14

 

»Gordon wird mich verfluchen, weil ich ein Hemmschuh für seine Pläne bin«, meinte Vicky unter vier Augen zu ihrer Freundin. »Ich bitte dich, nimm keine Rücksicht auf mich! Eure Hochzeit kann ich schon gar nicht mehr erwarten. Meine eigenen Pläne stehen auch schon fest: Ich werde den Betrieb hier noch eine Zeitlang weitermachen, und wenn ein gewisser Mr. Seymour nicht bald von selbst auftaucht, werde ich meinerseits etwas unternehmen.«

»Wie lang willst du ihn eigentlich noch mit >Mr. Seymour< betiteln?«

»Wahrscheinlich bis wir verheiratet sind. Ja, natürlich werde ich ihn heiraten... Klingt >Mr. Seymour« nicht herrlich altmodisch? Vielleicht werde ich ihn auch später noch so anreden, wie es die braven Ehefrauen im vorigen Jahrhundert taten. Es klingt doch so lieb und demütig.«

»Du als demütiges Eheweib — das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Allzu häufig werde ich auch kaum demütig sein. Aber es ist vielleicht ein ganz brauchbarer Trick, wenn er mal wieder seinen Rappel hat. Mit Demut läßt er sich sicher am ehesten besänftigen.«

»Du bist deiner Sache ja sehr gewiß! Aber was willst du denn unternehmen, damit er wieder auftaucht? Er scheint nicht leicht zu erwischen zu sein.«

»Es kann nicht mehr lange dauern. In den nächsten Tagen müßte er sich eines Besseren besinnen, sobald er nämlich erfährt, daß Dan in Kanada ist und ich hiergeblieben bin.«

Sie konnte ja nicht ahnen, daß Seymour von Jack unterrichtet worden war. Nan hatte ihren Mann zwar gebeten: »Ich möchte es ihr so gern erzählen, Jack! Sie wäre bestimmt froh darüber.«

Aber Chisholm hatte das abgelehnt. »Unsinn! es ist schon viel zuviel geredet worden. Seymour ist durchaus in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu ordnen. Und was die liebe Vicky betrifft, so geschieht es ihr ganz recht, wenn sie ein bißchen unglücklich ist. Warum steckt sie auch ihre Nase in anderer Leute Sachen. Vermutlich hat sie Seymour schon ein paarmal angeschwindelt. Wenn es stimmt, daß sie sich mögen, kann mir der arme Kerl nur leid tun. Sie wird ihn ganz schön an der Nase herumführen.«

»Diese Männer! Immer halten sie zusammen! Mir tut im Gegenteil Vicky leid. Mr. Seymour mag alle möglichen Vorzüge haben, er ist doch ein rechter Griesgram.«

Nan wollte zwar für ihre Freundin eintreten, doch im Grunde fühlte sie sich gleichfalls geschmeichelt, wie die meisten Frauen, wenn ihr Mann von einer viel schöneren Frau unbeeindruckt bleibt, selbst wenn es um die beste Freundin geht.

Auch Len und Amy Swales hatten gemerkt, »daß etwas schiefgelaufen war«, wie Amy sich ausdrückte. Seymour besuchte sie oft, und sie stellten fest, daß er jetzt entweder in der Stadt speiste oder daheim sein einsames Abendbrot einnahm. Amy war ganz verzweifelt. »Gerade jetzt, wo alles so glattging! Sie ist nämlich genau die Richtige für unsern Mr. James, so lebhaft und lustig und dabei so herzensgut!«

Len saß murrend über seinen Rechnungen. »Lebhafte Frauen können einem auf die Nerven gehen«, knurrte er. »Mr. James hat schon genug Aufregungen gehabt. Die reichen für den Rest seines Lebens.«

