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Lucys Wohnung war klein, aber gemütlich. Vicky entsetzte sich bei dem Gedanken an den Mietpreis. Sie hoffte, ihre Freundin würde nie das Zimmer zu Gesicht bekommen, in dem sie selbst wohnte. Da sie aber Lucy kannte, war ihr klar, daß das nur eine Frage der Zeit wäre.

Sie feierten ihr Wiedersehen, indem sie mit dem hervorragenden Sherry anstießen. Dann kam die köstliche Mahlzeit, die Lucy rasch in der kleinen Küche zubereitet hatte. Anschließend hockten sie sich vor der Heizung auf den Fußboden und redeten und redeten, bis es war, als hätten sie sich nie getrennt. Um zehn Uhr seufzte Vicky tief auf und sagte: »Es ist schade, aber ich muß jetzt gehen. Du sollst mich nicht heimbringen, Lucy. Ich fahre wirklich lieber mit dem Bus.«

»Und ich soll dich zweimal umsteigen lassen, bis du in deinem Vorort bist? Wofür hab ich denn ein Auto? Aber mußt du wirklich schon gehen?«

»Ich glaube schon, denn ich muß doch morgen früh aufstehen und wieder auf Stellungs-Jagd gehen. Ich komme bestimmt allein nach Hause.«

Es war ihr ziemlich unbehaglich zumute; Lucy würde entsetzt sein über ihr Zimmer. Aber Lucy gab nicht nach.

»Das kommt gar nicht in Frage. Du sollst mir nicht wieder entschwinden. Ich will selbst sehen, wo ich dich erwischen kann.«

Sie ging, um ihren kleinen Wagen aus der Garage in der Nähe zu holen.

Von Zeit zu Zeit gestand sie sich ein, daß sie ein Auto eigentlich nicht brauchte. Dieser Besitz war fast eine Verschwendung, aber sie liebte nun einmal ihren kleinen Wagen; sie hatte ihn ja auch geschenkt bekommen. Sie verfügte über anständiges Gehalt, doch sie sparte, freilich mit Widerstreben, für die große Reise. Daß sie mit so geringer Begeisterung an den Besuch bei ihrer Mutter dachte, beschämte sie etwas.

»Mit dem Auto geht es schneller. Wir fahren quer durch die Stadt«, sagte sie.

Als sie die City hinter sich hatten, ging es durch einige kleinere Seitenstraßen, und dann waren sie schon am Ziel. Mit Bestürzung stellte Lucy fest, daß das hier fast schon zu den Slums gehörte. Nur ein schmaler, vertrockneter Rasenstreifen trennte die Häuser von der Straße. Die meisten waren »Logierhäuser«, die nicht für diesen Zweck gebaut waren; man ließ sie verkommen, bis der Stadtrat sie eines Tages abreißen lassen würde.

Die Stufen zur Eingangstür waren schmutzig; als Vicky öffnete, schlug ihnen eine stickige Luft entgegen. Als sie die Treppe hinaufgingen, trat eine Frau aus einem Zimmer im Erdgeschoß. Es war eine stämmige Person mit einem unangenehmen Gesicht. Auf Vickys freundlichen Gruß brummte sie eine undeutliche Antwort, verschwand wieder in ihrem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Vicky schnitt eine Grimasse. »Das ist die Hausbesitzerin. Die ist vielleicht grimmig, was?«

In diesem Augenblick faßte Lucy einen Entschluß: Vicky durfte hier nicht eine Nacht mehr verbringen. Auf Grund dieser Entscheidung konnte sie der Anblick des Zimmers nicht mehr erschrecken. Es war klein, keine zwanzig Quadratmeter groß. Ein Vorhang in der einen Ecke ersetzte den Kleiderschrank, ein anderer sollte die primitive Kochgelegenheit verdecken. Es war, wie sie erwartet hatte, ein abscheulicher Raum.

