8
»Es gibt Augenblicke, wo ich den schwerfälligen James direkt liebhabe«, behauptete Vicky impulsiv. »Seine Gefriertruhe hat uns das Leben gerettet.«
In den ersten beiden Wochen hatten sie nämlich feststellen müssen, daß die Zahl ihrer Gäste von Tag zu Tag gewaltig schwankte. Es gab einen schwarzen Freitag, an dem alle Autos vorbeirauschten; die Fahrer hatten das Wochenende im Kopf, an dem sie in Homesward einkaufen wollten. Nur armselige zehn Leute kamen einzeln in den Tea-Room getröpfelt. Aber an dem darauffolgenden Samstag gab es tüchtig zu tun. Während der morgendlichen Teestunde waren sämtliche Tische besetzt; da kamen noch weitere vier Gruppen, die die unvermeidlichen Pasteten zum Lunch haben wollten, und auch am Nachmittag war wieder alles besetzt.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir das hätten bewältigen können, wenn ich nicht auf Vorrat hätte backen können«, stöhnte Vicky, als sie um fünf Uhr mit den letzten vollen Teebrettern kämpfte. »Wir müßten vor Dankbarkeit vor James auf den Knien liegen.«
Sie brauchten nun auch nicht mehr so früh am Morgen mit der Arbeit zu beginnen. Vieles konnte am Abend vorher erledigt werden. Wenn Gäste erschienen, schoben sie einfach ein paar tiefgefrorene Pasteten in den Ofen, und sie schmeckten wie frisch gebacken. Und ihnen verdarb nichts mehr.
»Und denk nur an das Eis, das dauernd verlangt wird!« setzte Lucy hinzu.
Auf die heimkehrenden Arbeiter konnten sie immer rechnen, nur nicht am Freitagabend; da zog es sie nach Hause zu ihren Frauen. Sie waren großzügige Gäste, die nicht auf Extrageschichten bestanden. »Wir nehmen, was da ist«, sagten sie, und alle waren der gleichen Meinung: daß sie daheim viel liebevoller begrüßt wurden, wenn sie beladen mit Kuchen und Pasteten anlangten...
Es kamen natürlich auch unangenehme Burschen, die Vicky dreiste Komplimente machten, ihren Tee verschütteten und die Kuchenkrümel auf den Fußboden wischten. Aber weder ihre Vertraulichkeiten noch der Schmutz schien sie zu ärgern. Heiter lächelnd wischte sie den Tee auf und wehrte alle Annäherungsversuche ab.
»Es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen«, meinte sie zu Lucy, die solche Gäste nicht gern sah. »Wir wollen doch nicht, daß die Leute sagen: >Geh nicht in den Tea-Room, er wird von zwei kleinlichen Jungfern geführt, die keinen Spaß verstehen.<«
An einem Nachmittag war eine lärmende Gesellschaft bei ihnen eingekehrt, als Seymour vorfuhr. Er kam wie gewöhnlich, um Lucy bei ihren finanziellen Problemen zu helfen; aber in letzter Zeit schweiften seine Augen immer öfter von den Geschäftsbüchern ab. Gerade war Vicky lachend damit beschäftigt, sich einen allzu aufdringlichen Burschen vom Leibe zu halten, als Seymour die Stufen heraufkam.
»Unsinn!« wehrte sie die plumpen Zudringlichkeiten ab. »Natürlich müssen Sie das Wechselgeld annehmen! Wir nehmen kein Trinkgeld.«
»Anscheinend auch keine Küsse«, brummte er. Da stand plötzlich ein großer, furchterregender Mann zwischen ihm und dem hübschen Mädchen. Seymour hatte der überraschten Vicky das Geld aus der Hand genommen und hielt es dem Burschen hin.