»So ein paar Aufregungen sind besser als das Dasein, das er jetzt führt.«

»Sein jetziges Dasein ist nun mal sein Schicksal; er trägt’s mit Fassung... Wozu, zum Teufel, brauchen die Leute all diesen Konservenkram! Lauter Luxus und Geldverschwendung!«

»Aber Vicky ist ein prima Mädchen!«

»Vor der Heirat sind sie alle prima«, brummte Len. »Es ist einfach schändlich, wie die Menschen ihr Geld zum Fenster hinauswerfen. Es geht einem direkt gegen den Strich, diese Rechnungen zu schreiben.«

»Dir geht es seit je gegen den Strich, etwas zu verkaufen«, erwiderte Amy vorwurfsvoll. »Du brauchst dich wirklich nicht zu beklagen. Aber ich finde es schon schlimm, daß Mr. James so unglücklich ist.«

»So ist das Leben nun einmal«, gab Len düster zur Antwort. »So ist es stets gewesen, und so wird es auch bleiben. Und ich habe das Rechnungenschreiben jetzt gründlich satt!« Damit knallte er sein Hauptbuch zu.

Die nächste Woche ging vorüber; Gordon wurde immer ungeduldiger. Schließlich mußte ihm Lucy doch Näheres über Vickys Probleme erzählen. Gordon kam zu dem Schluß, dieser Seymour müsse ein rechter Esel sein. »Wenn er das Mädchen gern hat, warum kommt er da nicht her und sagt es ihr? Es ist doch zu blöd, sich im Schmollwinkel zu verkriechen, statt reinen Tisch zu machen.«

»Ich finde es auch albern, aber so ist er nun mal.«

»Zum Ehemann ist er da aber nicht geeignet.«

Im stillen war Lucy seiner Meinung, aber sie hielt sehr viel von Vickys diplomatischem Geschick. »Sie weiß, was sie will; sie wird ihn schon zur Vernunft bringen, ohne daß er es merkt. Du mußt auch bedenken, daß ihm sein eigenes Mißgeschick und später das seines Bruders einen gehörigen Schock versetzt hat.«

»Ein Mann, dem jahrelang ein paar Frauen im Magen liegen, die es gar nicht wert sind, ist ein Narr!« erklärte Gordon im Brustton der Überzeugung.

Vicky arbeitete viel und redete wenig. Sie versorgte Mrs. Kelston und ertrug geduldig die Spinnen bei Tag und die Brummer am Abend; aber immer stärker sehnte sie die Abreise der alten Dame herbei. Der Tea-Room war gut besucht; im Laufe des Sommers hatten sie ganz hübsch verdient.

»Und ehe der Winter kommt, hole ich diesen Menschen entweder aus seinem Versteck heraus, oder ich gehe ins Kloster«, versicherte sie.

Samstags und sonntags gab es die meiste Arbeit. Da fuhren die Leute aus der Stadt hinaus aufs Land und kehrten gern zum Tee in dem schönen alten Haus ein. Zum Wochenende hatten sie oft ebenso viele Gäste wie an den fünf übrigen Tagen zusammen. Im allgemeinen freilich hielt sich die Arbeit in erträglichen Grenzen. Beide hatten eine gewisse Routine gewonnen, wobei ihnen Seymours Tiefkühlschrank oft genug zustatten kam.

»Obgleich ich einen gehörigen Zorn auf ihn habe, werde ich ihm doch nicht aus beleidigtem Stolz seine Gefriertruhe zurückgeben«, erklärte Vicky. »Sie ist wirklich praktisch. Wer weiß, vielleicht bringt sie uns wieder zueinander«, setzte sie mit einem gezwungenen Lächeln hinzu.

