15
Seymour brach das Schweigen und fragte gereizt: »Ist diese schwierige alte Frau vielleicht auch noch Alkoholikerin?«
Lucy mußte lachen. »Natürlich nicht! Im Gegenteil! Sie hatte gegen geistige Getränke so viel einzuwenden, daß wir nur im Badezimmer gelegentlich einen Schluck Sherry trinken konnten. Außerdem kratzten wir von allen Flaschen das Etikett ab, damit sie nicht auf die Idee käme, wir feierten hier Orgien.«
»Wie in aller Welt...«
»Es war wieder mal meine Schuld, wie immer«, erklärte Vicky niedergeschlagen. »Ich habe ihr die Flasche hingestellt, da gab es eine neue Aufregung im Tea-Room, ich lief hinüber und dachte nicht mehr daran.« Sie stockte und fuhr dann tapfer fort: »Ich habe ihr weisgemacht, es handelte sich um Medizin.«
»Schon wieder geschwindelt, ja?« Seymour war empört.
»Macht doch kein so feierliches Gesicht, ihr beiden!« lachte Lucy. »Vicky war im Recht: Alkohol ist Medizin, wenn er in Maßen genommen wird, aber...« Sie konnte nur noch kichern und sagte dann erschöpft: »Verzeihen Sie, das klingt so hysterisch! Es ist die Reaktion. Wir dachten wirklich, sie müßte sterben! Sie hat ein schwaches Herz, hat uns Harry erzählt. Deshalb hat ihr Vicky Kognak zu trinken gegeben; sie muß ziemlich viel davon getrunken haben. Kein Wunder, daß sie einen Rausch hat. Ich weiß, es ist nicht zum Lachen, aber Vicky wollte Harry schon an ihr Sterbebett rufen. Der Nachmittag war schon furchtbar genug gewesen, besonders für Vicky.«
»Wieso furchtbar? Was hat Vicky denn durchgemacht?« Man sah ihm an, daß er sich Vicky von verliebten Jünglingen umringt vorstellte.
Sie zogen alle drei in die Küche, und die Freundinnen erzählten abwechselnd von den Ereignissen des Nachmittags. Vickys Bericht klang sehr erheiternd, aber Seymour lachte nicht. Er schien heute unnahbar und sogar auf räumlichen Abstand zu Vicky bedacht zu sein. Als die Wespengeschichte beendet war, sah Lucy vom einen zum anderen und meinte dann rasch: »Ich muß mich doch noch mal um Mrs. Kelston kümmern.«
»Sie sollten sie lieber ihren Rausch ausschlafen lassen!« fand Seymour. Er wollte sie anscheinend nicht gehen lassen, und das ärgerte Vicky, die sich auf den Großangriff vorbereitete.
Da fuhr wieder ein Wagen vor, und Gordon sprang heraus. »Hallo, wie geht es euch beiden?« Dann bemerkte er die Unordnung und pfiff durch die Zähne. »Hat hier eine Schlacht stattgefunden? Vielleicht gab es Ärger mit den gebildeten jungen Leuten?«
Lucys Gesicht erstrahlte bei seinem Anblick, und Vicky dachte: Wie sehr kann das Glück einen Menschen verändern! Lucy sah schon immer gut aus, jetzt aber ist sie schön. Und gleich kam ihr der Gedanke: Hoffentlich macht das Unglück nicht häßlich! Vielleicht schaut James Seymour mich deshalb so unfreundlich an. Sie ging zu dem kleinen Spiegel an der Küchenwand und blickte hinein.
»Ach, Gordon, es war schrecklich!« sagte Lucy. »Ich sollte eigentlich aufräumen, aber wir wollen erst ein bißchen in den Garten gehen; da kann ich dir alles erzählen.« Sie schob ihren Arm in den seinen und zog ihn fort.