»Ich nehme an, es gehört Ihnen«, sagte er streng, und der junge Mann steckte es verschüchtert ein. Aber dann hörte man, wie er seinen Kameraden übermütig zurief: »Donner, das war ein Schlag! Die ist verheiratet! So eine kesse Puppe und heiratet einen Menschenfresser!«
Vicky blickte James Seymour an; er war feuerrot geworden; sie lachte und sagte: »Vielen Dank! Aber er meint es nicht so böse, wissen Sie.«
»Kommen solche Kerle oft?«
»So dann und wann. Aber sie lassen mich ganz kalt, und schließlich ist auch noch Lucy da.«
Er sah den lärmenden, langhaarigen Jünglingen voller Widerwillen nach. »Vertreiben die nicht Ihre anderen Gäste?«
»Ach nein. Man trifft diese jungen Kerle heutzutage ja überall; sie sind im Grunde ganz friedlich. Und warum sollten sie schließlich nicht so komische Anzüge tragen und ihre Haare lang wachsen lassen? Was ist dabei? Es ist eben eine Mode. Eines Tages werden sie sich das von selbst abgewöhnen.«
»Und sich hoffentlich bessere Manieren angewöhnen.«
»Sie wollen gar nichts Böses. Sie versuchen nur mal ihr Glück bei Mädchen, besonders in Lokalen. Es hat nichts zu bedeuten.«
Er sah sie nachdenklich an. »Haben Sie immer und für jedermann eine Entschuldigung bereit?« Dann wollte er offensichtlich das Thema wechseln und wandte sich zu Lucy: »Aber jetzt zu der Abrechnung, Miss Avery.«
Als er gegangen war, meinte Vicky: »Unser guter James war richtig schockiert über diese harmlosen Grünschnäbel. Ich möchte nur wissen, ob er die letzten Jahre auf dem Mond gelebt hat.«
»Vermutlich haben ihn seine eigenen Kümmernisse und Depressionen mit Beschlag belegt. Aber er ist schrecklich nett. Ohne seine Hilfe würde ich mich schwertun.«
»Ja, dich kann er gut leiden«, fand Vicky und begann das letzte Geschirr abzuspülen. Es klang ein wenig pikiert.
Ja, mich kann er gut leiden, dachte Lucy. Aber er ist auf dem besten Wege, sich in dich zu verlieben.
»Gut leiden?« antwortete sie. »Ja, er hält mich für eine vernünftige junge Frau mit guten Umgangsformen und hofft, daß ich auf dich einen heilsamen Einfluß ausübe.«
»Ein Glück, daß Dan noch da ist! Er ist zwar nichts Besonderes, aber er schaut auch nicht so auf mich herab. Ich möchte wohl wissen, was mit ihm los ist. Er scheint sich keine neue Arbeit zu suchen.«
»Vielleicht gelingt ihm das nicht.« Eines Abends war Dan nämlich mit einem großen Pflaster auf der Hand erschienen. Er sah ganz beleidigt aus.
»Was haben Sie denn gemacht?«
»Genau das, was schon die Bibel empfiehlt: Ich habe versucht, mein Brot im Schweiße meines Angesichts zu verdienen. Aber das ist Quatsch. Der Wert der Gartenarbeit wird weit überschätzt.«
»Haben Sie im Garten gearbeitet?«
»Heute schon. Ich muß ja die Pausen zwischen meinen verschiedenen Jobs ausfüllen und gleichzeitig die Sonne genießen. Besonders meine Nase hat was abgekriegt; sie schält sich schon.«
»Wie wär’s mit einer Stellung in einem anderen Büro?« schlug Lucy vor. »Dafür sind Sie doch ausgebildet. Büroarbeit wird auch besser bezahlt und schont die Hände.«
»Sie haben wirklich einen ungeheuer praktischen Verstand! Würden Sie wohl bitte in Betracht ziehen, daß die offenen Stellen nicht so dicht gesät sind?«
Du Spruchbeutel! dachte sie. Es hat Ärger mit dir gegeben, und jetzt will dich niemand einstellen.
Die nächste Überraschung war, daß Dan seinen schicken Wagen verkaufte. Er erschien eines Abends mit einer alten Ratterkiste und erklärte: »Solche Knaller sind jetzt Mode. Diese neuen Super-Wagen sind vulgär. Außerdem kann ein Arbeitsloser sich so was nicht leisten. Im übrigen brauchte ich gerade Geld.«
Als Vicky Lucy davon berichtete, erwiderte diese: »Das überrascht mich gar nicht. Du solltest ihm um Gottes willen nichts borgen, Vicky.«
Vicky war entsetzt. »Von einem Mädchen wird er doch kein Geld ausleihen wollen!«
»Es ist doch seltsam, daß ausgerechnet jetzt auch Nan so dringend Geld braucht und Jack nicht darum bitten kann.«
»Aber er würde doch die arme kleine Nan nicht damit belästigen! Und würde sie wohl um seinetwillen Jack anschwindeln? Glaubst du, daß sie Dan so ergeben ist?«
»Ich weiß nicht, ob sie ihm so ergeben ist, aber sie hat ihn lieb. Sie hängt wohl sehr an ihrer Familie, und Dan gehört schließlich dazu. Außerdem ist sie sehr weich und hat Angst vor ihrem Mann. Sie möchte ihn nicht gern um Geld für Dan bitten.«
Vicky nickte gedankenvoll. Da kam wirklich alles zusammen. Sie hatte Mitleid mit Nan. Sie mochte ihrerseits Dan ganz gut leiden, allerdings mit Einschränkungen. Er war so lustig und charmant und brachte sie oft zum Lachen. »Er ist genau das Gegenteil von James«, fand sie.