Vicky gab sich heiter. »Entschuldige, daß es hier so schlecht riecht. Das kommt wahrscheinlich von all den Leuten, die hier gelebt haben oder gestorben sind. Gerüche statt der Geister. Geister wären mir lieber.«

Lucy erwiderte gar nichts; sie sah sich nur alles an. Eine Freundin, die Essen für eine Großküche ausfuhr, hatte ihr von solchen Wohnungen erzählt; sie hatte erklärt, sie würde die Hausbesitzer, die auf so abscheuliche Weise ihr Geld scheffelten, am liebsten abschießen. Vicky redete wie ein Wasserfall. »Ich weiß schon, daß es scheußlich bei mir ist. Ich warte ja nur, bis ich woanders ein Zimmer finde. Genau betrachtet, ist es hier aber auch recht romantisch.«

»Genau betrachtet, ist es furchtbar, und du bleibst hier keine Stunde länger. Die Couch in meinem Wohnzimmer ist sehr bequem und genügt, bis du einen anständigen Job und ein anständiges Zimmer gefunden hast. Hör nur mal den Mann draußen auf der Treppe! Der ist betrunken!«

Vicky lachte. »Darüber mußt du dich nicht aufregen, Lucy. Er ist wirklich ein ganz netter Mann; aber manchmal hat er Depressionen, und dann trinkt er zuviel. Das kommt davon, wenn einem die Frau weggelaufen ist.«

»So? Ich weiß nur das eine: Du packst jetzt augenblicklich deine Siebensachen und übernachtest heute bei mir auf der Couch. Das ist wirklich das Beste.«

Vicky wurde rot und zog ein unglückliches Gesicht. Sie fand es zwar herrlich, wieder von Lucy am Gängelband geführt zu werden und auf ihrer Couch zu schlafen, aber... Sie schluckte und meinte: »Ich möchte das, glaub ich, lieber nicht tun. Ich meine, ich kann’s nicht tun. Nicht gleich heute abend. Ehrlich, Lucy, versuche nicht, mich zu überreden!«

»Lächerlich! Warum kannst du nicht? Bist du dieser habgierigen Person noch die Miete schuldig?«

Schweigen. Und dann: »Das nicht gerade. Ich hätte schon genug, um die Miete bis heute zu bezahlen. Aber sie wird die Miete für weitere vierzehn Tage haben wollen, weil ich doch nicht rechtzeitig gekündigt habe.«

»Wieviel macht das? Ach, stell dich doch nicht so an! Du kannst es mir ja wiedergeben... Waaas?? Du willst doch nicht etwa sagen, daß sie soviel für dieses Zimmer verlangt? Die hat vielleicht Nerven! Macht nichts. Hier ist meine Brieftasche. Jetzt geh und gib ihr das Geld für die nächsten vierzehn Tage. Wir wollen mit der Person keinen Streit anfangen. Ich werde einstweilen packen. Wo sind deine Koffer?«

Vicky zog drei Koffer unter dem Bett hervor; Lucy machte sie auf und sagte nur: »Jetzt halt dich nicht auf und bemitleide nicht den Mann auf der Treppe wegen seines Schicksals. Geh sofort hinunter zu der Frau, gib ihr das Geld und sage, daß du ausziehst. Und hab keine Angst, du könntest ihre Gefühle verletzen.«

Sie legte die Kleider in den einen Koffer und räumte die Kommode aus. Sie war betroffen über das wenige, was Vicky besaß. Als Vicky zurückkam, fragte sie: »Weshalb haben dich deine australischen Verwandten ohne Geld auf die Reise gehen lassen? Sie sind doch vermögend, nicht wahr?«

Eifrig entschuldigte Vicky ihre Familie. »Sie haben das Fahrgeld bezahlt, und sie hätten mir noch mehr gegeben, wenn ich es gewollt hätte. Weißt du, ich konnte sie eigentlich nicht leiden. Deshalb habe ich gesagt, der Notar hier hätte genügend Geld für mich.«

»Wenn du natürlich so anfängst! Komm, wir wollen sehen, daß wir fertig werden und hier rauskommen!«

Rasch trugen sie die Koffer die schmutzige Treppe hinunter. Die Hausbesitzerin kam aus ihrem Zimmer und sah sie böse an. Sie wollte etwas sagen, aber sie begegnete Lucys eiskalten Blicken und zog sich wieder in ihre Höhle zurück. Vicky hatte durch die Anwesenheit ihrer Freundin so viel Mut gefaßt, daß sie die Haustür mit einem kleinen Freudenschrei öffnete. Lachend wandte sie sich Lucy zu. »Gerade wie in alten Zeiten. Immer hast du gesagt, was ich machen sollte. Es ist einfach herrlich, daß wir wieder beisammen sind!«

