Kapitel 19
Bei allem Unförmigen und Übelriechenden, was war bloß mit den Bostoner Frauen los?
Angelica hatte sich nicht sicher sein können, auf wen oder was sie bei ihrer Ankunft im Boston Common Park treffen würde, aber mit diesem Anblick hatte sie nicht gerechnet: Eine Gruppe schlabberiger, heftig parfümierter Bubis versuchte rülpsend und Bier trinkend Softball zu spielen, während einige ausgesprochen attraktive Frauen sie dabei anfeuerten. Diese armen Frauen. Blind vor Liebe und gefangen im Teufelskreis der Anhimmelung von suboptimalen Kerlen. «Gute Güte, ich hatte ja keine Ahnung, wie groß der Markt für den Fluch tatsächlich ist.»
Sie würde Millionen damit machen.
Hunderte Millionen.
Jedes weibliche Wesen auf diesem Planeten würde es nach einem Heilmittel verlangen, das sie von den Einflüsterungen dieser bierbäuchigen, minderbemittelten Puddinghirne befreite, einem Superelixier, das diese Frauen unabhängig machte und ihnen dabei half, endlich einen anständigen Mann zu finden. «Ich muss Trinity Harpswell ausfindig machen.» Keine Zeit zu verlieren. Was den Fluch anging, durfte sie nichts mehr dem Zufall überlassen. Der letzte fehlende Mord würde passieren, dafür würde sie schon sorgen.
Welche Freiheit ihr solche Unsummen an Geld verschaffen würden! Sie konnte eine neue Höhle erschaffen. Eine, in der Nappy nichts mehr zu melden hatte. Und ein behütetes Reservat für Schmuddy.
Endlich wäre sie wahrhaftig frei. Angelica wurde es ganz eng in der Brust und sie presste die Hand auf ihr Herz. «Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass es wirklich so kommen würde.»
«Wovon sprichst du?», fragte Mari, nahm dabei Angelicas Dolch und schob ihn ihr in den BH. «Hier darfst du deine Waffen nicht sichtbar tragen.»
In der Ferne erscholl ein Grollen, das wie Donner klang. Hinter ihnen waberte die Luft wie heißer Dampf, der von der Haut eines Kriegers aufstieg, der unter der Höhensonne getoastet wurde. «Napoleon versucht, die Sicherheitsvorkehrungen zu durchbrechen. Jeden Augenblick wird er das Portal niederreißen.»
«Dann nichts wie los.» Mari rannte los und flitzte trotz ihrer hohen Absätze und ihres engen Rocks in atemberaubender Geschwindigkeit über das feuchte Gras. Also, die brillante Hexe, die dieses Mädchen darauf abgerichtet hatte, damenhaft und gleichzeitig eine richtig fiese Type zu sein, verdiente ein dickes Lob. Ach halt, das war sie ja selbst gewesen. Na dann: Super gemacht, Angie!
«Dort vorne steht mein Auto», verkündete Mari. «Damit ich immer problemlos darauf zugreifen kann, habe ich einfach die Politessen bestochen, damit sie mir keine Strafzettel geben.»
Angelica entdeckte den roten Flitzer und sagte verwundert: «Von dem, was ich dir zahle, kannst du dir doch keinen Ferrari leisten.»
Mari hielt einen Schlüssel hoch, worauf das Auto ein zirpendes Geräusch von sich gab. «Du bezahlst mich überhaupt nicht.»
«Genau das meine ich ja –»
«Angelica!» Mitten im Park tauchte plötzlich Napoleon auf.
Angst durchzuckte Angelica. «So schwach ist mein Zauber? Ich habe ihn ja nicht einmal für eine Minute aufhalten können.»
Beim haarigen Bartschatten, hatte sie ihrem Ehemann selbst nach dreihundert Jahren nichts entgegenzusetzen? Das kratzte aber gewaltig am Ego.
Er sprang in all seiner splitternackten Pracht auf die Füße. «Anhalten», befahl er.
Die drei Jahrhunderte ihrer Unabhängigkeit verpufften im Nichts und Angelica blieb wie angewurzelt stehen.