An einem Samstagabend brach die Katastrophe herein. Im Tea-Room ging es lebhaft, aber friedlich zu. Zwölf Gäste saßen in dem großen Raum, weitere vier auf der Veranda. Lucy setzte gerade ein vollbeladenes Tablett nieder, da entstand plötzlich eine Panik: Die vier Gäste drängten von der Veranda nach drinnen. Die beiden Männer und die beiden gutaussehenden Damen, die kurz zuvor so unbeschwert miteinander geplaudert hatten, verhielten sich auf einmal ziemlich rücksichtslos. Sie stießen und schoben sich, um nur ja schnell genug durch die Tür zu kommen. Lucy fragte mißbilligend: »Was ist denn los?«

Im selben Augenblick erschien Vicky mit einem Aufschrei in der anderen Tür; die Gäste, die ruhig bei ihrem Tee saßen, blickten sich um. Eine Frau begann zu kreischen, eine andere rief: »Wespen! Wespen in hellen Scharen!«

Die Flüchtlinge von der Veranda hatten die Tür nicht schnell genug hinter sich geschlossen; ein Schwarm zorniger Wespen war ihnen gefolgt, und weitere Schwärme drangen durch die offenen Fenster in den Raum.

Im Nu brach die Hölle los. Ein Mann rief laut, man solle die Ruhe bewahren, dann werde man nicht gestochen. Aber niemand hörte auf ihn. Zwei Frauen krochen unter die Tische, eine andere schob das Geschirr weg, packte das Tischtuch und wickelte sich hinein. Vier Gäste stürmten in die Küche, aber auch sie wurden von den behenden Wespen verfolgt. In ihrer Not flüchteten sie weiter ins Badezimmer und verbarrikadierten sich dort. Das ganze Haus schien von angstvollen Menschen und bösartigen Wespen erfüllt zu sein.

Mit einem erstickten Klagelaut setzte Vicky ihr Tablett nieder, um den Kampf aufzunehmen. Es sei die tapferste Stunde ihres Lebens gewesen, sagte sie später; denn jetzt drangen die Wespen, vor denen sie solche Angst hatte, in richtigen Schwärmen durch die Fenster herein. Sie bahnte sich einen Weg durch die aufgeregten Gäste und schloß die Fenster; dabei schlug sie sich immer wieder verzweifelt auf die Haare. Dorthin hatte sich nämlich eine wild stechende Wespe verirrt. Mit letzter Kraft rief sie: »Nur Ruhe! Die Fenster sind zu! Es kann keine mehr hereinkommen!«

Aber der Kampf gegen die bereits eingeflogenen Tiere ging weiter. Lucy war die einzige, die einen klaren Kopf behalten hatte. Sie sprühte mit einer Spraydose den ganzen Raum aus. »Das wird sie betäuben«, erklärte sie ruhig. »Wenn sich niemand mehr so wild bewegt und keiner nach ihnen schlägt, wird auch niemand gestochen.« Als schließlich ihre Spraydose leer war, gaben die Wespen den Kampf auf. Überall lagen die toten Tiere herum, die Gäste kamen unter den Tischen hervor und warfen die Tücher ab. Ein paar waren gestochen worden, die einen mehr, die anderen weniger. Doch Lucy hatte sich schon vor einiger Zeit aus der Apotheke eine Salbe zur Behandlung von Insektenstichen besorgt; damit pflegte sie nun die armen Opfer, während Vicky die Tische säuberte und alles Genießbare wegräumte. »Denn angesprühten Kuchen und Tee, in dem tote Wespen herumschwimmen, mag niemand«, meinte sie verständnisvoll.