Mit ihr wird alles ganz anders sein, dachte Lucy. Wie töricht hab ich mich Don gegenüber verhalten! Aber Schwamm drüber — nicht mehr dran denken. »Ich wollte, ich hätte ein Fremdenzimmer«, sagte sie zu Vicky. »Aber ich kann den einen Schrank leer machen für deine Sachen.«

Vicky protestierte; sie sei es gewohnt, aus dem Koffer zu leben, und sie fände das eigentlich viel praktischer. »Und ich bleibe ja nur ein paar Nächte. Ich möchte dir nicht im Wege sein.«

»Du bist mir nicht im Wege; du bist der einzige Mensch, mit dem ich meine Wohnung teile.«

Die Wohnung teilen? Vicky entschied, daß dieser Ausdruck nur zufällig gefallen sein konnte. Die letzten Jahre hatten sie gelehrt, daß man nicht zuviel vom Schicksal erwarten durfte. Aber mit Lucy an ihrer Seite fühlte sie sich sicher und getröstet. Augenblicklich verdrängte sie die Vergangenheit; sie vergaß das abscheuliche Zimmer samt der unfreundlichen Vermieterin, und am nächsten Morgen beschloß sie, einen Job zu finden, koste es, was es wolle.

Als sie aus dem Badezimmer kam, lächelte Lucy über die kleine Gestalt in dem billigen Pyjama, mit den zerzausten blonden Haaren und dem feinen Gesicht, von dem jetzt alle Schminke abgewaschen war.

»Du siehst immer noch aus, als ob du vierzehn wärst! Du könntest dich in der Aufbauschule einschreiben lassen, und kein Mensch würde dich nach deinem Alter fragen.«

»Ich weiß«, erwiderte Vicky kleinlaut. »Es ist eben ein Kreuz.

Aber wenn ich tüchtig Make-up benutze, Lidschatten auftrage und meine Haare hochtoupiere, ist es gleich besser. Jetzt will ich als erstes die Zeitungsanzeigen durchsehen und dann meine Kriegsbemalung auflegen.«

Lucy erwähnte einstweilen nichts von der bescheidenen Stellung in ihrem Büro. Aber bei der erstbesten Gelegenheit schlug sie Mr. Sheldon vor: »Sie könnten es vielleicht mit ihr versuchen. Sie hat keine abgeschlossene Ausbildung, weil sie erst ihren Vater und später eine schwierige Tante versorgt hat. Aber sie hat eine angenehme Stimme und weiß sich sehr gewandt auszudrücken. Außerdem hat sie tadellose Manieren.«

Da die vorige Bürokraft diese Vorzüge nicht hatte vorweisen können, meinte der alte Herr: »Schön. Sagen Sie ihr, sie soll sich möglichst bald bei mir vorstellen. Sie ist eine Freundin von Ihnen, nicht wahr?«

»Eine sehr gute Freundin.«

Daraufhin hatte Mr. Sheldon die Vorstellung von einer hochgewachsenen, ruhigen und würdevollen jungen Dame. Vielleicht nicht so attraktiv wie Miss Avery, aber doch so ähnlich. Seine Sekretärin war so tüchtig, daß er auch mit ihrer Freundin einen Versuch machen wollte.

Er war deshalb sehr überrascht, als ein zierliches, hübsches junges Mädchen sein Büro betrat. Ihr etwas zu auffälliges Make-up konnte ihre Jugend nicht verdecken. Er hielt sie für vier Jahre jünger als seine unvergleichliche Miss Avery. Doch immerhin, die Schule hatte sie anscheinend hinter sich, und schließlich war es ja kein Schade, ein so hübsches Gesicht im Büro zu haben. Wahrscheinlich war sie nicht besonders intelligent, aber das niedrige Gehalt, das er ihr anbot, würde sie schon wert sein.