«Los, weiter!» Mari riss die Autotür auf. «Solange du weiterrennst, wird er dir nichts tun. Er will nur deinen Körper und dein Schmuddelmonster.»
Angelica musterte Mari fassungslos. Ihr liebes Mädchen wurde von Minute zu Minute gefährlicher. Wenn sie Napoleon nachgab, dann würden all ihre Lieblinge darunter zu leiden haben. Sie musste stark sein. Das schuldete sie ihnen. Sie musste gegen ihn antreten. Sie trat von dem überteuerten Schlitten zurück und hob die Hand. «Ich kann nicht viel ausrichten, aber vielleicht kann ich ihn zumindest etwas bremsen –»
«Nein.» Mari riss Angelicas Arm herunter. «Hier wimmelt es von Anderswelt-Polizisten. Es ist verboten, auf öffentlichen Plätzen in weniger als hundert Metern Abstand von sterblichen Wesen schwarze Magie zu benutzen. Sie werden dich verhaften.»
Napoleon bewegte sich gemessenen Schrittes auf sie zu, wobei seine Männlichkeit auf und ab wippte. Angelica wartete unschlüssig. Sie bemerkte, dass Napoleon sich offenbar tarnte, denn niemand schien Notiz von dem nackten Mann zu nehmen, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Diesen Zauber hatte er bestimmt bei seinen vielen Auftragsmorden perfektioniert.
Angelica war erleichtert. Was für ein unverschämtes Glück, dass sie sich eine besondere Begabung dafür angeeignet hatte, Tarnzauber zu neutralisieren, denn so hatte sie immer verhindern können, dass sich ihre Mädchen und Jungs vor ihr verstecken konnten. Unter ihrem Dach blieb kein geheimes Schäferstündchen unbemerkt.
Sie grinste. «Ich habe alles im Griff, Mari. Vertrau mir.» In ihrer Hand baute sich Hitze auf, schwarze Schwaden erfüllten die Luft und dann schleuderte sie eine herzförmige Rauchbombe nach Napoleon.
Napoleon blieb nicht einmal stehen, er hob lediglich seine Hand, um die Bombe abzufangen. Angelica schnippte mit dem Finger und ihre Kleidung verschwand. (Also zumindest gaukelte sie ihm das vor. Er hatte es sich nicht verdient, ihre echten Möpse sehen zu dürfen.)
Nacktszene für Angelica.
Nappy bekam große Augen, sein Arm fiel wieder nach unten – und ihr Zauber klatschte ihm mitten ins Gesicht. Augenblicklich wurde sein Spruch außer Kraft gesetzt. Sofort erklangen von überallher Schreie und die Menschen zeigten aufgeregt auf den gut ausgestatteten, nackten Mann, der mit einem riesigen Ständer durch den Boston Common Park flitzte.
Weniger als eine Sekunde später lag er bereits unter einem Haufen mit Jeans bekleideter, Magie begabter Herren begraben. Angelica hatte erwartet, dass sich die Cops eher auf den nackten Nappy stürzen würden, als sie wegen ihrer Magie zu belangen.
Die Welt der Menschen war schon lustig.
«Ein Punkt für die Mädels», triumphierte Angelica und ging wieder zum Auto.
Mari saß bereits auf dem Fahrersitz und hatte das Schauspiel lässig durch das heruntergelassene Fenster beobachtet. «Weißt du, es begeistert mich immer wieder, wie viel Macht wir über die Männer haben. Es braucht nur ein paar falsche Brüste und schon vergisst er, deinen Spruch zu blockieren.» Angelica schlüpfte in das Auto und Mari startete den Motor. «Männer zu übertrumpfen ist wirklich kinderleicht.»
Angelica sah zurück und beobachtete irritiert, wie Nappy sich mühelos aus der Traube von Polizisten befreite und vollständig bekleidet dastand. «Ach, ist das so?»
Mari folgte ihrem Blick. «Ein zweites Mal wird es wohl nicht funktionieren, oder?»
Angelica lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Ihre junge Assistentin trat das Gaspedal durch und der Wagen schoss davon. «Nein, das wird es nicht.»
Mari blickte in den Rückspiegel. «Wie lange wird es dauern, bis er uns einholt?»
«Nicht lange genug.»
«Wohin also?»