Sie spottete zwar über ihn, aber Lucy merkte, daß sie doch ihr mögliches tat, um seine Anerkennung zu gewinnen. Es paßte eigentlich nicht zu Vicky, daß sie sich so intensiv um einen Mann bemühte; sie hatte es ja auch überhaupt nicht nötig. Sie versuchte, ihn aus seiner Zurückhaltung herauszulocken, und er wurde wirklich schon ein wenig aufgeschlossener und liebenswürdiger. Er kam häufiger, kaufte gelegentlich bei ihnen etwas für seine Junggesellen-Mahlzeit ein — trotz ihrer Einwendungen bezahlte er die Sachen auch — und entwickelte sich mehr und mehr »zu einem angenehmen Menschen«, wie Vicky sich ausdrückte.
Im Vertrauen darauf machte sie eines Tages einen Fehler. Als er auf der Veranda stand, sagte er nachdenklich: »Es sieht jetzt beinahe so aus wie früher. Wie gut Sie den Rasen in Ordnung halten!«
Vicky fühlte sich veranlaßt, ihm zu erzählen, daß Dan Ireland die erste schwerste Arbeit getan hätte. Sofort nahm sein Gesicht den früheren strengen Ausdruck an. Sie aber konnte es nicht lassen: sie mußte noch ein bißchen weiterbohren.
»Er war früher bei Ihnen angestellt, nicht wahr? Ich möchte nur wissen, warum er nicht in einem anderen Büro einen Job bekommt. Das wäre doch leichter als Gartenarbeit.«
Er hob nur ein wenig die Schultern. »Gartenarbeiter sind sehr gesucht«, sagte er und nahm kurz angebunden Abschied.
Vicky war empört. »Ich kann den Mann nicht ausstehen, wenn er so überheblich daherredet und mich von oben herab anschaut. Wenn wir nur wüßten, was Dan gemacht hat, vielleicht könnten wir ihm dann helfen. Ich weiß schon, er ist flatterhaft, aber ich kann ihn trotzdem gut leiden.«
»Halte du dich aus der Sache heraus. Nan oder er würden es uns schon erzählen, wenn sie wollten.«
Schon am übernächsten Morgen erfuhren sie die ganze Geschichte. Nan kam zu ihnen und lud sie zu einer Tasse Kaffee ein. »Ich bin heute allein. Jack mußte zur Auktion und kann erst am Nachmittag zurück sein. Kommt doch herüber« — sie duzten sich inzwischen — »und leistet mir ein bißchen Gesellschaft. Ich habe heute nacht genäht, bis mir die Augen zufielen.«
Da sie sonntags ihren Tea-Room erst gegen elf Uhr öffneten, sagten sie zu. Nan sah blaß und müde aus; das Brautkleid lag ausgebreitet auf dem Tisch. Es war beinahe fertig, und Nan war dabei, nach einer verzwickten Vorlage Perlen daraufzunähen. Die Freundinnen waren hell begeistert, und Lucy sagte: »Wie schnell du das geschafft hast! Seit ich das Kleid das letztemal gesehen habe, bist du enorm weit gekommen.«
»Ich hatte Glück, weil Jack zu der Auktion mußte. Es ist so schwierig, weil ich immer nur arbeiten kann, wenn er nicht da ist. Aber ich wußte, daß er eine ganze Nacht ausbleiben würde und vermutlich nicht vor heute nachmittag zurückkommt. Also hab ich die ganze Nacht genäht und bin überhaupt nicht ins Bett gegangen.«
»Die ganze Nacht? Dann ist es ja kein Wunder, daß du so erschöpft aussiehst.«
»Ach, das geht vorüber. Es ist solch eine Erleichterung, daß es bald fertig ist. Solange Dan da war, hat es mir überhaupt nichts ausgemacht. Er blieb bis fast ein Uhr und kochte immer neuen starken Kaffee. Aber als er fort war und es ging so auf drei Uhr, hätte ich’s am liebsten aufgegeben.«
»Schade, daß du das nicht getan hast«, meinte Lucy. »So kannst du doch nicht weitermachen.«
Vicky ging in die Küche. »Zur Abwechslung gieße ich jetzt einen Tee auf. Mir scheint, seit Jack fort ist, hast du nur von Kaffee gelebt. Das Kleid ist ein Traum, aber die Perlen machen noch eine Menge Arbeit.«
»Ich werde dir ein bißchen helfen«, erklärte Lucy. »Ich bin zwar keine Schneiderin, aber ich nähe gern etwas mit der Hand, und Vicky kann den Tee eingießen.« Sie fädelte eine Nadel ein und sagte so sachlich wie möglich: »Eigentlich bist du doch ziemlich töricht. Jack würde dir sofort das Geld geben.«