Sie rückte die Tische wieder zurecht und bereitete frischen Tee. Erst als sie und Lucy in der Küche ein wenig Atem schöpfen konnten, sagte sie: »Eine sitzt immer noch in meinen Haaren; ich habe sie totgeschlagen, hol sie doch bitte heraus, ehe ich völlig verrückt werde. Eine andere ist mir durch den Ausschnitt den Rücken hinuntergekrochen, soweit es ging. Aber ich habe mich ganz fest hingesetzt und sie zerquetscht. Sie hat mich noch gestochen, aber jetzt ist sie tot.« Lucy holte die Wespe aus den Haaren heraus und lachte: »Du hast dich benommen wie ein Held! Ich habe nur ein paar kleine Stiche, sie stören mich nicht weiter. Aber wie konnte das nur passieren?«

Darüber unterhielten sie sich auch mit den Gästen; ein junger Mann, der auf der Veranda gesessen hatte, sagte: »Im Garten muß ein Wespennest sein. Unter den Bäumen stand eine alte Frau; sie stocherte mit einem Stock in der Erde herum und redete vor sich hin. Und plötzlich war alles voller Wespen.«

Vicky und Lucy blickten sich erschrocken an. »Mrs. Kelston! Jetzt hat sie es doch noch entdeckt! Aber was ist mit ihr geschehen?« flüsterte Lucy ihrer Freundin zu.

»Entsetzlich! Wahrscheinlich liegt sie irgendwo! Vielleicht ist sie an dem Wespengift gestorben!« antwortete Vicky. »Ich muß gleich nach ihr sehen. Nein, das ist meine Sache, Lucy, das muß ich tun.« Ohne auf Lucys Proteste zu achten, ging sie mutig zur Tür. Doch dann fiel ihr ein, daß es besser war, keine weiteren Wespen in ihrem Haar zu riskieren. Sie wollte sich schnell aus ihrem Zimmer ein Kopftuch holen. Im Vorübergehen warf sie einen Blick in Mrs. Kelstons Zimmer. Zu ihrer Überraschung und Erleichterung lag die alte Dame friedlich mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett. Sie hatten sie also falsch verdächtigt! Sie war nicht an dem Unglück schuld. Vicky trat leise näher. Sie war so froh, daß sie sich nicht aufs neue zu den Wespen wagen und eine Tote unter den Bäumen suchen mußte. Mrs. Kelston schlief nicht. Sie öffnete die Augen und schwatzte gleich drauflos: »Denken Sie nur, ich habe das Wespennest gefunden! Ich habe ein bißchen in der Erde herumgestochert, und auf einmal waren sie da!«

»Aber — aber sind Sie jetzt nicht furchtbar zerstochen?«

»Ach nein! Ein paar freche Kerlchen haben mich aus Spaß ein bißchen gezwickt, aber was macht das schon! Ich habe ihnen erzählt, daß ich ihr Freund bin, da sind sie gleich davongeflogen. Haben Sie eine gesehen? Ich wollte ihnen nach, aber die Aufregung hat mich ein wenig müde gemacht, und deshalb habe ich mich ein bißchen hingelegt.«

Sie sprach sehr leise, und Vicky sah sie genauer an. Sie war sehr bleich, die Lippen bläulich verfärbt. Harry hatte einmal gesagt, seine Mutter neige dazu, sich zuviel zuzumuten. Außerdem sei ihr Herz nicht ganz in Ordnung. »Sie sind gewiß zu schnell gelaufen«, meinte sie. »Sie hatten wohl auch große Angst!«

Mrs. Kelston war gekränkt. »Angst? Wovor sollte ich Angst haben? Kein einziges Geschöpf unseres Herrn kann mich in Schrecken versetzen. Ich brauchte ihnen nur zu sagen, daß ich es gut mit ihnen meine, und gleich flogen sie davon. Ich bin nur ein wenig schläfrig. Es ist heute sehr heiß!«

»Sie sehen aber nicht gut aus! Lassen Sie mich mal die Stiche sehen!« sagte Vicky energisch und erschrak, als sie die zahlreichen Schwellungen auf Mrs. Kelstons Händen und Armen erblickte. Sehr freundlich schienen sich die Wespen nicht benommen zu haben.