Angelica zog zwei kleine, gelbe Tulpen hervor, die sie mit großer Sorgfalt im Garten der Zerbrechlichkeit aufgezogen hatte. Dort waren sie, beschützt von bedacht ausgewählter Magie, in einem Blumenbeet mit Tausenden anderen Tulpen gewachsen. Eine der kostbaren Blumen in ihrem Schoß blühte bereits seit dreihundert Jahren, die andere erst seit knapp drei Jahrzehnten. Beide steckten mit ihren Wurzeln noch in der Erde. Sie warteten darauf, dass ihre Zeit kam.
Sie nahm die zweite Tulpe auf. So wahr der multiple Orgasmus ihr Zeuge war, sie hatte nie geglaubt, dass sie diese Blüte einmal schneiden würde.
«Was ist das?»
«Meine Wegweiser zu meinen kostbaren Lieblingen.» Angelica nahm eine goldene Schere und schnitt vorsichtig die uralte Blume ab.
Die Blüte lag auf ihrer Handfläche. Zunächst geschah nichts, doch dann begannen die Blütenblätter zu vibrieren. Die Blume drehte sich, zuerst langsam, dann immer schneller und schneller. Ein schrilles Klingeln erklang.
Dann blieb sie stehen. Die Blüte zeigte nach rechts. «Dort ist Schmuddy.»
Mari bog scharf nach rechts in eine Gasse ab. «Und wofür ist die andere?»
«Trinity Harpswell.» Mit diesen Worten schnitt Angelica den Stängel durch.
Okay, es war wahrscheinlich nicht sonderlich klug gewesen, Blaine zu erlauben, mit ihr all die wundervollen, aufregenden und total süßen Dinge zu machen, die er wollte ... aber Trinity würde diese Erlaubnis auf keinen Fall mehr widerrufen.
Sie erwachte, gebadet im hellen Licht des Morgens. Blaine lag ausgestreckt auf ihr. Er hatte sein Gesicht an ihrem Hals vergraben und sein Gewicht drückte sie auf das Dach nieder. Der Himmel war wunderbar blau und wolkenlos und sein schwerer Körper fühlte sich angenehm an.
Sie seufzte zufrieden und streichelte seinen muskulösen Rücken mit ihren Fingernägeln.
Blaine zuckte zusammen.
«Tut mir leid, habe ich dich gekitzelt?» Ihre Finger fuhren weiter über seine Schulter und er entspannte sich wieder.
«Nein. Du hast mich nur erschreckt. Für einen Moment hatte ich vergessen, wo ich bin.» Er kuschelte sich wieder an ihre Schulter. Sie fühlte seinen warmen Atem auf ihrer Haut.
Was für ein perfekter Augenblick. So friedlich. Wenn sie es nur bis zur Deadline schaffte, konnte ihr Leben so aussehen: geborgen in den Armen eines guten Mannes, der sie schätzte und –
Ihr wurde heiß.
Die Sonne schien jetzt heller.
«Oh nein.» Trinity trommelte gegen Blaines Schultern. «Runter von mir! Runter!»
«Noch fünf Minuten.» Er schlang seinen Arm um sie und kuschelte sich enger an sie. «Ich muss mich noch ein bisschen erholen.»
Das war viel zu schön. Genau so wollte sie mit einem Mann zusammen sein -
Hinter Blaine formte sich ein blinkendes Licht. Ein Prisma. «Blaine! Sieh nur!»
Endlich hob Blaine doch den Kopf und entdeckte fluchend das glitzernde Licht. «Gilt das mir?» Dabei bewegte er sich keinen Zentimeter und hielt sie weiterhin unter sich fest.
«Ich habe doch gesagt, du sollst nicht so nett zu mir sein.» Das Prisma strahlte heller. Es hatte die groben Umrisse eines Menschen angenommen. Sie krallte ihre Nägel in seine Haut. «Bring mich dazu, dich zu hassen. Sofort.»
«Nachdem du mir gezeigt hast, wie ich die Hexe umbringen kann», erklärte er Trinity im Plauderton, ohne dabei allerdings das Prisma aus den Augen zu verlieren, «werde ich dich töten.»
