1
Lucy Every war niedergeschlagen. Es war ein trüber Tag, und die Straßen der großen Stadt sahen grau und langweilig aus. Die meisten Leute bieten einen höchst unerfreulichen Anblick, dachte sie. Bis auf dieses Mädchen da. Die ist reizend. Sie erinnert mich an...
Dann blieb sie so plötzlich stehen, daß der Mann hinter ihr auf sie prallte. Er entschuldigte sich brummend. Lucy hörte ihn gar nicht. Sie hielt die Hände des hübschen Mädchens fest. »Vicky! Wie ist das möglich? ... Oh, Vicky!« rief sie, fast zu stürmisch für sie, die sie sonst eine sehr ruhige und beherrschte junge Frau war.
Vickys große schöne Augen strahlten; sie hatte sich nicht verändert. Sie war so bezaubernd wie eh und je. Es war zu schön, daß sie wieder in Neuseeland war. »Ach, Lucy!« rief sie fröhlich. »Seit ewigen Zeiten...«
Aber ihre Freundin erwiderte streng: »Genau vor zwei Jahren bist du fortgefahren, und in den letzten drei Monaten hast du nur Postkarten geschrieben. Weshalb bist du eigentlich nicht mehr in Melbourne?«
»Ach, das war eine schreckliche Zeit. Ich hatte es einfach satt. Das war auch der Grund, weshalb ich nicht mehr geschrieben habe. Es gab überhaupt nichts Nettes zu berichten.«
»Seit wann bist du zurück?«
»Seit zehn Tagen.«
»Du bist seit zehn Tagen hier und hast mich noch nicht einmal angerufen?«
Lucy war empört, aber dann bemerkte sie, daß Vickys Kleid ziemlich abgetragen war, daß ihre Schuhe alt und ihre Stoff-Handschuhe durchgescheuert waren. Dabei hatte Vicky für schöne Kleider immer sehr viel übrig gehabt! »Ich bin auf dem Heimweg«, fuhr sie fort. »Komm, setzen wir uns noch ein bißchen in diese Teestube!«
Sie nahmen an einem Tisch in einer ruhigen Ecke Platz. Dann begann Lucy Vicky auszufragen, mit einer Offenheit, die sich aus ihrer Schulfreundschaft und dem noch innigeren Verhältnis der folgenden zwei Jahre ergab.
»Jetzt erzähl mir alles. Warum hast du mich nicht gleich nach deiner Ankunft angerufen?«
Vicky machte große und ungeheuer treuherzige Augen. Aber Lucy kannte diesen Blick, und als Vicky begann: »Na ja, genau gesagt...«, schnitt sie ihr das Wort ab. »Hör auf damit! Mit >genau gesagt< hast du immer angefangen zu lügen. Ich sehe, du hast dich nicht verändert. Ich will die Wahrheit wissen.«
Vicky lachte ungeniert. »Lügen! Was für ein häßliches Wort! Ich erzähle keine richtigen Lügen. Nur kleine, harmlose Ausflüchte.«
Das war die schwache Seite dieses reizenden Mädchens. Ihr übermäßig weiches Herz machte sie unfähig, die Gefühle anderer Menschen zu verletzen. Hinzu kam ihre unglückselige Neigung zur Romantik. Lucy hatte das schon durchschaut, als sie erst vierzehn waren, und offensichtlich hatte sich in den verflossenen acht Jahren nichts geändert. »Also bitte: Keine Geständnisse, die mit >genau gesagt< beginnen.« Lucy seufzte. Sie war ein nüchterner Mensch, und Vickys zartbesaitetes Gemüt machte die Sache manchmal schwierig. Wenn die Wahrheit unangenehm war, mußte man sie ihr geradezu abringen. Damit begann Lucy nun.
Nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte, ermunterte sie Vicky: »Jetzt fang am Anfang an. Warum hattest du Melbourne satt? In deinen Briefen hast du nichts davon berichtet.«
»Ich wollte nicht klagen.«
Lucys Ausdruck gab zu verstehen: Wann haben wir jemals etwas voreinander verborgen? Aber laut fragte sie bloß: »Hattest du denn Streit mit deiner Tante und deinem Onkel?«
»Sie konnten mich nicht leiden. Sie waren so entsetzlich trocken, Lucy. Sie hatten nicht das geringste Verständnis für mich und besaßen keinen Funken Humor. Sie hatten eine schreckliche Art, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, schon in den frühen Morgenstunden. Du weißt, wie fad solche Leute sind.«
»Jedenfalls hat das nicht zu dir gepaßt.«
»Es waren lächerliche Kleinigkeiten. Zum Beispiel: >Wer hat den wertvollen Strauch abgebrochen?< Nun, ich hatte natürlich gesehen, wie der Zeitungsjunge ihn abgeknickt hatte, aber warum sollte ich ihn in Ungelegenheiten bringen? Also erklärte ich, es müßte wohl ein streunender Hund gewesen sein. Doch am nächsten Tag kam die Nachbarin und sagte, der Zeitungsjunge wär’s gewesen, und ich hätte ihn beobachtet. Dann waren da zwei reife Pfirsiche — weshalb sollte ich das kleine Mädchen anschwärzen, die sie geklaut hatte? Sie hatte solchen Appetit darauf gehabt! Natürlich sagte ich, ich hätte gesehen, wie die Vögel sie gefressen hätten. Ich konnte doch nicht ahnen, daß die Mutter der Göre sie herschicken würde, um alles zu gestehen. Solche Vorfälle gab’s in Massen.«
Lucy lachte. »Du hast dich wirklich nicht verändert!« Gleichzeitig wußte sie: Sie war froh, daß Vicky die alte geblieben war, trotz ihrer komischen Vorstellungen vom Wert der Wahrheit.
»Naja. Was für einen Vorteil hat denn die Wahrheit, wenn sie die Menschen nur in Schwierigkeiten bringt? Außerdem ist es doch ganz lustig, wenn man in einer plötzlichen Eingebung einen netten kleinen Schwindel erfindet. Aber Tante Ellen dachte anders darüber. Es war eine elende Zeit!«
»Aber hast du denn nicht irgendeine Schule besucht? Das war doch der eigentliche Anlaß, daß sie dich eingeladen haben!«
Vicky besaß flinke und geschickte Hände und einen ausgezeichneten Verstand.
»Das wollte ich ja auch. Ich fing dies und das an, aber ich kam nirgends zu einem Abschluß. Immer wieder wurde meine Tante krank und brauchte mich. Ich glaube freilich, der wahre Grund war der, daß sie in Aufregung waren wegen eines albernen Mannes.«
Das glaubte Lucy auch. Vicky war immer von albernen Männern umschwirrt gewesen. »Dann hast du eigentlich überhaupt nicht gearbeitet?«
»Nicht für meine Ausbildung; aber sonst hart genug. Meine Tante spielt gern die Leidende, und sie kann nie eine Hilfe finden. So war ich in erster Linie ihre Krankenschwester und Gesellschafterin. Dann kam die Todesnachricht von Daddy, und das machte alles noch komplizierter. Und niemand wollte mich erlösen.«
Lucy nickte. Sie hatte von Tim O’Briens Tod gehört und wußte, daß das ein harter Schlag für Vicky gewesen war. Als sie sieben gewesen war, war ihre Mutter gestorben, und sie war das einzige Kind. Sie und ihr Vater waren gute Freunde gewesen, und als sie die Schule verlassen hatte, hatte sie ihm den Haushalt versorgt. Tim war ein charmanter Mann, fröhlich, aber unzuverlässig, und als er nach einer langen Party bei einem Autounfall ums Leben kam, wunderte sich niemand. Er hatte immer zuviel getrunken.
»Arme kleine Vicky! Und da hast du dich entschlossen, nach Haus zurückzufahren?«
»Ja, aber es war furchtbar schwierig, dort wegzukommen. Tante Ellen fiel von einer Krise in die andere. Mir blieb nichts übrig, als ein paar Briefe meines hiesigen Rechtsanwalts zu fälschen, des Inhalts, man brauche mich hier dringend, um Vaters Nachlaß zu ordnen. Zum Glück kannte ich einen Mann in einem Anwaltsbüro, und der hat sie für mich getippt. Sie sahen famos aus und taten ihren Dienst. Selbstverständlich gibt es gar keinen Nachlaß. Nur ein Haus, das nicht zu verkaufen ist.«
»Warum hast du nicht einfach gesagt, du möchtest nach Hause?«
»Das hätte sie doch gekränkt, und sie waren überzeugt, mich mit Liebe zu überschütten. Jedenfalls bin ich wieder da, und wir beide sind nicht länger getrennt.«
»Und du bist schon seit zehn Tagen hier und hast mich nicht angerufen?«
Vicky sah schuldbewußt drein. »Ich wollte es gerade tun.«
Aber Lucy wußte, daß das nicht stimmte. Sie wartete wahrscheinlich auf einen guten Job, um sich anständige Kleider zu kaufen. Sie wollte sich Lucy nicht in ihren schäbigen Sachen zeigen und sie merken lassen, daß sie finanziell am Ende war.
Lucy ging nicht weiter darauf ein und fragte: »Was machst du jetzt?«
»Jobs verlieren«, erwiderte Vicky heiter. »Wenigstens habe ich heute morgen einen verloren.«
»Was war das für eine Arbeit, und warum bist du sie losgeworden?«
»Ich habe in einer Bücherei ausgeholfen. Wenig Gehalt, aber sehr viel Spaß. Bloß die erste Bibliothekarin war sehr streng und ernst.«
»Und deshalb hast du nicht weitergemacht?«
»Es gab viel Lärm um nichts. Ich hatte Mitleid mit einer Frau. Sie sah so arm aus, und es ging um ein teueres Buch. Ihr junger Hund hatte den Umschlag angeknabbert, und Mrs. Walsh verlangte, sie sollte ein ganzes Pfund bezahlen. