13

 

Am nächsten Morgen lag ein Brief im Briefkasten des Tea-Rooms; er war an Lucy adressiert und lautete:

 

Sehr geehrte Miss Avery!

In den nächsten Wochen habe ich abends länger im Büro zu tun. Unter diesen Umständen ist es wohl besser, wenn ich in Homesward esse. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden, und begrüße Sie

mit vorzüglicher Hochachtung

J. Seymour.              

 

Lucy las den Brief und gab ihn Vicky. Vicky lachte mühsam auf. »Typisch für den lieben James! Kurz und bündig. Kein Wort der Entschuldigung. Friß oder stirb. Von seiner Unterstützung bei der Buchführung ist überhaupt keine Rede mehr.«

Nach einer Pause setzte sie in völlig verändertem Ton hinzu: »Soll ihn doch der Kuckuck holen!«

»Du mußt seinen Standpunkt verstehen. Zumindest zeigt der Brief, daß ihm die Sache unter die Haut geht.«

»Wirklich? Ich finde, daß der Knacks, den er schon hatte, sich zu einem richtigen Bruch entwickelt hat.«

»Dafür gibt es ja auch Gründe: zum Beispiel seinen Minderwertigkeitskomplex hinsichtlich des weiblichen Geschlechts.«

»Er ließ mich ja gar nicht weiter zu Wort kommen!«

»Das stimmt. — Ach, da kommt Nan! Sie will sich wohl bei dir bedanken. Sie sieht ja ganz anders aus! Sie strahlt geradezu!«

Lucy begrüßte Nan ziemlich kühl, während Vicky freudig ausrief : »Jetzt bist du wohl froh, wie? Und hat sich dein Jack anständig aufgeführt?«

»Er ist großartig. Er ging schnurstracks zu Mr. Seymour und bezahlte die ganze Summe. Er ist der beste Mann, den man sich vorstellen kann. Ich hätte mich gleich an ihn wenden sollen.«

Vicky stimmte eifrig in ihren Lobgesang ein; augenscheinlich war Nan völlig davon erfüllt, und beide Mädchen zeigten sich von Jacks Edelmut sehr angetan.

Eines wagte Nan allerdings nicht: von ihrer Bitte zu berichten, Jack möge Vickys Beziehungen zu Dan klarstellen.

»Ich war dumm und egoistisch und habe alle in Schwierigkeiten gebracht. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, daß noch alles in Ordnung kommt.«

Die beiden Freundinnen wechselten einen erstaunten Blick, und als sie gegangen war, sagte Vicky: »Wir wollen nicht böse sein auf sie. Sie hat ein zu gutes Herz, vielleicht dient ihr das zur Lehre.«

Plötzlich schien das Leben richtig fad geworden zu sein, obwohl beide Mädchen so taten, als wäre nichts geschehen. Sie vermißten beide die heiteren, unbeschwerten Mahlzeiten mit Seymour, der sich immer so für ihre Angelegenheiten interessiert hatte. Es schien, als hätte er sie aus seinem Leben fortgewischt und als wäre er auch noch froh darüber. Alles war nun längst nicht mehr so amüsant, und Mrs. Kelston ging ihnen auf die Nerven. Sie hatte all ihre Versprechungen vergessen. Trotz Harrys Dankbarkeit und der ansehnlichen Summe, die er für die Pension bezahlte, würde die Abreise seiner Mutter eine Erleichterung bedeuten. Froh waren sie auch über einen anderen Abschied: Jack hatte keine Zeit verloren; schon nach wenigen Tagen machte Dan seinen Abschiedsbesuch. Er war in bester Stimmung und kam mit keinem Wort auf die überstandenen Schwierigkeiten und die Aufregungen zu sprechen, die er seiner Umgebung verursacht hatte.

»Das Wunder, das Sie bewirkt haben, soll Ihnen der liebe Gott vergelten, Sie Engel!« sagte er fröhlich zu Vicky. »Wer könnte aber auch einer so hübschen Zauberin widerstehen?« Das war die ganze Anerkennung, die er Vickys Intervention zollte. Statt dessen schilderte er seine Zukunft in leuchtenden Farben. Er versprach, umgehend zu schreiben und von seinen Triumphen zu berichten. Dann küßte er die beiden Freundinnen und empfahl sich.

»O je«, sagte Lucy, als er gegangen war, »er ist und bleibt ein verantwortungsloser Nichtsnutz. Es kümmert ihn nicht im geringsten, daß Jack soviel Geld hergegeben hat, um seine Schulden und seine Überfahrt zu bezahlen.«

»Nein, darüber macht er sich keine Gedanken. Er meint, die Welt gehörte ihm. Ich glaube, er weiß gar nicht, was Dankbarkeit ist«, erwiderte Vicky verstimmt.

»Weißt du was? Jetzt gehen wir schlafen«, schlug Lucy vor. »Morgen früh wird’s uns beiden wieder besser gehen.«

Dieses Wort »beide« machte Vicky aufmerksam. Egoistisch wie sie war, hatte sie doch nur an ihre eigenen Kümmernisse gedacht! Dabei wußte sie schon längst, daß Lucy sich im stillen grämte. Da war die Gelegenheit also günstig, und sie entgegnete schnell: »Uns beiden? Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen. Ich war dumm, aber das bin ich immer gewesen und werde es wohl für immer bleiben. Aber du, Lucy, was ist mit dir? Komm, schau nicht weg! Wir haben einander doch stets alles erzählt. Ich habe meine Gefühle für James Seymour nicht verheimlicht. Du weißt ja, daß ich mir eingebildet habe, es gäbe eine Bindung zwischen ihm und mir. Jetzt bist du dran. Heraus mit der Sprache! Laß mich nicht länger im ungewissen.«

Lucy zögerte. Sie neigte nicht zu Herzensergüssen. Doch in letzter Zeit war sie mit sich selbst uneins; sie ärgerte sich über diese nutzlosen Selbstvorwürfe. Es wäre vielleicht besser, sich einmal alles von der Seele zu reden, um so etwas mehr Distanz zu gewinnen und gleichzeitig Vicky von ihrem Kummer abzulenken.

»Es ist eine alberne Geschichte. Ich habe nicht deshalb geschwiegen, weil ich dich nicht einweihen wollte. Vielmehr hoffte ich, daß ich durch unser neues Leben in einer ganz neuen Umgebung die ganze Sache vergessen würde. Aber das konnte ich nicht. Anscheinend kann ich überhaupt nicht darüber wegkommen.« Dann gab sie sich einen gewaltigen Ruck und erzählte von Gordon Butler, von ihrer Liebe und dem törichten Streit, der alles beendet hatte.

»Bist du davon überzeugt?«

»Felsenfest. Seit jenem Abend habe ich von ihm nichts mehr gehört oder gesehen.«

»Das kann ich einfach nicht verstehen. Irgendwo ist da ein Haken. Kein Mensch, der dich liebhat, kann sich so von dir trennen.«

»Er anscheinend doch. Du siehst daraus, daß du nicht die einzige bist, die Dummheiten macht und sie später bereut. Wir sind halt zwei schwache Weiber und sollten uns samt unseren gebrochenen Herzen schlafen legen.« Sie versuchte zu lachen.

Vicky schwieg. Sie stellte keine bohrenden Fragen, dafür war Lucy sehr dankbar. Sie schimpfte nicht auf Gordon; sie behauptete nicht, daß er Lucys nicht wert sei; sie machte keine phantastischen Vorschläge, was man vielleicht unternehmen könnte, keine Pläne wie sie ihr früher eingefallen wären. Die neue Vicky war ein richtiger Kamerad, dem man alle seine Sorgen anvertrauen konnte.

Aber als sie dann im Bett lagen, rief sie durch die Wand: »Lucy, findest du es nicht auch abscheulich von James Seymour, so einfach anzunehmen, ich hätte etwas mit Dan gehabt?«

»Man kann es ihm eigentlich nicht verübeln. Du hast ja alles getan, um den armen Kerl auf diesen Verdacht zu bringen.«

»Er hat mir gar keine Zeit für weitere Erklärungen gelassen. Außerdem müßte er mich gut genug kennen, um mir auch etwas gesunden Menschenverstand zuzutrauen. Er ist doch reichlich dumm.«

»Vermutlich ist er ebenso unglücklich.«

Es folgte eine nachdenkliche Pause, dann rief Vicky: »Schläfst du schon? Nein? Gut, ich komme für eine Minute zu dir hinüber. Sonst wecken wir noch Mrs. Kelston auf, wenn wir uns so laut unterhalten.«

Sie machte es sich auf dem Fußende von Lucys Bett bequem. »Lucy, eine Frage: sollte Gordon doch noch einmal auftauchen, würdest du dann stolz und ablehnend sein und ihn wieder fortschicken?«

Mit einem Ruck richtete sich Lucy im Bett auf und sagte entsetzt: »Ihn fortschicken? Ich bin doch nicht verrückt! Mit beiden Händen würde ich ihn packen und festhalten!«

»Gut. Ich freue mich, daß du so denkst. Ich habe mir das gerade überlegt.«

»Wegen James? Nun, ich rate dir — und du weißt ja, daß ich im allgemeinen nur ungern Ratschläge erteile — ich rate dir: Du mußt auch zupacken! Er hat dich lieb, seit Wochen habe ich das bemerkt. Ein Mann wie er ändert nicht von heute auf morgen seine Gefühle. Das tut er auch nicht, sonst hätte ihn die Sache mit Dan nicht so irritiert.«

Vicky seufzte erleichtert und befriedigt auf. »Gut. Ich werde mich daran halten. Ich will nicht zimperlich und schüchtern sein. Irgendwie werde ich ihn schon rumkriegen.«

»So ist’s recht. Ein Mädchen, das sich so zimperlich stellt, ist dumm. Ich war eine richtige Gans. Ich hätte Gordon gleich anrufen oder ihm schreiben sollen. Ich hätte nicht warten dürfen, bis er den ersten Schritt tut. Mach du nicht den gleichen Fehler, Vicky!«

»Nein! Ich will tun, was du sagst: ich werde ihn packen!« Da mußten sie beide lachen.

Doch gleich wurden sie wieder nachdenklich, und Lucy fragte forschend: »Du bist dir doch im klaren über deine Gefühle? Ich meine, daß du gerade solch einen Mann heiraten möchtest. Er ist ein komplizierter Charakter, und das wird er bleiben. Wer mit ihm lebt, ist nicht auf Rosen gebettet.«

»Das weiß ich. Aber wer will denn auf Rosen gebettet sein? Ich ziehe eine Herausforderung vor. Ja, es stimmt, er ist schwierig, viel schwieriger als alle, die ich gekannt habe. Darauf bin ich gefaßt.«

»Und er reizt dich nicht nur deshalb, weil er deine Kräfte herausfordert? Weil er der erste ist, der dir Widerstand leistet?«

Vicky lachte. »Du drückst es sehr delikat aus! Nein, so ist es auch wieder nicht. Er gefiel mir sehr, wenn wir uns gut verstanden, und jetzt, wo alles schiefzugehen scheint, habe ich ihn noch viel lieber. Aber ich mache mir nichts vor. Es könnten Tage kommen, wo das Leben mit ihm höllisch schwer ist. Ich müßte mich noch sehr ändern; ich müßte sehr zuverlässig und seriös werden; und das würde mich sauer ankommen. Aber dafür ist er ein Mensch, auf den man sich verlassen kann. Ich habe schon genug andere Erfahrungen gemacht. Jetzt gibt es nur noch die eine Frage: Wie soll ich ihn zu packen kriegen?«

Abermals mußten sie lachen, dann gingen sie endlich schlafen.

Am nächsten Morgen kam die Ernüchterung. Es ist leicht, zu nächtlicher Stunde, unterstützt von der verständnisvollen Freundin, große Pläne zu schmieden. Aber auch die mutigsten Entschlüsse können nicht zu Taten werden, wenn die Tage vergehen und nichts geschieht. Wie soll man einen Mann kapern, der sich versteckt hält? Wie einen widerstrebenden Verehrer an sich fesseln, der einen vergessen zu haben scheint? Die Tage gingen dahin, und Seymour tauchte nicht wieder auf.

Lucy kämpfte mit einer neuen Depression; sie hatte das Gefühl, durch ihr Geständnis Vicky gegenüber unter die ganze Affäre einen Schlußstrich gezogen zu haben. Sie versuchte sogar, sich für einen anderen jungen Mann zu interessieren, den Architekten des Neubaus in Homesward. Er war neuerdings zur Lunchzeit ständiger Gast in ihrem Tea-Room. Das dunkelhaarige aparte Mädchen mit der ruhigen Stimme und der schlanken Figur gefiel ihm sehr. Sie ließ sich sogar von ihm ins Kino einladen. Aber ihr Interesse verflog rasch, als er äußerte, sie besitze »eine altmodische Anmut, die seiner lieben Mama riesig gefallen würde«.

Vicky ihrerseits ging jeder Ablenkung aus dem Wege, sooft sich ihr die auch anbot. Immer mehr Gäste besuchten das alte Haus unter den schönen Bäumen. Zum erstenmal in ihrem Leben ermutigte sie die jungen Männer nicht zu einem Flirt. »Ich mag mich einfach nicht mit ihnen abgeben«, wunderte sie sich. »Ich verstehe mich selbst nicht mehr.«

Das Geschäft ging immer besser. Viele Leute kamen ganz regelmäßig, um eine Mahlzeit im Frieden der alten Bäume auf dem gepflegten Rasen einzunehmen.

Dan hatte zwei Ansichtspostkarten aus Kanada geschrieben; er war begeistert von diesem Land und verglich das Leben dort mit dem eintönigen Dasein in Neuseeland. Auch der Abschied von Mrs. Kelston rückte heran; die beiden Mädchen bedauerten das keineswegs, obwohl Vicky sich an die Zubereitung ihrer besonderen Speisen gewöhnt und Lucy sich mit den riesigen Spinnweben an den Wänden im Schlafzimmer der alten Dame abgefunden hatte. »Aber keine Wespen!« mahnte sie ihre alte Pensionärin. »Die morden nur Ihre geliebten Spinnen und stechen Vicky und mich. Es werden immer mehr; wir haben vielleicht ein Wespennest im Garten.«

Leider wurde das ein Ansporn für Mrs. Kelston, die ab sofort Stunden damit zubrachte, das Wespennest aufzuspüren. »Wenn sie es findet, werde ich es sofort ausräuchern«, sagte Lucy energisch. »Es ist mir gleich, ob sie darüber zetert oder nicht. Erst gestern lagen zwei Wespen in der Marmelade, die ich für die Gäste hinausgestellt hatte. Ein paarmal habe ich gesehen, wie die Leute sich duckten, als die Biester herumschwirrten. Nichts kann die Besucher schneller vertreiben. Wenn wir uns zwischen dem Tea-Room und Mrs. Kelston entscheiden müssen, wird sie wohl den kürzeren ziehen. Einstweilen sprühe ich jeden Morgen das ganze Haus aus.«

Das war schwierig genug, aber sie nutzte die Zeit, wenn sich Mrs. Kelston im Badezimmer aufhielt. In diesem Falle hielt Vicky eine kleine Notlüge für gerechtfertigt und behauptete, der seltsame Geruch rühre von dem neuen Spülmittel her.

»Wieso gebrauchen Sie das Spülmittel in meinem Schlafzimmer?« fragte die alte Frau argwöhnisch. Vicky beteuerte, man habe es zum Fensterputzen benutzt. Im stillen mußte sie dabei an Seymours Worte denken: »Ich hasse Lügen.« Sie konnte sich nur an ihre Erinnerungen halten, denn für ihn schienen Lucy und sie gestorben.

Eines Morgens sagte Lucy: »Ich habe wieder mal einige Probleme mit der Buchführung; es ist ein rechtes Durcheinander. Eines ist sicher: Die Hypothekenzinsen für Seymour sind fällig. Soll ich nach Homesward fahren und persönlich das Geld abliefern? Das könnte den Kontakt wiederherstellen.«

Vicky überlegte und schüttelte dann zu Lucys Überraschung den Kopf. »Tu’s lieber nicht. Es nutzt nichts, wenn er nicht von selbst kommt. Er muß wohl zuerst all den Blödsinn verdauen.«

»Ich dachte, du wärest entschlossen, ihn zu packen.«

»Das will ich auch, aber wie soll man einen Aal zu packen kriegen! Ich will lieber den richtigen Augenblick abwarten. Ich bin nicht schüchtern oder zaghaft. Ich werde ihn schon herumkriegen. Aber wie soll man einen fangen, der unbedingt entwischen will? Solange er solche Gefühle hegt, wollen wir ihn lieber sich selbst überlassen. Jetzt ist er verschnupft, obwohl er sicher außer sich wäre, wenn ich ihm das vorwürfe. Wenn er sich beruhigt hat, wird ihm klar werden, daß er mir keine Zeit ließ, mich zu verteidigen.«

Also schickte Lucy ihm einen Scheck; er bestätigte schriftlich den Empfang.

In der Tat war sich Seymour, der seine eigenen Schwächen sehr wohl kannte, bewußt, daß er sich kindisch benahm. Aber die alte Wunde von einst war wieder auf gebrochen, und Jacks wohlgemeinte Erklärungen hatten die Schmerzen nicht so schnell vergessen lassen können. Im ersten Augenblick war er erleichtert, daß sich Vicky nicht für Dan interessierte. Doch dann fragte er sich: Warum hat sie mir das nicht selbst gesagt? Warum hat sie mich so zum besten gehalten? Doch nur deshalb, damit sie um so leichter ihren Willen durchsetzen kann. Sie mußte doch fühlen, was sie für mich bedeutete!

Aber sie hatte ihn an der Nase herumgeführt, war dann wohl zu Lucy gelaufen und hatte sich mit ihrer Schläue gebrüstet. Kurzum, es war genauso wie bei Annette: Ein alter Narr ist der größte Narr!

Bei ruhiger Überlegung gab er zu, daß sie ihn nicht angelogen hatte; aber sie hatte sich auch nicht genauer erklärt. So verführerisch hatte sie ausgesehen, als sie da vor ihm stand! Sogar eine Krokodilsträne hatte sie vergossen, die ihn, den Idioten, zutiefst rührte. Am nächsten Tag, als Chisholm ihn über den wahren Sachverhalt aufklärte, hatte er sich nur darüber geärgert, daß er sich hatte täuschen lassen. Das würde ihr nur neuen Stoff für eine lustige Geschichte geben. Solche amüsanten Erzählungen hatte er öfters von ihr gehört. Sein Stolz war verletzt. Es war vielleicht lächerlich — aber er fühlte sich gekränkt.

So grübelte er nachts, wenn er nicht schlafen konnte. In der Klarheit des erwachenden Tages gestand er sich ein, daß er sich wie ein verwöhntes Kind aufführte. Trotzdem blieb er dabei.

Eines Abends meinte Lucy: »Wir benehmen uns so albern wie zwei verlassene Jungfern.«

Vicky wurde ganz wild. »Nicht um alles in der Welt will ich mir um eines Mannes willen graue Haare wachsen lassen. Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst! Komm, wir wollen zu den Chisholms gehen und uns selbstlos an ihrem wiedergefundenen Glück ergötzen!«

Lachend zogen sie los.

Aber Nans kindlicher Stolz auf ihren Mann, der diese Bewunderung wohlgefällig hinnahm, ging ihnen auf die Nerven. Sie waren auch etwas in Unruhe wegen Mrs. Kelston; sie hatte zwar erklärt, sie sei in Gesellschaft der schönen Nachtfalter restlos glücklich; es war aber zu befürchten, daß sie im dunklen Garten umherstreifte oder gar zu der großen Hauptstraße ging, um weitere Insekten aufzuspüren. Sie gingen daher bald wieder nach Hause. Dabei fiel ihnen gar nicht auf, daß nicht weit von der Einfahrt ein Auto parkte. Als sie sich dem Hause näherten, erblickten sie im Zwielicht einen Mann, der auf den Stufen der Veranda hockte. Vicky rief erschrocken: »Du meine Güte, das wird doch nicht Dan sein, der aus Kanada zurück ist?«

Dann gab’s plötzlich ein Durcheinander: Der Mann, der ganz still dasaß, hatte ihre Schritte gehört. Er blickte hoch und wurde gleich sehr aktiv. Er sprang auf, stieß Vicky rücksichtslos zur Seite und packte Lucy gebieterisch bei den Schultern. Vicky versuchte, ihrer Freundin beizustehen: Das mußte wohl so ein gefährlicher Kerl sein, vor denen einsam lebende Mädchen stets gewarnt wurden. Aber wie sollte sie Lucy helfen, wenn diese sich dem Menschen so völlig überließ! Sie versuchte nicht etwa zu fliehen, sondern stürzte sich geradezu in die Arme des Fremden und lehnte sogar ihr Gesicht an seine Schulter! Vicky war fassungslos. Dann hörte sie ein Wort: »Gordon!« und entwich schleunigst ins Haus.

Gordon! Also war Gordon doch noch gekommen! Und Lucy hatte Wort gehalten: sie war ihm einfach um den Hals gefallen! Vicky ließ sich auf dem nächsten Stuhl nieder; sie war überrascht und verwirrt. Nicht ein einziges erklärendes oder entschuldigendes Wort war gewechselt worden! Lucy ist glücklich, dachte sie. Aber was sie kann, kann ich auch. Was hätte es für einen Sinn, da die Gekränkte zu spielen?

Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken. Sie ging auch in Mrs. Kelstons Zimmer und stellte fest, daß die alte Dame schon schlief. Die beiden kamen noch immer nicht. Vicky platzte fast vor Neugier. Warum war Gordon nicht schon früher aufgetaucht? Aber schließlich war er doch gekommen, und das war die Hauptsache. Denn was sollte ein Mädchen tun, wenn der geliebte Mann nicht erschien, wenn er um keine Erklärung bat, ja, wenn er gar nichts tat?

Endlich kamen sie, Hand in Hand, als ob nichts geschehen wäre. Wahrscheinlich hatte Gordon einen besseren Charakter als Seymour.

Aber als sie dann alles wußte, mußte sie zugeben, daß es wirklich nichts zu verzeihen gab als ihre eigene unnötige Ausrede. Gordon schien sie ihr nicht nachzutragen; er lächelte allerdings spöttisch, als Lucy die beiden einander vorstellte. Er sagte: »Das ist also die Unheilstifterin, die zwei Liebende monatelang getrennt hat?«

Das war ja lächerlich! Sie wollte gerade einwenden, daß sie mit alledem nichts zu tun gehabt hätte, daß ja alles schon passiert gewesen wäre, ehe sie Lucy wiederfand, daß es seine, Gordons, eigene Schuld gewesen wäre. Da legte Lucy sich ins Mittel. »Du darfst sie deshalb nicht ärgern! Es war eben eine Kette von Mißverständnissen. Ach, Vicky, jetzt ist alles wieder gut — eigentlich war gar nichts zwischen uns.«

»Aber was... aber wieso... aber warum ist Gordon nicht eher gekommen?«

»Erinnern Sie sich der kläglichen Stimme am Telefon, die nach Miss Avery fragte? Und Sie antworteten klar und deutlich, Miss Avery sei nach England zu ihrer Mutter übersiedelt und jeder weitere Anruf sei überflüssig?«

»Natürlich erinnere ich mich. Aber das war doch der lästige Brent Windro!«

»Du dachtest, es wäre Brent, weil dieser Dummkopf schon so oft angerufen hatte. Aber gerade dieses Mal war er’s nicht. Da war es Gordon, Du kannst nichts dafür, denn du glaubtest, seine Stimme zu erkennen.«

»Na ja, ich hatte ihn ja schon öfters abgewimmelt; dieses Mal kam mir freilich die Stimme angenehmer vor als sonst... In Wirklichkeit waren das immer Sie?«

»Nicht immer. Nur dieses einzige Mal. Aber dafür konnte ich nichts.«

»Erzähl ihr doch die ganze Sache, Gordon.«

»Also, wir hatten uns tüchtig gestritten; ehrlich gesagt, ich war einfach sauer. Aber das dauerte nicht lange. Nur vierundzwanzig Stunden. Trotzdem wollte ich noch einen weiteren Tag warten, um Lucy den ersten Schritt zu überlassen... das war dumm von mir. Dann gab’s eine Panne nach der anderen.«

»Welche Pannen denn? Wieso hielten die Sie vom Schreiben ab?«

»Zunächst bekam unser Chef eine akute Blinddarmentzündung. Er mußte schleunigst ins Krankenhaus. Er hätte aber am nächsten Tag nach Sydney zu einer Besprechung kommen sollen. Von Lucy wissen Sie wohl, daß ich bei einer Erdöl-Gesellschaft beschäftigt bin, die ihre Angestellten ohne lange Vorbereitung mal dahin, mal dorthin schickt. Also mußte ich statt des Chefs nach Sydney.«

»Konnten Sie denn nicht wenigstens telegrafieren?«

»Das hätte ich tun können, und ich habe mich später auch mächtig geärgert, daß ich’s nicht getan hab. Aber ich war vermutlich immer noch ziemlich sauer und dachte mir, so ein paar Tage Warten könnten nichts schaden. Ich war überzeugt, schon ziemlich bald, spätestens innerhalb einer Woche, zurück zu sein.«

»In einer Woche«, sagte Lucy gepreßt. »Mir kam es vor, als hätte es Jahre gedauert.«

»So ging’s mir auch. Dann kam nämlich der nächste Zwischenfall. In der zweiten Nacht wurde mein Taxi von einem betrunkenen Fahrer gerammt. Ich wurde nicht gerade schwer verletzt: einige Rippen und das Fußgelenk waren gebrochen. Aber ich hatte eine saftige Gehirnerschütterung und kam ziemlich lange nicht zur Besinnung. Als ich wieder so weit war, wollte ich gleich heim zu Lucy, um ihr hartes Herz zu erweichen.«

»Aber Lucy hat doch kein hartes Herz!«

»Das weiß ich jetzt auch! Aber damals, als ich wieder zum Leben erwachte, guckte ich täglich nach einem Brief, der mir ihre Verzeihung verkünden würde.«

»Ich habe ja nichts gewußt! Nicht alle Verkehrsunfälle, die in Sydney passieren, stehen in unserer Zeitung.«

»Auch das weiß ich jetzt. Aber ich stellte mir vor, daß du bei meiner Firma nach mir fragen würdest. Es kam kein Brief, also wartete ich auf das Wiedersehen.«

»Und Sie kamen zurück und riefen an, und ich schwindelte Ihnen vor, Lucy sei nach England abgereist... Und sie war so unglücklich!... Anscheinend bringe ich allen Leuten nichts als Unglück! Eins kommt zum andern.«

Beinahe kamen ihr die Tränen, und die beiden gaben sich alle Mühe, sie zu trösten. Jetzt sei ja alles vorbei, meinten sie. Eigentlich hätte es ihnen beiden nichts geschadet, setzte Lucy hinzu; denn auf diese Weise hätten sie einen Denkzettel bekommen.

»Ich auch«, meinte Vicky niedergeschlagen. »In letzter Zeit habe ich viele Lektionen lernen müssen, aber das war die härteste. Ich werde ein Gelübde ablegen, niemals mehr zu schwindeln. Das wird mir nicht schwerfallen, denn immer, wenn es mich doch einmal überkommt, werde ich mir sagen: Denk daran, daß du ums Haar Lucys Glück zerstört hättest.«

Sie mußten über ihren tragischen Ton lachen, und Gordon sagte versöhnlich: »Zum Glück kam es nicht soweit; denn sobald ich konnte, setzte ich alles daran, sie zu finden.«

»Und weshalb gelang Ihnen das nicht? Sie brauchten ja nur zu Mr. Sheldon zu gehen. Er hätte Ihnen gesagt, wo wir sind.«

»Was hätte das für einen Sinn gehabt? Ich war doch der Meinung, sie wäre in England. Ich rief Sheldon zwar an, fragte ihn aber nur nach der Adresse ihrer Mutter. So albern das auch war — ich saß halt immer noch auf dem hohen Roß. Mein Mädchen war nach England gegangen, ohne mir auch nur eine Zeile zu hinterlassen. Ich schrieb trotzdem an die Adresse von Lucys Mutter. Eigentlich war das eine Demütigung; es kostete mich einige Überwindung.«

»Warum hat Lucys Mutter den Brief nicht an sie weitergeschickt?«

»Das verstehe ich auch nicht«, warf Lucy ein. »Aber sie war zu dieser Zeit in Amerika, und der Brief blieb wohl in England liegen. Bei ihrer Rückkehr — na, du weißt ja, wie genial Mutter in solchen Dingen ist! Sie kümmerte sich zuerst einmal gar nicht um all die liegengebliebene Post; dann schrieb sie die Adresse hinten drauf und ließ den Brief aus unerfindlichen Gründen an Gordon zurückgehen.«

»Und als er bei Ihnen eintraf...?«

»Da lief ich schnurstracks zu Mr. Sheldon; er berichtete, was inzwischen geschehen war. Er erzählte, er habe die Kündigung von Miss Avery sehr bedauert; sie habe ihrer kleinen Freundin zuliebe, der sie von Herzen zugetan sei, diese Veränderung auf sich genommen. Diese Freundin habe wohl nicht mehr lange zu leben; das war aus seinen Worten herauszulesen.«

Vicky errötete. »Ach Gott, das hatte ich ganz vergessen! Das ist ja schrecklich!«

Gordon betrachtete sie neugierig. »Es ist doch seltsam, daß ein so nettes Mädchen wie Sie sich so etwas angewöhnen konnte.«

»Jetzt verstehe ich das auch nicht mehr. Aber als ich damit anfing, war ich noch sehr klein.«

»Aber jetzt sind Sie erwachsen, wenn auch nicht besonders groß; es wäre an der Zeit, diese Angewohnheit wieder abzulegen.«

»Das tue ich ja auch. Genau gesagt, ich habe nicht...«

Doch Lucy hatte Gordon schon von dem Ausdruck »genau gesagt« berichtet, und die beiden platzten so laut heraus, daß Vicky ihren Satz nicht beenden konnte.

Es wurde ein vergnügter Abend. Es war typisch für Vicky, daß sie anscheinend ihren eigenen Kummer vergaß und ganz und gar in Lucys Glück aufging. Trotz ihrer Fehler war sie eben ein selbstloser Charakter. Als Lucy das jedoch aussprach, wehrte sie erschrocken ab. »Wie kannst du nur so reden, Lucy, wo ich doch so etwas Dummes gemacht habe und dich fast ins Unglück gebracht hätte. Ich wollte das Richtige tun, aber es war das Falsche. Anscheinend will mir das Rechte nie gelingen.«

Die beiden Mädchen saßen, als Gordon gegangen war, noch in Lucys Zimmer beisammen und plauderten so unbeschwert wie seit langem nicht mehr.

»Da ihr einander nun endlich gefunden habt, werdet ihr wohl bald heiraten?« fragte Vicky.

Sie überlegte sich offensichtlich, was dann aus dem Tea-Room und ihrem gemeinsamen Leben werden würde. Deshalb erwiderte Lucy schnell: »Daran haben wir noch gar nicht gedacht. Das eilt ja nicht.«

Dieser kleine Schwindel hätte von Vicky selbst stammen können; denn in Wahrheit hatte Gordon gesagt: »Jetzt habe ich das Warten satt. Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren. Sieh zu, daß du das Haus und den Tea-Room so bald wie möglich los wirst, und dann wird geheiratet.«

Damit müßten sie noch etwas warten, hatte sie ihm entgegnet. Sie beide seien ja jetzt glücklich, da komme es auf ein paar Wochen oder Monate nicht an. Das ärgerte ihn; am nächsten Tag kam er wieder darauf zurück. Aber Lucy blieb fest.

»Das geht jetzt nicht. Natürlich möchte ich dich auf der Stelle heiraten, aber wir müssen auch an Vicky denken. Gemeinsam mit ihr habe ich das Grundstück gekauft; sie hat noch zusätzlich ihr ganzes Geld hineingesteckt.«

»Dann soll sie es doch übernehmen. Oder wenn das nicht geht, verkauft ihr es eben wieder; dann kriegt ihr beide euer Geld zurück. Es ist ein hübsches altes Haus, und der Tea-Room scheint zu florieren. Du könntest gleich morgen ein Inserat in die Zeitung setzen.«

»Jetzt noch nicht! Bitte, Gordon, sei nicht so ungeduldig! Du mußt mir ein wenig Zeit lassen, damit man sieht, was aus Vicky wird und wie sie zurechtkommt. Sobald ich das weiß, tue ich alles, was du willst.«

»Gut, ich nehme dich beim Wort! Aber was soll denn schon aus ihr werden? Steckt da etwa ein Mann dahinter?«

»Ja.«

»Sie ist eigentlich der Typ, der mit achtzehn heiratet.«

»Du kennst Vicky nicht. Sie hatte immer eine Menge Verehrer, aber sie wollte nur einen heiraten, den sie wirklich liebt. Und den gibt es jetzt.«

»Na also.« Er gab sich einen gewaltigen Ruck. »Wenn du sie im Augenblick absolut nicht allein lassen willst, dann soll sie in Gottes Namen einstweilen bei uns wohnen! Eine Zeitlang soll ’s mir recht sein.«

»Sei nur nicht gar so selbstherrlich«, lächelte sie. »Als ob Vicky das wollte! Sie ist sehr selbständig und unternehmungslustig. Erst gestern abend hat sie mir den Vorschlag gemacht, dich sofort zu heiraten. Aber das mußt du doch einsehen: Wir haben dieses Unternehmen gemeinsam begonnen, und nun...«

»So ein Blödsinn«, schnitt ihr Gordon das Wort ab. Er war fest entschlossen, seine Lucy nicht wieder entwischen zu lassen. »Erst streitest du mit mir und gibst mich auf, dann fängst du ein neues Leben an, das gar nicht zu dir paßt... Was für Leute kommen eigentlich in euren Tea-Room?«

»Sehr nette Leute«, gab Lucy zurück, ihrerseits fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. »Einige sehr gebildete junge Männer haben sogar versucht, mit mir anzubändeln.«

»Und du bist natürlich darauf eingegangen?« fragte er gereizt.

»Hast du eine Ahnung, wozu ein armes, verlassenes Weib fähig ist?« lächelte sie versöhnlich und liebevoll.