«Also bitte! Glaubst du ernsthaft, dass ich dir das abkaufe?» Sie krümmte sich unter ihm und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. «Ich muss hier weg –»
Er umklammerte ihre Handgelenke und sah ihr direkt in die Augen. «Ich habe gesagt, dass ich dich, sobald du nicht mehr von Nutzen für mich bist, töten werde. Ich schwöre es.» Er sprach ganz ruhig. Gelassen.
Er sah aus, als ob er es ernst meinte. Beinahe hätte sie ihm wirklich gelaubt. Aber nur beinahe. Seine Behauptung entbehrte jeder Logik. «Warum um alles in der Welt solltest du mich umbringen wollen?»
«Weil du die Auserwählte der Hexe bist.»
«Als ob mich das interessieren würde.» Die schemenhafte Figur hinter ihm wurde deutlicher. Auch dieses Mal stellte sie Trinity dar. «Oh bitte, nicht schon wieder eine Selbstmordmission –»
«Hör mir zu.» Blaine nahm ihr Gesicht in seine Hände und versperrte ihr die Sicht auf ihr mörderisches Abbild. «Angelica hat deine Physis so verändert, dass ihre Seele im Falle ihres Todes ihren Körper verlassen und in deinen wechseln kann. Was bedeutet: zweites Leben für Angelica – adiós Trinity.»
Trinity lag ganz still. Sie war zu betäubt, um sich noch weiter zu wehren. «Bitte sag, dass du Witze machst.»
Er schüttelte den Kopf. «Ich kann Angelica nur eliminieren, wenn ich ihr den Fluchtweg abschneide», sagte er mit einem betrübten Blick auf Trinity. «Und der bist du.»
Sie starrte ihn an und ihr wurde bang ums Herz. Inzwischen kannte sie Blaine gut genug, um seine Entscheidung erahnen zu können. «Und du wirst es tun. Um Christian zu retten.»
Er nickte und sie sah die Entschlossenheit in seiner Miene. «Ich habe es ihm versprochen und ich werde ihn nicht zurücklassen und ihn damit dem Tode weihen.»
Sie presste ihre Handwurzeln gegen die Schläfen und versuchte, aus allem schlau zu werden. «Okay, also, lass es mich noch einmal zusammenfassen: Nachdem du mit mir geschlafen hast und mich so nett behandelt hast, dass ich mich um ein Haar in dich verliebt hätte, willst du mich nun zuerst für deine Zwecke benutzen und danach ermorden?»
Er verzog das Gesicht. «Ich hätte auch lieber, dass es anders abläuft, aber: ja.»
Wow. Nichts vertreibt die Liebe eines Mädchens schneller und gründlicher als ein glühendes Eisen, das man ihr direkt ins Herz rammt. «Du bist ein Dreckskerl.» Sie schlug wieder auf seine Schultern ein, doch nicht mehr aus Panik, sondern aus Wut, und das fühlte sich gut an. «Du hast dir soeben alle Rechte auf ein weiteres nacktes Stelldichein mit mir verscherzt.»
Der übergroße Klops verzog keine Miene. «Dein Zwilling hat sich gerade verabschiedet.»
Trinity sah, wie das Leuchten hinter seiner Schulter verschwand. Die Sonne verblasste zu ihrer normalen Intensität. Ihre Haut kühlte sich ab. «Oh Gott.» Sie sackte auf dem improvisierten Bett zusammen und war urplötzlich zu ermattet, um noch gegen Blaine anzukämpfen. «Sie ist fort.»
«Stimmt.» Er streichelte ihre Stirn und fuhr die Konturen ihres Gesichts nach. «Siehst du? Ich habe dir doch gesagt, dass du dir wegen mir keine Sorgen machen musst.»
Sie genoss das Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut. Trotzdem schlug sie Blaines Hand beiseite. Nicht so schnell. «Hast du mir das alles nur erzählt, damit ich mich nicht in Jack the Ripper verwandele und dich kaltstelle?»
Er zog eine Braue hoch. «Es ist die Wahrheit.»
Er sprach und sie sah das Bedauern in seinen Augen, und da wusste sie, dass es wahr war und ihn das ganz gehörig wurmte.