»Können Sie morgen anfangen?«

»O ja, sehr gern!«

Sie antwortete so schnell, daß sich der Rechtsanwalt beinahe genierte, die Höhe des Gehalts zu nennen. Aber das junge Mädchen schien entzückt zu sein und dankte ihm mit einem bezaubernden Lächeln. Später meinte er zu Lucy: »Ihre kleine Freundin ist wohl noch sehr jung?«

Lucy lächelte etwas ungnädig. »Sie ist genauso alt wie ich.« Mr. Sheldon wechselte schleunigst das Thema. Er versuchte, sich Miss Averys Alter ins Gedächtnis zu rufen. Zweiundzwanzig? Oder dreiundzwanzig? Das neue Mädchen konnte doch unmöglich schon so alt sein!

Am Abend meinte Lucy: »Es ist doch albern, von zwei oder drei Tagen zu reden, es sei denn, du kannst auf meiner Couch nicht schlafen. Wollen wir nicht zusammenziehen?«

Vicky war überwältigt. »Deine Couch ist wunderbar, und ich fände es wunderbar, wenn ich bleiben könnte. Aber ich möchte meinen Anteil bezahlen. Die Hälfte von der Miete und von allem. Einverstanden?«

Nicht um alles in der Welt hätte Lucy den Mietpreis genannt. »Was die Wohnung betrifft«, sagte sie, »so schickt mir meine Mutter die Hälfte der Miete, und dabei bleibt’s, ob du nun hier wohnst oder nicht. Wenn du dich am Essen beteiligen willst, so steht dem nichts im Wege.« Im stillen beschloß sie, alle Rechnungen durchzusehen, ehe sie sie Vicky zeigte.

Sie blieben also beisammen, und Lucy war glücklicher, als sie es seit ihrem Streit mit Gordon je gewesen war. Die Geschichte mit Brent Windro blieb freilich ärgerlich, und eines Abends, als es wieder mal ein Hin und Her am Telefon mit ihm gegeben hatte, berichtete sie Vicky von jener Unbesonnenheit in ihrem sonst so ordentlichen Dasein.

»Wenn er einmal in meiner Abwesenheit anrufen sollte, dann bleib bitte fest und laß ihn nicht herkommen. Brent geht mir auf die Nerven. Erinnerst du dich an ihn?«

»Nur dunkel. War er nicht einer der Verehrer deiner Mutter?«

»Ja. Und als sie heiratete, meinte er, er könnte seine Aufmerksamkeit mir zuwenden. Eine verrückte Idee — er ist verheiratet und lebt von seiner Frau getrennt, mußt du wissen. Es war mir klar, daß er sich nur amüsieren wollte, aber eines Tages war ich — na, ich war ein wenig deprimiert, und so ging ich mit ihm aus. Ehrlich gesagt, zweimal. Er dachte, er wäre schon am Ziel seiner Wünsche, und eines späten Abends kreuzte er hier auf. Seitdem habe ich nur noch telefonisch mit ihm gesprochen. Er ist zu langweilig. Laß ihn ja nicht herkommen, wenn du mit ihm sprichst.«

Vicky überlegte, ob das wohl die Nummer drei sei, über die Lucy sich so beharrlich ausschwieg. Nein — nicht jener ältere, charmante Schürzenjäger!

»Natürlich war es meine Schuld! Es war dumm von mir, zweimal seiner Einladung zu folgen, aber ich hatte ihn nicht für einen solchen Optimisten gehalten, daß er daraufhin gleich nachts um elf Uhr an meiner Wohnungstür erschien. Das wird er nicht noch einmal probieren!«

Nein, dachte Vicky, Brent Windro ist es bestimmt nicht. Aber es gibt irgend etwas, was Lucy traurig macht.

Wie auch immer — eines war sicher: Vicky war ein lustiger Kamerad. Wahrscheinlich war sie der einzige Mensch, mit dem Lucy zu dieser Zeit so eng zusammen leben konnte. Sie saßen übrigens nicht dauernd beieinander. Morgens gingen sie gemeinsam ins Büro, aber sie hatten verschiedene Mittagspausen, und abends kam Vicky meist als erste heim. Lucy war Chef-Sekretärin, sie hatte eine Vertrauensstellung inne und hatte abends oft noch länger im Büro zu tun. Es war schön, sich dann in einer gemütlichen Wohnung gleich an den gedeckten Tisch setzen zu können.