Die beiden anderen hörten noch seine Worte: »Was war denn hier los, und wer ist dieses Mannsbild?... Waaas? Das ist er? Da hat sich Vicky aber was ausgesucht! Der sieht ja zum Fürchten aus!«
Hitzig wandte Vicky sich Seymour zu. »Er hat recht! Sie sehen wirklich furchterregend aus!«
Mit aufreizender Ruhe nahm er diesen Vorwurf hin; er fragte nur: »Und was sehen Sie im Spiegel?«
»Mein eigenes Gesicht. Ich wollte nämlich sehen... Ich hatte Angst...«
»Was wollten Sie sehen? Wovor hatten Sie Angst?«
Jetzt war der große Moment gekommen! Vicky holte tief Atem; sie blickte ihn schmachtend an und sagte in rührendem Ton: »Ich wollte nachschauen, ob mich das Unglück häßlich gemacht hat.« Schon verlor sie wieder den Mut; rasch plapperte sie weiter. »Lucy ist so hübsch, weil sie jetzt so glücklich ist. Gordon ist wieder auf getaucht, und nun wollen sie heiraten. Das Glück hat sie so verschönt, und ich dachte, mich hätte das Unglück vielleicht häßlich gemacht. Das möchte ich aber doch nicht sein!«
Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und sie schöpfte neuen Mut. Doch er sagte nur: »Sie kommen mir nicht gerade wie ein unglücklicher Mensch vor, eher wie das Gegenteil.«
Jetzt oder nie, dachte Vicky. Fort mit der jüngferlichen Bescheidenheit! »Natürlich war ich unglücklich, seit Sie damals davonmarschierten, ehe ich noch etwas erklären konnte.«
Das mußte ihn doch überzeugen! Ein anderer Mann würde jetzt bestimmt auf sie zukommen. Aber Seymour blieb wie angewurzelt stehen und antwortete nur: »Sie hatten ja schon alles gesagt, oder besser, man konnte alles aus Ihren Worten schließen.«
Vicky fuhr auf. »Nun seien Sie doch nicht so selbstgerecht, während ich versuche...«
»Was versuchen Sie?«
Sie weinte beinahe vor Aufregung. »Sie sind so schlau — das kommt wahrscheinlich daher, daß Sie Rechtsanwalt sind. Sie stellen eine Menge Fragen und setzen mich dabei ins Unrecht. Ich wollte doch alles wiedergutmachen, und ich war so unglücklich, weil Sie sich so lange nicht blicken ließen... So, jetzt wissen Sie alles, nun können Sie aufhören mit Ihrem Kreuzverhör! Das Haus hätte ja abbrennen und wir in den Flammen umkommen können, ohne daß Sie es wußten!«
Wieder mußte er lächeln. »Das wäre mir beim Vorbeifahren bestimmt aufgefallen... Warum sollte ich überhaupt kommen? Aus Ihren Worten hatte ich geschlossen... Sie hatten so getan...«
»Nichts hatte ich getan. Sie meinen, ich hätte Ihnen etwas vorgetäuscht. Aber Sie ließen mir ja keine Zeit, Ihnen alles zu erklären. Übrigens: Wenn Sie so töricht sind zu glauben, ich wäre in Dan Ireland verliebt, hätte es doch keinen Sinn gehabt, Ihnen noch etwas erklären zu wollen.«
»Aber Sie behaupteten, daß Ihnen die Sache sehr am Herzen läge. Sogar Tränen haben Sie vergossen!«
»Ich weiß. Ich war auch nahe am Weinen. Wenn Sie nur ein bißchen Geduld gehabt hätten, hätte ich Ihnen alles erzählt. Aber wie soll man jemandem etwas erzählen, wenn man ihn nicht zu Gesicht bekommt.«
»Später wurde mir klar, daß Sie nicht in Ireland verliebt sind. Aber ich war gekränkt, weil Sie mich zum Narren gehalten hatten, wie Sie es mit so vielen Leuten tun. Sie haben sich so aufgeführt, als ob Ihnen die Angelegenheit naheginge, denn Sie wußten, daß mich das dem jungen Kerl gegenüber milder stimmen würde.«
»Es ging mir ja auch nahe, aber Nans wegen. Ich habe sie gern, und diese Sache schien ihr an die Nieren zu gehen. Nur ein Blinder konnte das nicht begreifen. Natürlich mochte ich Dan Ireland gut leiden. Er ist ein lustiger Kerl, und es hätte mir leid getan, wenn er ins Zuchthaus gekommen wäre, wo er mit niemandem seine Späße machen kann. Aber Sie — wie konnten Sie nur so verständnislos sein?«
»Diese Tränen...«
»Ich weiß. Ich habe mich auch geschämt, denn ich finde solche Mädchen, die auf diese Weise einen Mann bestricken wollen, schrecklich.«
»Bestricken?«
»Natürlich... Ach, warum sind Sie nur so schnell davongelaufen?«
»Ich dachte, das wäre wieder mal so ein Trick von Ihnen. Sie würden anschließend gleich zu Lucy laufen, ihr alles berichten und kräftig über mich lachen. So haben Sie ja auch die alte Frau an der Nase herumgeführt mit Ihren Geschichten von dem Mehl und den Bienen und...«
Sie seufzte. Warum mußte er bloß diese alten Sachen wieder ausgraben? Er war ein schwieriger Mann und würde es immer bleiben. Ihr fiel ein, daß schon Lucy das einmal festgestellt hatte. Sie hatte vollkommen recht damit gehabt. Das Leben an der Seite dieses stolzen und mißtrauischen Mannes würde nicht leicht sein. Aber das war ihr gleich; es war das Leben, nach dem sie sich sehnte. Gerade diesen Mann wollte sie nun einmal haben. Also vorwärts!
Leise sagte sie: »Ich habe nicht gelacht. Ich habe sehr geweint.«
Auf einmal änderte sich der Ausdruck seiner Augen; er sah sie liebevoll an, und das machte ihr neuen Mut. »Sie müssen doch zugeben, daß ich Sie nie belogen habe. Ich wollte Ihnen auch nichts vormachen, was nicht stimmte. Einen, den ich liebhabe, würde ich nie anlügen.«
»Auch nicht einen, der Sie liebhat?«
Da war es heraus, dieses Wort! Sie hatte es ihm wirklich abgerungen. Aber er blieb immer noch stehen wie ein Stock. Sie lächelte schüchtern und sagte: »Auf keinen Fall würde ich Sie jemals anlügen. Aber sind Sie eigentlich dort angewachsen, wo Sie jetzt stehen?«
Mit zwei großen Schritten war er bei ihr und nahm sie in seine Arme. Reuevoll gab er zu, daß im Grunde alles seine Schuld sei; sie müsse Geduld haben mit seinem albernen Stolz. Als er sie endlich losließ, meinte sie herausfordernd: »Ich dachte, du hättest einen Haß auf alle Lügner! Aber du weißt doch genau, daß ich von jeher geschwindelt habe; damit wirst du dich wohl oder übel abfinden müssen.«
»Ich hasse Schwindeleien und nicht die Schwindler! Ich habe auch nicht die Absicht, mich mit Schwindeleien abzufinden, denn du wirst dich bessern. Dieses >Genau gesagt< soll’s nicht mehr geben, wenigstens nicht mir gegenüber.«
»Nein, nein, dich will ich nie anschwindeln, und die anderen Leute nur ganz selten. Allmählich werde ich es schon lernen.«
Sie hörten Mrs. Kelston mit kläglicher Stimme rufen. Rasch machte sich Vicky aus seinen Armen los. »Die Ärmste! Sie fühlt sich gewiß recht elend!« Sie lief hinüber, und er hörte sie sagen: »Geht’s Ihnen jetzt besser? Kann ich Ihnen helfen?« Er bewunderte wie schon oft die Geduld und Güte, die sie der alten Frau erwies — was ihn betraf, so hätte er sie am liebsten erwürgt.
Eine zitternde Stimme erwiderte: »Ach, Vicky, mir ist so komisch zumute! Ich bin so weit weg! Nicht wahr, ich gehe doch nicht an der Decke spazieren?«
Vicky lachte. »Nein, nein, Sie liegen sicher in Ihrem Bett!«
»Hat die Medizin das bewirkt?«
»Ich fürchte, ja. Sie ist Ihnen nicht gut bekommen. Aber bald wird es Ihnen wieder besser gehen.«
Als sie zurückkam, sagte er: »Diese Person ist einfach unerträglich! Wann werdet ihr sie endlich los und den Tea-Room-Betrieb dazu?«
»Es wird bald so weit sein; aber das Haus geben wir nicht mehr her. Ich möchte hier bleiben; denn für Kinder ist es hier einfach ideal.«
»Für Kinder?« Er machte ein verdutztes Gesicht.
»Freilich! Wir wollen doch viele, viele Kinder haben!«
Als sie seine Verwunderung sah, mußte sie lachen. »Genau gesagt, vier!« Und er nahm sie wieder in seine Arme.
Als er aber dann noch einmal auf Mrs. Kelston zu sprechen kam, meinte sie: »Du solltest nicht so böse auf sie sein! Wenn sie nicht zuviel Schnaps getrunken hätte, hätte ich dich nicht an der Straße angehalten. Und von selbst wärst du noch lange nicht gekommen.«
»Aber einmal wäre es doch passiert«, entgegnete er liebevoll.
»Ja, einmal hätte ich dich schon dazu gebracht! Genau gesagt, da nun einmal mein Plan feststand, blieb dir ja gar nichts anderes übrig, mein armer Liebling!«