Na. Was sagt man dazu? Einerseits war sein Kummer der beste Beweis dafür, dass er genau der anständige Kerl war, für den sie ihn gehalten hatte, andererseits gab es da auch noch diese ganze «Erst vögeln, dann umbringen»-Chose, die ihn trotz seiner hehren Beweggründe als richtigen Scheißkerl dastehen ließ. Das bedeutete also, dass sie ihn mögen konnte und ihn für seine Loyalität gegenüber seinem Freund bewundern durfte, die böse Wahrheit über seine Mordpläne es aber verhindern würde, dass sich diese Gefühle in die Liebe verwandeln würden, die so gefährlich für sie beide war. Sie lächelte glücklich. «Du bist perfekt.»
Er grinste ebenfalls und küsste sie. Seine Lippen waren warm und verführerisch und beinahe hätte sie vergessen, dass sie gerade im Begriff war, einen abgrundtiefen Hass auf ihn zu entwickeln. «Nein», flüsterte er an ihrem Mund, «das bin ich nicht. Ich verehre dich in vielerlei Hinsicht, und solange ich lebe, werde ich nicht vergessen, wie es ist, mit dir zu schlafen, aber das Leben der Hexe zu beenden ist wichtiger, als deines zu retten.»
«Das war so süß und gleichzeitig so fürchterlich.» Trinity wich zurück und fuhr mit ihrem Zeigefinger über sein stoppeliges Kinn. «Ich habe damit gemeint, dass du für mich perfekt bist.»
«Weil ich dich töten werde?», fragte er verwundert.
«Ja!» Sie drückte ihn «Das ist so ziemlich das Armseligste und Widerwärtigste, was mir ein Mann antun könnte.» Sie löste die Umarmung und spürte ein Hochgefühl in ihrem Herzen – gleichzeitig mit all dem Kummer, dem enttäuschten Vertrauen und der abgrundtiefen Traurigkeit, die sich dort ebenfalls breitmachten. Denn schließlich hatte sie sich beinahe in ihn verliebt, und dass er ihr das jetzt einfach so wegnahm, das war … oh ja … einfach zum Kotzen. «Das ist fantastisch.»
Jetzt schien er noch verwirrter und auch recht argwöhnisch. «Die meisten Weiber würden sich eher nicht so sehr darüber freuen.»
«Die meisten Frauen sind auch nicht verflucht.» Trinity verpasste ihm einen fröhlichen Schmatzer. Gut, das ganze Szenario hatte schon seine grausamen Aspekte und auf makabere Art und Weise konnte sie irgendwie nicht ganz glauben, dass der Mann, den sie beinahe liebte, derart brutal sein konnte, aber nachdem sie ihr ganzes Leben Auge in Auge mit dem Fluch zugebracht hatte, war das Wissen, dass sie sich wegen Blaine keine Sorgen zu machen brauchte und er kein makelloser Amor war, einfach so … unfassbar erleichternd. Befreiend. «Das ist toll! Warum hast du es mir nicht schon früher erzählt?» Sie schob ihn von sich herunter und dieses Mal gab er sie frei.
«Nun ja, ich hatte vermutet, dass es deine Bereitschaft, mir zu helfen, negativ beeinflussen würde, wenn ich einfach so damit herausplatze.» Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und auf seiner Stirn zeichneten sich tiefe Sorgenfalten ab. Er schien halb zu erwarten, dass sie sich auf ihn stürzen und ihm den Kopf abhacken würde.
«Du hast mich angelogen, damit ich dir helfe?» Sie sprang auf, um sich ihre Jeans wieder anzuziehen. «Unbezahlbar. Was für eine Niedertracht.» Sie grinste. «Solange wir zusammen sind, brauchst du nichts Beleidigendes mehr von dir zu geben. Das hier reicht für die nächsten hundert Jahre.» Sie warf die Arme in die Höhe. «Ich kann gar nicht beschreiben, wie gut sich das anfühlt. Keine Schwarze Witwe! Whuhuu!»
Noch nie im Leben hatte sie sich so sicher und befreit gefühlt! «Ganz egal, wie viele herzzerreißende Geschichten du mir auch erzählst, wegen denen ich dich drücken und festhalten will, bis dein Schmerz verschwunden ist – wir beide können zusammenarbeiten, ohne dass ich befürchten muss, dich zu lieben.»
Blaines Gesicht war eine undurchdringliche Maske. «Du bist tatsächlich Gefahr gelaufen, mich zu lieben?»
Er sah sie eindringlich an und sie bemerkte, wie sie errötete. Bäh, einem Mann ihre Liebe zu gestehen, der sie offensichtlich nicht einmal genug mochte, um davon Abstand zu nehmen, sie zu ermorden – darauf hatte sie eigentlich keine Lust. «Naja, insofern eine so verkorkste Person wie ich eben jemanden lieben kann.» Wie peinlich. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass sie sich in den falschen Typen verguckt hatte – aber dass jedes Mal, wenn sie daran dachte, auch noch das strahlende Abbild eines eiskalten Mordes auftauchen musste, das war einfach nur hyperpeinlich. Wie eine Leuchtreklame, die Ich liebe dich verkündete, obwohl ihr in Wirklichkeit nicht der Sinn nach einer Liebeserklärung stand.
Das war die totale Perversion der normalen Beziehungsevolution, bei der beide Parteien ihre wahren Gefühle verbargen, stattdessen eine Partnerschaft auf Lügen und Oberflächlichkeiten aufbauten und erst dann mit den großen Geständnissen herausrückten, wenn beide schon zu tief in diesem vorgetäuschten Beziehungsgebilde steckten, um, nachdem ihnen klar wird, wie ihr Partner wirklich ist, einfach davonzurennen.
Ach, dieser Fluch, er soll verdammt dafür sein, dass er ihr die Möglichkeit nahm, eine Beziehung auf einer Lüge über ihre wahren Gefühle aufzubauen!
Sie hob ihren BH auf und hakte ihn am Rücken zu. «Nachdem ich nun nach dem Tod der Hexe so sehr auf der Hut sein muss, erledigen wir definitiv mein Monster zuerst.»
Blaine kniff misstrauisch die Augen zusammen.
«Warum siehst du mich so an?», schnaubte sie. «Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass nach so einem Geständnis die DNA-Spenderin zuerst an die Reihe kommt, oder? Keine Chance –»
«Was ist mit deiner Tulpe los?» Er setzte sich auf und sein Blick ruhte nicht auf ihren Brüsten, sondern auf ihrem Hals. «Du kratzt dich.»
«Meine Tulpe?» Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie mit den Fingern ihr Muttermal rieb. Just als sie darüber nachdachte, begann es auch schon zu brennen. Heftig. «Allerdings.» Sie rubbelte intensiver. «Es tut weh.»
Blaine sprang auf die Füße. Er ging über das flache Dach. «Es glüht. Als würde die Sonne über deinem Schlüsselbein aufgehen.» Er klang dringlich und seine Miene verriet den Ernst der Lage.
«Tatsächlich?» Trinity wollte wieder kratzen, doch Blaine hielt sie zurück.
Er begutachtete ihre Haut. «Das ist ein Signalfeuer. Angelica hat es ausgelöst, um dich zu finden.» Er legte seine Handfläche über das Mal, entzog ihm einen Teil seiner Hitze und linderte so Trinitys Beschwerden ein wenig. «Baby, die Atempause ist vorbei. Zeit für die Auserwählte, nach Hause zu gehen.
Trinity musste daran denken, wie Blaine einst von seiner Familie fortgerissen worden war und griff erschrocken nach seiner Hand. «Sie will mich entführen?»
«Nein», erwiderte er und ließ seinen Blick über die Skyline wandern. «Sie will dich ernten.»
«Wie bitte?» Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, aber es konnte nicht gut sein.
Blaine rannte zu seinen Kleidern. «Du bist das Brutgefäß für den Fluch. Und sobald er reif ist, will sie dich ernten.» Er bewegte sich schnell, hatte schon seine Hose wieder an. «Es hat ganz den Anschein, dass sie deinen fünften Mord nicht mehr dem Zufall überlassen will.»