»Natürlich täte er das«, gab Nan zu und strich sich das blonde Haar aus der Stirn. »Aber ich kann ihn nicht um Geld bitten, um damit Dans Schulden zu bezahlen.«
Lucy entgegnete nichts; sie begann sehr sorgfältig eine Perle nach der anderen anzunähen. Nan fuhr fort: »Weißt du, sie können einander nicht ausstehen. Sie sind zu verschieden. Anfangs hat Dan es wohl versucht, aber jetzt gehen sie sich aus dem Wege. Jack ist überhaupt nicht tolerant, und wenn er von dem Geld erführe, wäre er außer sich. Jetzt ist es auch zu spät, weil ich das Kleid hinter seinem Rücken genäht habe. Auch sonst ist noch einiges geschehen, lauter Kleinkram, aber es kommt alles zusammen.«
Lucy fragte nicht weiter, und sie schwiegen, bis Vicky mit dem Tee erschien. Da konnte Nan sich nicht mehr halten. »Ich muß es euch erzählen. Daheim haben wir uns immer alles erzählt, und hier habe ich niemanden als euch. Ihr könnt Dan auch gut leiden und werdet nicht so streng über ihn urteilen.«
Vicky platzte schier vor Neugier, aber sie überwand sich und sagte: »Erzähl’s uns nur, wenn’s dich zu sehr bedrückt, Nan. Nicht, daß es dir später leid tut.«
»Ach, ich werde noch verrückt, wenn ich mich nicht aussprechen kann. Das ist wahrscheinlich der Katzenjammer von heute nacht... Dan ist in einer schrecklichen Klemme. Er hat etwas Dummes gemacht, schlimmer noch, etwas Unehrenhaftes. Natürlich hat er es nicht von dieser Seite gesehen. Jack würde ihm das niemals abnehmen, aber ihr denkt hoffentlich anders: Es kommt daher, daß Dan nie weiterdenkt. Es war immer dasselbe. Schon als wir noch zur Schule gingen, mußte ich oft meine Sparbüchse ausleeren, damit ich das Geld zurückzahlen konnte, das er von einem anderen Jungen geliehen hatte.«
Lucy dachte: Und dir hat er das Geld nie zurückgegeben... Jetzt kommt’s raus... Vermutlich hat er Geld aus der Kasse genommen... arme Nan.
Vicky schenkte Nan eine Tasse Tee ein und sagte tröstend: »Sicherlich wollte er es nicht stehlen... Komm, trink deinen Tee... Du siehst aus, als ob dir etwas Heißes im Magen gut täte.«
Geistesabwesend nahm Nan einige Schlucke und redete weiter: »Ich war die einzige, an die er sich wandte, wenn er in der Patsche war. Die anderen waren strenger, so wie Jack. Ich fand diese Dummheiten auch schrecklich, aber ich hatte mehr Verständnis für ihn, und so hielt ich zu ihm. Und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.«
Zwei dicke Tränen liefen über ihr müdes Gesicht, aber sie erzählte immer weiter. »Er — na ja — er borgte sich das Geld eines Klienten aus, und jetzt muß er’s ganz schnell zurückzahlen. Jetzt wißt ihr, warum ich nicht mit Jack reden kann. Wenn er Dan nur besser leiden könnte, wäre alles anders... Aber all das hat das Verhältnis zwischen Jack und mir so schwierig gemacht. Irgend etwas muß er wohl ahnen; denn abgesehen von der Schneiderei habe ich versucht, soviel wie möglich vorn Haushaltsgeld zu sparen. Ich habe die Eier an den Großhändler verkauft; ich habe niemals bei euch Kuchen gekauft, obgleich das Jack immer so gern wollte; Obst und Austern und Schinken habe ich nicht mehr auf den Tisch gebracht. Jack hat das natürlich gemerkt; vor kurzem fragte er, ob ich zuwenig Haushaltsgeld von ihm bekäme. Das mußte ich verneinen, denn früher habe ich immer gesagt, daß ich gar nicht soviel brauchte. Ein paarmal sagte er so ungefähr, ich würde immer geiziger... Es klingt alles so albern: ein Mann möchte Schinken zum Frühstück haben, aber er bekommt keinen!« Sie brach in ein hysterisches Lachen aus.