Sie war auch sehr erleichtert, daß Vicky ihren neuen Chef zufriedenstellte. Sie verhielt sich gewandt am Telefon, richtete gewissenhaft und korrekt alle Aufträge aus und war durchaus in der Lage, ihren bescheidenen Job auszufüllen. Zum Glück gab es keine Gelegenheit, ihrer Phantasie oder ihrer Neigung zur Romantik freien Lauf zu lassen. »Kein Anlaß für deine lieben kleinen Schwindeleien«, bemerkte Lucy spöttisch.

Vicky lachte. Sie genierte sich nicht im geringsten. Es war unmöglich, sie davon zu überzeugen, daß die nackte Wahrheit unbedingt eine Tugend sei. »Solange man keinem damit ein Leid antut, soll’s mir recht sein«, sagte sie, »vor allem wenn man die Menschen damit glücklich macht.« Lucy beendete die Diskussion jedesmal mit einem verzweifelten Achselzucken.

Auf ihrem Weg in die Kanzlei verschwand Vicky eines Morgens urplötzlich von der Seite ihrer Freundin. Lucy hörte einen lauten Seufzer, und dann war das Mädchen wie vom Erdboden verschluckt. Unmittelbar darauf redete ein netter junger Mann mit einem drolligen Akzent Lucy an, und Lucy wußte sofort, daß es Alec war.

»Verzeihung, das war doch bestimmt Miss O’Brian? Ich sah sie neben Ihnen, aber jetzt scheint sie verschwunden zu sein. Kann ich mich so getäuscht haben?«

Das war peinlich, doch Lucy hatte mehr Respekt vor der Wahrheit als ihre Freundin. »Ja, das war Vicky O’Brian. Wollten Sie sie sprechen?«

»Ja…ja, gern. Aber ich dachte, sie wäre nach Australien gereist.« Sein Gesicht drückte ungläubiges Erstaunen aus, und Lucy war wütend auf die gewissenlose Vicky.

»Nein, sie hat sich’s anders überlegt. Sie fährt nicht. Sie bleibt jetzt hier.«

»Oh... oh, vielen Dank! Dann werde ich sie doch sehen können.«

Er sah so verliebt aus, daß Lucy noch wütender wurde. Als er fort war und Vicky wieder an ihrer Seite auftauchte, meinte sie: »Wie kannst du nur so albern sein! Wo warst du denn auf einmal?«

Vicky lief feuerrot an. »In dem Geschäft da«, kicherte sie. »Ich habe ein scheußliches Tuch gekauft, das ich nie werde tragen können. Teuer war es auch noch.«

»Das geschieht dir recht. Du machst mich wahnsinnig. Ich kann dich überhaupt nicht verstehen. Warum tust du das?«

Vicky seufzte nachsichtig. »Ich habe dir doch erklärt, daß ich ihn nicht kränken will.«

»Wenn du auch nur ein bißchen weiter dächtest, wäre dir klar, daß du ihm früher oder später doch wieder begegnest und daß du ihn auf diese Weise letzten Endes noch viel mehr kränkst. Ich habe ihm jedenfalls gesagt, daß du nicht nach Australien fährst.«

»Das ist gemein. Du hättest ganz leicht so tun können, als ob ich jemand anders gewesen wäre.«

»Ich erkläre dir ein für allemal, daß ich für dich nicht lüge.«

»Das finde ich kleinlich. Du hast einen richtigen Wahrheitspieps, Lucy! Und man tut so selten etwas Gutes damit! Wahrscheinlich bist du so, weil ich gerade immer umgekehrt war.«

»Darüber wollen wir nicht diskutieren. Es tut mir nur leid, daß ich ihm nicht erzählt habe, daß du bei mir wohnst, und daß ich ihm die Adresse nicht gegeben habe. Jetzt wird der arme Kerl wieder in das gräßliche Haus gehen und von der Vermieterin deine Adresse haben wollen; und die hat keine Ahnung!«

»Ach, das tut mir ebenfalls leid! Ich hätte doch da bleiben und dir heraushelfen sollen. Aber eines ist doch gut: Er wird seine Bemühungen jetzt aufgeben, und das wäre ein Segen.«

Doch sie hatte Alec Renton unterschätzt. Drei Tage später war er wieder da, an derselben Stelle, an der er sie das vorige Mal getroffen hatte; er musterte jeden Vorübergehenden ganz genau.