«Das höre ich nicht gerne.» Trinity rannte über das Dach und fand ihr Shirt in der Nähe des Entlüftungsrohres. Offenbar hatte Blaine es dort hingeworfen – immerhin beinahe zwanzig Meter weit. Ach, einen Mann, der vor lauter Leidenschaft zum Textilienweitwerfer wurde, musste man doch einfach lieben. «Kannst du mir das Zeichen ausbrennen?»
«Ich weiß nicht.» Er kam eilig zu ihr und legte seine Hand auf die Blume. Sie biss vor Schmerzen die Zähne zusammen, als die Hitze ihre Haut versengte. Sie wurde immer schlimmer, dann verschwand sie und Blaine schüttelte den Kopf und ließ dabei die Hand sinken. Sofort verschwand der Schmerz. «Das geht nicht, es sitzt zu tief. Du würdest meine Flammen nicht überleben.»
«Versuch es noch einmal.» Sie nahm seine Hand und führte sie wieder an ihre Brust. «Lieber sterbe ich durch dein Feuer als durch sie.»
Er nahm ihr Kinn sanft in seine Hand und suchte ihren Blick. Seine Augen waren voller Trauer. «Und genau so wird es geschehen, meine Liebe, aber wünsch es dir nicht zu früh.»
Ihre Kehle schnürte sich zu. «Ich werde nicht zulassen, dass du mich tötest.»
Er erwiderte nichts, sondern küsste sie.
Ein schneller Kuss, doch seine Zärtlichkeit trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen. Er kniff ihr sanft in die Wange. «Nur, damit du weißt, dass ich –»
Er schwieg.
Ihr Herz schlug wie wild. Wurde das eine richtige Liebeserklärung? Das könnte den Schmerz über seinen Verrat lindern. «Dass du was?»
Er biss die Zähne zusammen und schüttelte nur den Kopf. «Nichts.» Er ließ sie stehen, hob ihre Schuhe auf und reichte sie ihr.
Großartig. Sie wollte einen «Ich liebe dich für immer, mein Schatz»-Moment und was bekam sie? Schuhwerk. Seufz.
«Wenn wir unseren Vorsprung vor Angelica behalten wollen, müssen wir in Bewegung bleiben.» Er schlüpfte in seine Stiefel. «Die ganze Angelegenheit ist gerade bitterernst geworden.»
«Ach, weil ja bisher alles so entspannt und unterhaltsam war.» Sie stieg in ihre Schuhe und zog ihr Shirt über den Kopf. Da stieg ihr ein schwacher Geruch in die Nase. «Hier riecht es nach Kanalisation.»
«Im fünfundzwanzigsten Stock gib es nicht sonderlich viele Kanäle.» Blaine war gerade fertig damit, seine Stiefel zuzubinden. «Wir müssen uns mit dem Team zusammensetzen und einen Plan ausarbeiten. Jetzt, wo die Hexe dir auf der Spur ist, bleibt uns wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit.»
«Super. Bisher hatte ich ja auch noch viel zu wenig Stress.» Der Gestank wurde stärker. Trinity grübelte angestrengt und versuchte, ihn einzuordnen. «Wonach riecht das nur?»
Blaine schnüffelte. «Verfaulte Bananen.» Er nahm sie am Arm. «Wir müssen zurück zu meinem Motorrad und –»
«Verfaulte Bananen?» Lieber Himmel. «Augustus?» Sie fuhr herum und suchte den Himmel ab. «Ich kann es nicht fassen, wie viel mir diese Woche abverlangt.»
«Augustus? Ernsthaft?» Blaine grinste, doch sein Lächeln verschwand schnell wieder. «Verdammt. Es würde zu lange dauern, wenn ich versuche herauszufinden, wie man ihn erledigen kann. Den muss ich mir für später aufheben.» Blaine zog Trinity hoch und hielt sie fest. «Lass uns abdüsen. Halt dich fest.»
«Ja, okay.» Sie suchte immer noch am Himmel nach ihrem Verfolger. Oder wäre es klüger, die Straßen im Auge zu behalten? «Ich weiß nicht mal, wie er sich fortbewegt.» Unter ihren Füßen baute sich ein Hitzefeld auf. Gleich würde Blaine, wie schon beim letzten Mal, einen Feuerball explodieren lassen.
Doch dieser fühlte sich stärker an als alle bisherigen, und sie empfand gerade absolut kein Verlangen danach, versehentlich eingeäschert zu werden.