»Ich finde das nicht albern«, meinte Vicky bestimmt. »Schinken kann schon eine Verstimmung in einer Ehe hervorrufen.«
Über diese Bemerkung mußte Nan lächeln.
»Jetzt ist mir schon viel leichter, weil ich euch alles erzählt habe. Man vermißt seine Familie doch sehr, wenn etwas schiefgeht; wenn keiner da ist, der einen aufmuntert oder zu einem sagt: Reg dich nicht so auf! Natürlich wollte Dan keinen Diebstahl begehen; er war ja überzeugt, daß er das Geld zurückgeben könnte.«
Die übliche Geschichte, dachte Lucy. Er hat das Geld beim Pferderennen gesetzt, oder es für eine Frau gebraucht. Sie machte sich keine großen Illusionen über Dan Ireland.
Das Rennen war Schuld gewesen. Er hatte, wie Nan sagte, eine Schwäche für Rennwetten. Auf der Bank hatte er sein Konto überzogen; man hatte ihn dort schon verwarnt. Sein Wagen war auch noch nicht abgezahlt, und dann waren da auch noch andere Schulden.
»Er war fest überzeugt, daß dieses verdammte Pferd gewinnen würde. Er wollte das Geld nur über das Wochenende haben. Aber das Pferd kam auf den fünften Platz, und nun schuldet er der Firma eine Menge Geld.« Sie nannte eine Summe, die die Mädchen tief erschreckte.
»Aber er hat doch sein Auto verkauft; das muß ihm doch eine Menge eingebracht haben?«
»Er mußte erst den restlichen Kaufpreis bezahlen, und was übrigblieb, bekam die Bank. Mr. Seymour hat gemerkt, daß das Geld fehlte; es gab einen furchtbaren Krach, und er entließ Dan fristlos.«
»Aber er hat ihn doch nicht etwa angezeigt?« Vickys Stimme klang erregt. James Seymour konnte doch unmöglich so hart vergehen!
»Nicht gleich.«
»Heißt das, daß er ihn doch noch anzeigen wird?«
Nan kamen schon wieder die Tränen. Lucy schob ihr energisch die Tasse hinüber. »Jetzt trink erst einmal, ehe du weiterredest! Und ich mach dir jetzt ein großes Butterbrot. Ich glaube, du hast dir nicht einmal Zeit zum Essen genommen. Wozu soll das bloß gut sein?«
»Jack würde denken, ich wäre zu geizig«, erwiderte sie mit schwachem Lächeln. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, wenn er seinen Teller wegschiebt und sagt: >Müssen wir eigentlich von solchen Brocken leben?<« Sie trank einen Schluck Tee und fuhr fort: »Mr. Seymour hat ihm eine Frist gesetzt. Bis dahin soll er das Geld auftreiben und zurückzahlen. Wenn er das nicht tut, wird er die Sache der Polizei übergeben. Nun ist die Zeit schon zur Hälfte verstrichen, und wir haben noch längst nicht das Geld beisammen. Deshalb habe ich die Näherei übernommen und spare wie verrückt.«
Vicky war voller Eifer. »Warum leihst du das Geld nicht von mir? Ich habe welches auf der Bank, da ist es doch zu nichts nütze. Es passiert einfach nichts damit.«
Lucy blickte von dem Butterbrot auf, das sie gerade strich, und stimmte zu. »Ja, Nan, leih dir das Geld von uns. Nach dem Hauskauf hatten wir beide noch Geld übrig; denn Vicky hatte damals gerade ihres Vaters Haus verkauft. Nimm du es jetzt und mach dir keinen Kummer mehr.«
»Lucy, gib mir noch ein bißchen Tee!« bat Nan. »Das Butterbrot schmeckt köstlich. Ich wußte nicht, daß ich solchen Hunger hatte... Es ist schrecklich lieb von euch, aber ich kann das unmöglich annehmen. Abgesehen von allem anderen — wenn Jack das wüßte, würde er mir nie verzeihen.«
»Aber er braucht es ja nicht zu wissen! Wir könnten ihm irgend etwas erzählen«, begann Vicky, aber Nan schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihn nie angelogen. Ich habe ihm manches verheimlicht, aber Lügen ist noch etwas anderes. Jack wäre außer sich, wenn ich hinter seinem Rücken von euch Geld borgte. Es wäre auch nicht anständig. Ich muß halt sehen, wie ich’s zusammenbringe, und Dan tut ebenfalls, was er kann — jeden Tag macht er Gartenarbeit, und er gibt keinen Pfennig umsonst aus. Mr. Seymour muß die Frist verlängern; es wäre sonst zu grausam.«
»Das glaube ich auch«, stimmte Vicky eifrig zu. »Er ist nicht so hart, wie es den Anschein hat. Er hat ein gutes Herz und ist großzügig. Er macht zwar einen unfreundlichen Eindruck, ist es aber nicht. Dan sollte zu ihm hingehen und ihn um Verlängerung der Rückzahlungsfrist bitten.«
Doch Lucy war nicht so überzeugt. Das Geld einer Firma zu »borgen« war ein schweres Vergehen. Seymour war schon großzügig genug gewesen, als er Dan diese Frist eingeräumt hatte. Bei ihrer früheren Firma Sheldon & Cox hätte man das nicht getan.
»Mr. Seymour hat natürlich die Summe vorgestreckt; er ist sehr wohlhabend«, meinte Nan.
Lucy mochte nicht darüber streiten; sie sagte nur: »Es steht mir zwar nicht zu, dir einen Rat zu geben, Nan. Aber wenn du das Geld nicht von uns nehmen willst, solltest du dich doch entschließen, Jack darum zu bitten. Es würde ihn tief verletzen, wenn er wüßte, daß du uns davon erzählt hast und ihm nicht. Und wenn du ihm erzählst, daß du die ganze Nacht gearbeitet hast, um Geld zu verdienen, würde er es dir gern geben.«
»Nein, gewiß nicht gern. Wenn es für jemanden anders wäre, vielleicht; aber nicht für Dan. Es gäbe einen fürchterlichen Krach, und ich kann Krach nicht ertragen, seit Vater uns immer so angebrüllt hat. Ich bin unter Zank und Streit aufgewachsen; seitdem erstarre ich, wenn ich in eine Auseinandersetzung verwickelt werde. Nein, ich erzähle ihm nichts, solange ich es vermeiden kann. Aber ich werde Dan zu Mr. Seymour schicken, damit er ihn um Verlängerung bittet. Es geht ihm zwar gegen den Strich, wenn er ihn um etwas bitten soll, aber...«
Es geht ihm gegen den Strich? dachte Lucy. Es wird ihm wohl nichts anderes übrigbleiben.
In diesem Augenblick rief Vicky, die am Fenster stand: »Du meine Güte, da kommt Jack! Er kommt gerade durchs Tor!«
Plötzlich war alles ein wildes Durcheinander. Mit einem verzweifelten Klagelaut raffte Nan das Laken, auf dem das Kleid ausgebreitet lag, an den vier Zipfeln zusammen. »Schnell, schnell, alles ins Gästezimmer! O jeh, jetzt hab ich Perlen fallen lassen. Laßt sie nur liegen! Er wird es nicht merken.«
Vicky mußte zwar kichern über dieses aufregende Drama, aber sie und Lucy rafften schnell alle Fetzen zusammen, und als Jack eintrat, war von dem Brautkleid keine Spur mehr zu entdecken.
Er war sichtlich enttäuscht, daß seine Frau nicht allein war. Er hatte sich mit der Heimfahrt sehr beeilt, in der Hoffnung, daß die kurze Trennung allen Kummer ausgelöscht hätte. Aber er war so höflich und freundlich wie stets und erkundigte sich interessiert nach dem Geschäft. »Du siehst müde aus«, sagte er zu Nan. »Hast du schlecht geschlafen, oder haben dir die jungen Damen Gesellschaft geleistet? Du hast dich doch nicht etwa gefürchtet?«
Es lag etwas Forschendes in seiner Frage, und Nan zögerte ein wenig mit der Antwort. Dann nahm sie sich zusammen. »Gefürchtet? Nein. Es war nur ein bißchen einsam, aber Dan ist gekommen und hat mir Gesellschaft geleistet, bis es ziemlich spät war.«
»Also warst du gut aufgehoben«, versetzte er mit seltsamer Betonung, und Vicky fiel rasch ein: »Zu uns kommt er auch oft abends. Er hat sonst wenig Zeit, weil er den ganzen Tag über Gartenarbeiten macht.«
»Eine völlig neue Vorliebe von ihm«, meinte Jack trocken. »Wozu überhaupt dieser Wechsel? Warum hat er bei Seymour gekündigt? Nan weiß es vielleicht, aber mir hat es keiner erzählt.«
Alle schwiegen bedrückt, dann hatte Vicky, wie Lucy gefürchtet hatte, eine ihrer Ausreden zur Hand.
»Genau gesagt, war das eigentlich sehr nett von ihm«, plapperte sie los. »Wissen Sie, der vorherige Inhaber dieser Stellung war krank geworden und wollte nun wieder eintreten. Und da er im Krieg Soldat gewesen war...«
Nan starrte Vichy erschrocken an; sie wollte anscheinend etwas sagen, hielt dann aber doch lieber den Mund. Lucy seufzte; sie warf Vicky einen verzweifelten Blick zu, freilich ohne den geringsten Erfolg. »Der Mann hatte fünf Kinder. Er hatte sich im Feld besonders ausgezeichnet. Also hat Dan gefunden, er müsse seinen Job wieder haben.«
Sie holte tief Atem und blickte schuldbewußt von einem zum andern.
»Das war sehr edel«, bemerkte Jack, und alle wußten, daß er kein Wort glaubte. Er erhob sich und ging in die Küche, um seine mitgebrachten Pakete abzulegen.
»Ein bißchen Obst«, sagte er über die Schulter, zu Nan gewandt, »und ein paar Kleinigkeiten, unter anderem Austern in der Dose.« Gleich darauf rief er: »Ich bin auf etwas getreten; es hat geknackt. Es muß eine Perle gewesen sein. Tut mir leid! Sie war so winzig. Wem gehörte sie?«
Er sah alle der Reihe nach an; keines der Mädchen trug einen Schmuck, von dem die Perle stammen konnte. Peinliches Schweigen. Nan war sichtlich erschrocken; eine tiefe Röte überzog ihr blasses Gesicht. Vicky begann zu kichern, und Lucy ahnte schon, daß ihr wieder etwas Neues eingefallen war.
»Ach, das war sicher so eine kleine Perle, wie man sie manchmal in Austern findet! Ich habe sie heute morgen in die Tasche gesteckt, aber Lucy meinte, daß sie nichts tauge, nicht wahr, Lucy?«
In dem Bewußtsein, daß das eine recht alberne Geschichte sei, blickte sie Lucy flehend an. Dieses eine Mal würde sie ihr doch beistehen? Lucy sagte zuerst gar nichts; dann zuckte sie die Schultern. »Jack hat ja selbst gesehen, daß sie nichts wert war. Aber wir müssen jetzt endlich gehen.«
Auf dem Heimweg machte sie ihrem Ärger Luft. »Meiner Lebtage hab ich nicht solchen Unsinn gehört! Laß mich gefälligst bei solchen Sachen aus dem Spiel! Mit deinen Schwindeleien mag ich nichts zu tun haben.«
»Ach, ich mußte doch irgend etwas sagen! Aber es klang wohl ziemlich absurd.« Sie lachte, aber Lucy blieb ernst. »Hast du denn völlig den Verstand verloren? Merkst du nicht, daß du Nan in eine schwierige Lage gebracht hast? Sie wollte dich nicht Lügen strafen und hat infolgedessen praktisch auch gelogen. Mir macht’s nicht soviel aus, obwohl ich es hasse, in solche törichten Flunkereien verwickelt zu werden. Aber für Nan ist’s peinlich. Jack ist kein Dummkopf; er glaubt kein Wort von alledem; aber er fühlt, daß wir ein Geheimnis vor ihm haben, und das mag kein Mann leiden.«