Lucy legte ihre Hand auf den Arm ihrer Freundin. »Da ist er, und du läufst mir jetzt nicht davon. Diesmal wirst du den Dingen nicht ausweichen.«

Der junge Mann blieb stehen, er errötete und brach los: »Entschuldige, Vicky, aber wo warst du denn? Ich bin in deine alte Wohnung gegangen, aber die Vermieterin wußte nicht, wo du jetzt wohnst. Warum hast du mich nicht wissen lassen, daß du nicht nach Australien fährst? Das einzige, was ich tun konnte, war, hier zu warten, um dich vielleicht zu erwischen.«

Vicky sah Lucy an, als wollte sie sie um Verzeihung bitten, und sagte nach einer kurzen Pause: »Es tut mir leid, Alec. Aber genau gesagt, es ging alles so schnell. Ich meine, der Tod meiner Tante.«

Lucy fiel ihr ins Wort. »Vicky wohnt in meiner Wohnung.« Sie gab ihm die Adresse und fügte hinzu: »Und wir arbeiten in demselben Büro.« Als Dreingabe nannte sie ihm die beiden Telefonnummern und sagte dann: »Aber jetzt müssen wir uns beeilen, sonst kommen wir zu spät.«

Sie hatten den erstaunten Jüngling kaum verabschiedet, da brach Vicky los: »Lucy, wie konntest du nur so boshaft sein! Jetzt hat er die Adresse und die Telefonnummer. Es klang fast wie eine Einladung.«

»So war es auch gemeint. Jetzt wird er kommen, und du kannst ihm alles erklären.«

»Ich mag aber nicht. Es wäre zu hart für ihn. Ich verstecke mich in deinem Schlafzimmer; du kannst ihm dann sagen, ich wäre nicht da.«

»Das tue ich bestimmt nicht. Vielmehr werde ich ihm genau sagen, wo du zu finden bist, und du wirst dem armen Teufel die Wahrheit sagen: daß du ihn nicht heiraten willst.«

Das Ende war, daß doch Lucy diese Aufgabe zufiel. An dem Abend, an dem sie Alec über die Sachlage aufklärte, erkannte sie, daß er zwar kein Romantiker, aber ein Mann der Tat war. Er machte keine Umstände. Zweifellos waren seine Absichten ehrlich gewesen - nicht wie bei Brent, dachte sie mit einem schmerzlichen Lächeln.

Als er erschien, sagte sie schnell: »Ich habe etwas zu besorgen; Sie müssen mich entschuldigen.« Sie ignorierte Vickys flehende Blicke und ließ die beiden allein.

Sie glaubte, eine halbe Stunde würde genügen, um einen Mann abzuweisen; aber als sie nach dieser Zeit zurückkam, bewirtete Vicky den Jüngling gerade mit einer Tasse Kaffee und lächelte ihn freundlich an; man war der großen Frage also aus dem Wege gegangen.

Kaum hatte ihre Freundin das Zimmer betreten, schien Vicky es furchtbar eilig zu haben: »Ich muß schleunigst fort! Du weißt doch, Lucy, diese Verabredung — es ist ganz wichtig...« Und ehe Lucy auch nur ein Wort zu sagen vermochte, war sie mit einem freundlichen: »Ade!« aus der Wohnung verschwunden.

Zu Lucys Überraschung und Enttäuschung machte der junge Mann keine Anstalten, ihr zu folgen. Die peinliche Aufgabe blieb also doch ihr überlassen. Nun, sie würde es kurz machen.

Verdutzt sagte er: »Sie müssen mir verzeihen, Miss Avery, manchmal habe ich den Eindruck, daß ich Vicky überhaupt nicht verstehe.«

»Das kann ich mir denken«, antwortete sie gelassen. »Ich verstehe sie ganz gut. Ich kenne sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr.«

»Warum gibt sie mir keine klare Antwort, wenn ich sie frage, ob sie mich heiraten will?«

»Weil sie nicht daran denkt, Sie zu heiraten. Aber sie wagt es nicht, Ihre Gefühle zu verletzen. Sie hat eben ein weiches Herz, und deshalb erzählt sie, was ihr gerade einfällt, lauter kleine Flunkereien. Sie hatte gar nicht die Absicht, nach Australien zu gehen, und ihre Tante lebt heute noch.«

Wenn das nicht reicht, kann ich dir auch nicht helfen! dachte sie im stillen.

Erwurde krebsrot. »Dann, zum Teufel — warum sagt sie’s nicht?«

»Weil sie gern aus Gutmütigkeit schwindelt. Sie will überhaupt nicht heiraten, aber sie dachte, Sie wären vielleicht gekränkt darüber. Deshalb hat sie Ihnen etwas vorgemacht.«

»Sie ist also eine Lügnerin!«

So ist’s recht, dachte Lucy, endlich wird ihm alles klar. »Ja, ja, so ist das nun einmal. Sie würde niemals lügen, wenn sie selbst etwas Dummes angestellt hat, auch nicht, um jemandem Kummer zu machen. Aber sie kann an diesen harmlosen Schwindeleien einfach nichts Schlimmes finden. Sie lacht bloß und meint, das sei doch nicht bös gemeint.«

Jetzt war Alec Renton wirklich wütend. »Sie meinen, sie hat diese alberne Geschichte von Australien nur erfunden, weil sie mir nicht die Wahrheit sagen wollte?«

»Ja.« Dann kam Lucy plötzlich ein Einfall. »Sie müssen zugeben, daß es schwierig ist, mit ihr verheiratet zu sein. Sie meint es gut, aber es gibt auch viele Aufregungen.«

»Den Eindruck habe ich auch!« fauchte er wütend. »Lügen kann ich nicht ausstehen. Man weiß nie, wie man dran ist.«

»Das stimmt«, erwiderte Lucy, wobei sie auch nicht ganz aufrichtig war; denn sie selbst wußte immer genau, wie sie mit Vicky dran war. »Im ganzen sind Sie doch noch ganz gut davongekommen.«

Das war natürlich Unsinn; denn Lucy war überzeugt, daß der Mann, der Vicky einmal heiraten würde, auch glücklich werden würde. Vorausgesetzt freilich, daß sie ihn liebte und ihm deshalb stets die Wahrheit sagen würde.

Aber sie war doch erleichtert, als der junge Mann nach einer langen Pause erklärte: »Ich glaube, Sie haben eine gute Tat getan, Miss Avery. Ich danke Ihnen. Ich möchte jetzt gehen, und Sie können Vicky ausrichten, daß sie sich für mich keine weiteren Lügen auszudenken braucht.«

Mit dem größten Vergnügen überbrachte Lucy diese Botschaft, als Vicky von ihrem, wie sie sagte, sehr anstrengenden Spaziergang zurückkehrte. Zu ihrer Überraschung und Enttäuschung war Vicky nicht im mindesten beleidigt. Sie lachte erleichtert und meinte: »Wie klug du doch bist, Lucy! So ehrlich und gerade! Ich bewundere dich!«

»Und warum machst du’s nicht ebenso?«

»Ach, ich könnte das einfach nicht. Sicherlich bist du meinetwegen so auf die Wahrheit versessen. Ich habe wirklich einen sehr guten Einfluß auf dich.«

»Na gut, Alec hätten wir also geschafft. Er war noch nicht einmal allzu tief gekränkt. Er fühlte sich vielmehr abgestoßen.«

Das würde Vicky doch wohl treffen? Kein Mädchen möchte, daß sich ein Mann abgestoßen fühlt! Aber Vicky meinte nur: »Ist das nicht fein? Um alles in der Welt hätte ich es nicht über mich gebracht, ihn zu verletzen, weil er doch so sensibel ist. Jetzt wollen wir aber essen. Nach all diesen Aufregungen habe ich einen Wolfshunger.«