«Ich vermute, dass er einen pinkfarbenen Streitwagen mit farblich passenden Pferden fährt.» Unter ihnen knisterte die Energie.
Trinity prustete. «Ach was. Eher fährt er einen schwarzen Leichenwagen und hinten an seiner Stoßstange sind lauter Tote festgebunden, die er hinter sich herzieht –» Hinter dem John-Hancock-Wolkenkratzer, auf Höhe des obersten Stockwerkes, kam plötzlich ein rosenrotes Pferdegespann hervor und näherte sich ihnen schnell. Der Augustus-Express? «Ah ... du hattest wohl recht –»
Eine knotige Hand erschien in einem der Fenster und schleuderte einen pinkfarbenen Stern in ihre Richtung. «Oh Mann –»
Blaine löste ohne Vorwarnung die Explosion aus. Sie katapultierte sie wie eine Sternschnuppe auf fünf Litern Koffein über den Himmel und schoss sie weit fort von Augustus. Unter ihnen, viel zu weit unter ihnen, huschten Bostons Straßen vorbei. «Äh, Blaine?»
Er zog sie an sich. «Noch brauche ich dich. Ich lasse dich auf keinen Fall jetzt schon sterben.»
Aha. So sah also sein Plan aus. Sie holte tief Luft. Sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte und er sie nicht in ihren matschigen Tod stürzen lassen würde. Und neben der Tatsache, dass er sie leben lassen würde, konnte sie ebenso darauf zählen, dass er Gentleman genug war, sie gelegentlich an seinen verabscheuungswürdigen Plan zu erinnern und ihr so dabei zu helfen, Spidergirl in Schach zu halten.
Er war ein Geschenk, ein wundervoller, besonderer Schatz, und sie freute sich sehr, dass sie ihn hatte. Und der Kummer, den ihr die Mordabsichten dieses Mannes bescherten? Es tat weh, stand aber in keinem Vergleich mit dem inneren Frieden, den sie seinetwegen verspürte. Bald wären ihre gemeinsamen Flitterwochen zu Ende und bis dahin würde sie einfach die Freiheit, die er ihr gab, genießen. Mit dem Rest konnte sie sich immer noch beschäftigen, wenn es so weit war.
Sie spähte über Blaines Schulter und sah, dass Augustus so weit hinter ihnen zurückgefallen war, dass er sie nicht mehr einholen konnte. Er bremste sein wunderschönes, kupferfarbenes Gespann, blickte Trinity nach und salutierte.
Dieses Gefecht war vorüber, der Krieg noch lange nicht.
Nachdem Augustus für den Moment keine Gefahr mehr darstellte, begannen sie mit dem Sinkflug. Trinity sah nach unten und erkannte, dass sie sich auf die Bar zubewegten, vor der Blaine sein Bike geparkt hatte. Überall in der Gasse lagen noch die zerquetschten Überreste der Küchenschaben und am Boden konnte sie versengte Stellen ausmachen, die von dem vergangenen Kampf zeugten. Die Lache mit Jarvis Blut, das er nach dem durchschlagenden Treffer in die Magengrube verloren hatte, prangte wie ein riesiger Leichenfleck auf der Erde.
Blaine landete vor der Bar neben seinem Motorrad und Trinity bemerkte den Geruch von verbranntem Käfer in der Luft. Diese ganze Szenerie war ein lebendes Mahnmal dafür, was wirklich zählte: Sie musste das Leben ihres Vaters retten, ohne dabei ihre eigene Seele zu opfern, und sich dabei gleichzeitig eine übereifrige Hexe, einen aufgebrachten Meuchelmörder, einen gemeingefährlichen Liebhaber und ihren eigenen Fluch vom Hals halten.
Blaine schwang das Bein über den Sitz, rammte den Finger auf die Zündung und das Bike erwachte dröhnend zum Leben. Er griff nach dem Lenker und machte ihr gleichzeitig ein Zeichen.
Sie zögerte keine Sekunde, sprang hinter ihm auf den Sattel und drückte sich an ihn, während das Bike davonschoss.
Sie hatten keine Zeit mehr und immer noch keine Antworten.