»Ach, Lucy, du machst gleich ein Drama draus! Es war ja nur ein dummer Scherz, und eigentlich ist Jack selber schuld, weil er von Austern geredet hat. Das brachte mich erst auf diese Idee.«
»Es ist nie festzustellen, was dich auf solche Ideen bringt. Das ist doch wahrhaftig kein Grund, so eine alberne Geschichte zu erzählen, nur weil der arme Kerl Austern mitgebracht hat!«
»Ich weiß schon. Ich wollte, ich hätte es nicht getan. Aber Dan hat auch schuld. Seinetwegen gibt es ja den ganzen Wirbel. Ich glaube wirklich, Nan sollte Jack die ganze Wahrheit gestehen.«
»Du bist gerade die Richtige, jemanden zur Wahrheit anzuhalten.«
Überraschend begehrte Vicky auf. »Einen Mann, den ich liebe, würde ich nie anschwindeln, am wenigsten meinen Ehemann. Aber es tut mir leid, daß ich mich so dumm benommen habe. Irgendwie muß ich das wiedergutmachen.«
»Fang nur nicht damit an! Laß den Dingen jetzt ihren Lauf! Du hast schon genug Dummheiten angestellt.«
»Du siehst gräßlich selbstgefällig aus, wenn du so daherredest! Ich muß die Geschichte doch in Ordnung bringen. Ich weiß schon, was ich mache: wenn Seymour die Frist nicht verlängert, gehe ich zu ihm und gebe ihm das Geld, oder wenigstens einen Teil davon.«
Lucy war entsetzt. »Das wirst du doch hoffentlich nicht tun!«
»Ich weiß schon, er würde es nicht annehmen. Aber es könnte ihn dahin bringen, Dan noch eine Galgenfrist zu geben. Ich könnte ihm alles über Nan erzählen; ich glaube nicht, daß er dann noch ablehnen würde. Allmählich fängt er nämlich an, mich auch ein bißchen gern zu haben.«
Das fand Lucy ebenfalls, und gerade deshalb sagte sie nachdrücklich: »Das ist wirklich ein total verrückter Einfall! Das Ganze geht dich doch gar nichts an. Wenn du dich da einmischst, gibt es für alle nur noch mehr Aufregung.« Und im stillen setzte sie hinzu: Ganz besonders für dich selbst; denn ich glaube wirklich, du liebst diesen Mann, so merkwürdig das auch ist.
»Aber was kann es denn schon schaden?«
»Das wirst du schon merken. Du hast heute genug verpatzt. Halte dich aus der Sache raus. Was für ein Einfall, zu Seymour zu gehen! Das würde ihn sehr ärgern, und du weißt selbst, wie unfreundlich er sein kann.«
»Aber warum nur? Er weiß ja, daß wir mit Dan befreundet sind.«
»Aber doch nicht so, daß wir ihm seine Schulden bezahlen. Das tut ein Mädchen nur, wenn sie einen Mann liebt, oder für ihren Bruder oder ihren Vetter.«
»Lieben? Dan Ireland lieben? Jetzt redest du Unsinn. Seymour ist doch ein verständiger Mann. Er kann unmöglich glauben, ich sei in Dan verliebt. Auf alle Fälle werde ich ihm erklären, daß ich es für Nan tue. Ich bin überzeugt, daß er deshalb die Frist noch etwas verlängern wird. Du hast bestimmt recht, er ist nicht so hartherzig, wie er manchmal tut.«
Doch Lucy gab nicht nach. Das wäre wirklich ein Spiel mit dem Feuer. Mit großem Ernst sagte sie: »Vicky, tu’s nicht! Unwillkürlich kommst du wieder ins Schwindeln, und das würde dir Seymour nie verzeihen.«
»Ihn würde ich nie anschwindeln!« erwiderte Vicky hitzig. Auf einmal merkte sie, daß sie zuviel gesagt hatte, und lachte. »Du ahnst nicht, wie sehr ich mich gebessert habe. Ich wollte Nan beistehen, weil sie so erschrocken aussah. Aber sonst sage ich nie mehr zum Spaß die Unwahrheit. Nur wenn es unbedingt nötig ist.«
»Es ist niemals unbedingt nötig, wenn es dich selbst angeht«, sagte Lucy energisch und beendete die Debatte.