angewurzelt da. Ein Stück Trockenfleisch hing ihm aus dem Mund. Seine Augen glänzten voller Vorfreude. «Verflixt, das wäre die Lösung.» Er warf die Tüte auf die Küchentheke und nahm sich eine Stoffserviette. Er betrachtete sie angewidert, ließ sie auf den Boden fallen und wischte sich stattdessen die Hände an seiner Jeans ab. «Ich bin dabei. Wo finden wir eine Schwarze Witwe?»
«In ihren Datenbanken.» Blaine war schon auf dem Weg zu seinem Computer. Bevor sie Angelicas Reich verlassen hatten, hatte er einen Trojaner in ihrem System versteckt, damit sie jederzeit auf ihre Aufzeichnungen zugreifen konnten. Sie hatten sich davon Hinweise erhofft, wie sie die Höhle der Weiblichen Tugenden zerstören konnten oder wann sie neue Entführungen plante, hatten bisher aber nichts Brauchbares finden können. «Ich erinnere mich, dass ich dort irgendwo etwas über eine Schwarze Witwe gelesen habe ...» Er loggte sich ein und folgte seiner Suchroutine vom letzten Mal. «Da.» Er hatte gerade den sechsten Unterordner eines Verzeichnisses angeklickt. «Das sind alles Kreaturen, die sie auf die Welt der Sterblichen losgelassen hat.» Er klickte auf einen Ordner, der den Titel «Girlpower» trug, und öffnete die erste Datei.
Ein Foto öffnete sich. Sie sahen eine junge Frau mit rabenschwarzen Haaren, grünen Augen und einem Lächeln, das das Herz eines jeden sterblichen Mannes zum Stillstand gebracht hätte.
«Schaut euch diese Smaragdaugen an», sagte Nigel und schielte auf den Bildschirm. «Ich würde sie gerne malen. So etwas habe ich noch nie gesehen, diese Schönheit und im krassen Gegensatz dazu diese Härte des Todes. Als würden einen zwei verschiedene Menschen aus diesen Augen ansehen.»
«Ihre Augen?», sagte Nigel prustend. «Guckt euch erst mal ihre –»
«Trinity Harpswell», las Blaine, «mit vier Monaten abgeholt, Ehrengast bis zu ihrem zehnten Lebensmonat.» Ihn durchzuckte Mitleid für das kleine Baby, das der wahnsinnigen, blonden Tyrannin zum Opfer gefallen war. Bei seiner Entführung war er zumindest schon vier Jahre alt gewesen. «Siebzehnfach mit dem Fluch der Schwarzen Witwe infiziert.» Er schnippte mit den Fingern. «Bingo. Wir haben sie gefunden.»
«Geschaffen von der großen Hexe persönlich», meinte Jarvis mit breitem Grinsen. «Das nennt man ausgleichende Gerechtigkeit. Gefällt mir.»
Blaine rutschte mit seinem Stuhl zurück. «Ich sehe mir das Mal genauer an. Ihr durchsucht weiter ihre Daten, vielleicht findet ihr ja noch etwas. Wir müssen uns alle Möglichkeiten offen halten.»
«Schon dabei», erwiderte Jarvis und nahm Blaines Platz ein.
Nigel lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Schreibtisch. «Hey, Trio, pass auf dich auf. Wenn dieses Püppchen wirklich eine Schwarze Witwe ist, dann dürfte es für sie ein Kinderspiel sein, dich fertigzumachen.» Mit hochgezogenen Augenbrauen fuhr er fort: «Und du siehst ja auch noch so lecker aus. Sollte sie sich in dich verlieben, mein Großer, dann bist du Hackfleisch.»
«Verlieben? Träum weiter, du großer Künstler», konterte Blaine verächtlich. «Überhaupt, wenn es so einfach wäre, mich zur Strecke zu bringen, dann wäre ich schon längst tot.» Er ließ eine einzelne Flamme auf der Spitze seines Zeigefingers tanzen. Ein kleiner Merkzettel daran, wer er wirklich war: der Feuerkrieger. (Okay, okay, den Titel hatte er sich selbst verliehen. Klang aber besser als stickende Girlylusche.) «Über eine sterbliche Tussi, die ihr ganzes Leben in der Welt der Sterblichen zugebracht hat, mache ich mir nun wirklich keine Sorgen –»
«Ähm, Leute», mischte sich Jarvis mit erhobener Hand ein, «wir haben da ein kleines Problem.»
Jarvis studierte konzentriert den Computerbildschirm. Blaine und Nigel wandten sich nach ihm um. «Lass hören», forderte Blaine ihn auf.
Jarvis zeigte auf die obere, rechte Ecke des Schirms. «Ihre Akte wurde mit einer gelben Tulpe markiert.»
Blaine löschte seine Flamme. «Mist.» Diese Blüte hatte nur eines zu bedeuten. «Sie ist die Auserwählte. Wenn wir die Hexe erledigen, dann springt ihre Seele auf Trinitys Körper über und macht munter weiter.»
«Verdammt», knurrte Nigel, «eine Frau mit Augen von solch leidenschaftlicher Tiefe hat etwas Besseres verdient, als als Rettungsring für eine Hexe herzuhalten. Ist euch eigentlich das Ausmaß des Paradoxons klar, wie sich Gut und Böse in ihren Augen spiegeln? Es ist außergewöhnlich, ein Glücksfall für jeden Künstler.»
Jarvis glotzte Nigel angewidert an. «Nigel, du bist nicht mehr im Hexenbau. Tu dir selbst einen Gefallen: Lass diesen versponnen Kreativmist und benimm dich endlich wie ein Mann. Sie ist keine engelsgleiche Muse der künstlerischen Inspiration. Sie ist die Auserwählte.» Er lehnte sich zurück und seufzte resigniert. «Ihr wisst, was das bedeutet.»
«Ja», sagte Blaine finster. «Sobald ich mit dieser Trinity Harpswell fertig bin, muss sie sterben.» Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hatte so viele unschuldige Seelen unter der Knute der Hexe leiden sehen und sie hatte ihn zu oft gezwungen, seine eigenen Kräfte dazu einzusetzen, andere zu quälen und zu töten. Der Gedanke, dass das nun schon wieder passieren sollte, drehte ihm den Magen um.
Egal.
Er würde tun, was getan werden musste. Es war unsinnig, Angelica zu erledigen und dann untätig dabei zuzusehen, wie ihre Seele in den Körper ihrer Auserwählten hopste. Dieses Seelen vernichtende Östrogenmonster würde keine zweite Chance bekommen.
Nur wenige Hexen hatten eine Auserwählte. Natürlich wollten sie alle gerne eine haben, aber dafür brauchte man einen ziemlich komplizierten Zauber. Sie hatten Angelicas Daten sorgfältig nach allen Frauen der letzten Jahrhunderte durchsucht und schließlich den Schluss gezogen, dass auch sie es nicht geschafft hatte.
Falsch.
Ihnen war ein gravierender Fehler unterlaufen.
«Zumindest wissen wir jetzt Bescheid», meinte Jarvis und rieb sein Kinn. «Mann, stellt euch bloß vor, wir hätten sie endlich erwischt – und sie würde einfach den Körper wechseln. Dann wäre ich aber wirklich sauer geworden. Jetzt können wir wenigstens die Auserwählte gleich mit ausschalten.»
Nigel und Blaine sahen sich an und sie wussten, dass sie beide das Gleiche dachten: Trinity Harpswell war eine unschuldige Seele, sie aber würden sie dazu benutzen, Angelica zu töten, und danach würde Blaine sie auslöschen. «Das Leben ist manchmal wirklich grausam», sagte Blaine leise.
«Es ist die einzige Möglichkeit, anderen das gleiche Schicksal zu ersparen», konterte Nigel grimmig.
«Und Christian», fügte Jarvis hinzu, «jetzt geht es allein um ihn.»
«Ich weiß», sagte Blaine und knirschte mit den Zähnen. «Ich werde es tun.» Er würde gnädig mit ihr sein. Das war das Mindeste. Trinity Harpswell am Leben zu lassen, damit ihre Seele von der Hexe verschlungen werden würde, war noch grausamer, als sie ins Jenseits zu schicken.
Manchmal war der Tod einfach die bessere Alternative.