»Man kann sie deshalb nicht tadeln«, verteidigte das Opfer ihre Lieblinge. »Es ging so schnell, daß ich keine Zeit hatte, ihnen alles zu erklären.«

Vicky machte keine Einwendungen; sie holte den fast geleerten Salbentopf und rieb die Stiche sorgsam ein. Aber Mrs. Kelston war noch immer beängstigend blaß. Zu ihrer Erleichterung fiel Vicky die Kognakflasche ein, von der sie das Etikett entfernt hatte.

»Sie sind sehr müde«, sagte sie. »Ich gebe Ihnen etwas von unserer Medizin; das wird Ihnen gut tun.«

»Aber keinen Alkohol! Für mich ist Alkohol Gift, das wissen Sie doch!«

»Es ist ja Medizin«, versicherte Vicky und beruhigte ihr Gewissen damit, daß das keine echte Lüge sei.

Sie kam mit dem Kognak, einem Krug Wasser und einem Glas zurück. Sie goß ein reichliches Quantum Schnaps in das Glas und wollte gerade das Wasser hinzugießen, als im Tea-Room ein neuer Tumult losbrach. Sie setzte den Wasserkrug ab und sagte: »Gießen Sie noch etwas Wasser hinzu! Es kann Ihnen bestimmt nicht schaden. Es ist völlig harmlos. Viele Leute trinken es wie Wasser!« Damit lief sie davon.

Irgend jemand hatte die Tür zum Garten geöffnet, und so waren einige neue Wespen eingedrungen. Lucy betäubte und tötete sie, und alsbald war die Ruhe wiederhergestellt.

»Was ist mit Mrs. Kelston?« flüsterte sie Vicky zu.

»Alles in Ordnung. Aber sie ist schuld. Sie hat das Nest entdeckt und aufgestöbert.«

»Ist sie nicht arg gestochen worden?«

»Sie hat schon eine ordentliche Anzahl Stiche. Sie liegt jetzt auf ihrem Bett, ziemlich erschöpft von all den Aufregungen. Ich habe ihr einen Schnaps gegeben.«

»Aber sie rührt doch keinen Alkohol an?«

»Sie weiß nicht, was es ist. Ich habe ihr gesagt, das wäre Medizin, und es ist ja auch eine Art Medizin. Übrigens hatte ich das Etikett abgekratzt.«

Im Tea-Room hatten sich die Verhältnisse normalisiert. Hier und dort stieß eine Wespe gegen die Fenster, die die Gäste jedoch nicht mehr öffneten. Es hatte sich eine Art Kameradschaftsgeist herausgebildet; die Verletzten zeigten stolz ihre Stiche vor; die Männer, die davongelaufen waren, suchten ihre Schwäche hinter lauten Reden zu vertuschen; die Mädchen, die von ihren Begleitern zur Seite geschoben worden waren, hänselten das »starke Geschlecht«. Lucy ging vom einen zum andern und vergewisserte sich, daß es den Verletzten besser ging. Sie versprach ihren Gästen, daß man das Nest noch am selben Abend ausräuchern werde. Es würden dann keine Wespen mehr in den Tea-Room kommen; das könnten sie all ihren Freunden berichten. Bald waren auch die letzten Insekten von den Fenstern verschwunden, und die Leute wagten sich ins Freie zu ihren Autos. Sie schieden in bester Stimmung und erklärten, das Ganze sei ein richtiges Abenteuer gewesen. Zurück blieb ein schauerliches Durcheinander von beschmutztem und zerbrochenem Geschirr, toten Wespen, vergossener Milch und zerknautschten Tischtüchern. Vicky machte sich an den Aufwasch, und Lucy kehrte die Scherben, Insektenleichen und Kuchenkrümel zusammen. Erst als das Gröbste getan war, fiel ihnen Mrs. Kelston ein. Sie wollten nachschauen, ob die vielen Stiche, die die alte Frau für harmlos hielt, ihr noch zu schaffen machten. Wütend über all die Arbeit und Aufregung betrat Lucy das Zimmer. Sie wollte ihrem Gast ein für allemal beibringen, daß sie sie nun nicht mehr hierbehalten könnten. »Mrs. Kelston«, begann sie, »Sie haben wirklich...« Sie hielt inne und betrachtete entsetzt die reglose Gestalt auf dem Bett. Mrs. Kelston schien bewußtlos zu sein. Ihr zuvor so bleiches Gesicht war jetzt dunkelrot, der Mund stand offen, die Augen waren geschlossen, und sie atmete schwer. Lucy erschrak und rief nach Vicky. »Sie muß einen Anfall gehabt haben. Sie ist anscheinend ohne Bewußtsein. Ich wollte sie wecken, aber sie rührt sich nicht. Vielleicht ist sie allergisch gegen Wespengift. Wir müssen sofort einen Arzt holen. Ich habe mal gehört, daß man binnen kurzer Zeit daran sterben kann.«

Vicky war starr vor Schreck. Dann nahm sie Mrs. Kelston bei den Schultern und rüttelte sie vorsichtig. »Wachen Sie auf, Mrs. Kelston!« bat sie flehentlich. »Bitte, bitte, wachen Sie doch auf! Wir haben solche Angst um Sie!« Mrs. Kelston öffnete ein Auge, stöhnte leise und machte das Auge wieder zu. Voller Entsetzen blickten sie sich an, dann sagte Vicky: »Wir müssen telefonieren! Ich laufe zu Nan hinüber und rufe den Notdienst in Homesward an. Ich verlange, daß sofort jemand kommt. Irgendein Arzt hat doch zum Wochenende Dienst. Deck du sie nur gut zu und laß sie ruhig liegen. Ich beeile mich, sosehr ich kann.«

Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte mit zitternder Stimme: »Ich werde auch Harry anrufen. Er soll sofort herkommen, für den Fall, daß — daß...« Sie konnte nicht weitersprechen.

Sie stürmte über den Rasen. Einige Wespen waren zu dem Schauplatz ihres Triumphes zurückgekehrt, aber sie beachtete sie nicht. Die Hauptsache war jetzt, Zeit zu gewinnen. Düstere Berichte aus der Zeitung fielen ihr ein und ließen sie noch schneller laufen. Sie kam zu der großen Fernstraße und wäre ums Haar in ein vorbeifahrendes Auto gerannt. Sie achtete nicht auf das zornige Gesicht und die lauten Flüche des Fahrers, der ihr gerade noch hatte ausweichen können.

Aber als sie sich dem Farm-Haus näherte, sank ihr das Herz. Sie hatte ganz vergessen gehabt, daß Nan in der vergangenen Woche zu ihr gesagt hatte: »Wir fahren zum Wochenende fort und besuchen meine Leute. Wir bleiben über Nacht dort. Es wird herrlich!« Jetzt sah sie, daß Haustür und Fensterläden geschlossen waren. Sie dachte kurz daran, eine Fensterscheibe einzuschlagen, um so ans Telefon zu gelangen. Doch dann machte sie kehrt und lief zur Straße zurück. Sie wollte das nächste Auto stoppen und sich zu den Swales bringen lassen. Dort war der nächste Fernsprechapparat. Amy konnte ihnen vielleicht auch einen guten Rat für die erste Hilfe geben, bis der Arzt kam. Gerade als ein Wagen in hohem Tempo daherkam, lief sie auf die Straße. Die Bremsen kreischten, das Auto rutschte noch ein Stück weiter und kam genau vor Vicky zum Stehen. Sie erkannte soeben, wem es gehörte, da wurde die Tür aufgerissen, und James Seymour sprang heraus.

»Vicky, zum Donnerwetter, was machen Sie denn da?«

Sogar in diesem verzweifelten Augenblick fuhr es ihr durch den Sinn, daß er sie tatsächlich zum erstenmal bei ihrem Vornamen genannt hatte.

»Schnell, schnell, ich muß telefonieren! Ich brauche einen Arzt!« stammelte sie.

Er wandte sich schon zum Auto zurück, hielt aber inne und sagte: »Das hat keinen Zweck. Vor fünf Minuten ist der Arzt in entgegengesetzter Richtung an mir vorbeigefahren. Dieses Wochenende hat nur einer Dienst. Sie werden keinen sonst erwischen. Wo fehlt’s denn eigentlich? Ist jemand krank?«

»Mrs. Kelston«, erwiderte sie verzweifelt. »Ich glaube, sie stirbt. Die Wespen haben sie gestochen.«

»An Wespenstichen stirbt kein Mensch«, sagte er ruhig. »Aber Sie selbst hätte es beinahe erwischt, als Sie so unvorsichtig auf die Straße liefen!«

»Aber manche Leute sterben doch durch Wespengift! Neulich stand so etwas in der Zeitung. Sie ist bewußtlos, und ihr Gesicht ist feuerrot. Was soll ich nur machen?«

Er war wieder eingestiegen, und sie dachte schon, er würde sie einfach stehenlassen. »Ich werde mir das ansehen«, sagte er kurz. »Wenn sie wirklich so schlimm dran ist, werde ich versuchen, einen anderen Arzt aufzutreiben. Steigen Sie ein!«

Sie gehorchte, und er wendete. Wie anders verlief dieses Wiedersehen, als sie es sich ausgemalt hatte! Sie hatte davon geträumt, er würde auf einmal in der Tür stehen, die Arme öffnen, sie anlächeln, und sie würde an seine Brust sinken, jetzt aber sah er sie kaum an, und sie war viel zu aufgeregt, um an eine Umarmung denken zu können.

Er hielt vor dem Gartentor und ging mit schnellen Schritten zum Haus; Vicky folgte ihm. Lucy kam ihnen entgegen; sie war sehr blaß und sagte: »Ihr Zustand ist unverändert. Sie gibt so seltsame Töne von sich. Hast du einen Arzt gesprochen?«

»Nein. Ich hatte vergessen, daß die Chisholms übers Wochenende verreist sind. Ich hielt das erste Auto an, das daherkam; es war — es war Mr. Seymour.«

Sie hatte »James« sagen wollen, aber im letzten Moment fehlte ihr der Mut dazu. Es ist so ein vornehmer Name, dachte sie trotzig. Wenn er nur Peter hieße oder David... Aber es tat nichts zur Sache; er hörte gar nicht auf sie. Es schien ihm auch keinen Eindruck zu machen, daß dies das erste Wiedersehen seit vierzehn Tagen war.

Statt dessen betrachtete er die reglose Gestalt auf dem Bett; dann ging er nahe an sie heran, beugte sich über sie und drehte sich um.

»Liegt sie im Sterben?« Vicky wagte kaum zu atmen.

»Sie ist sinnlos betrunken«, antwortete James Seymour.

Die Mädchen waren sprachlos. Lucy trat an das Bett, beugte sich darüber und zog die Luft ein. Das genügte! Die alte Dame roch nach Schnaps.

Da berührte Seymour mit dem Fuß einen Gegenstand, der halb unter das Bett gerollt war. Er bückte sich rasch und hob ihn auf. Es war die Flasche, die Vicky vorhin in der Eile abgestellt hatte, deren Inhalt »manche Leute wie Wasser trinken«. Mrs. Kelston hatte ihn wie Wasser getrunken. Sie war zu einem Viertel gefüllt gewesen, nun war sie leer.

Plötzlich kehrte das Leben in die Patientin zurück. Sie öffnete die Augen und lächelte Vicky selig an. »Ein bißchen hat’s in der Kehle gekratzt. Es ist doch nicht so ganz wie Wasser... Die armen kleinen Wespen haben es nicht böse gemeint.« Mit diesen Worten schloß sie die Augen und schlief zufrieden weiter.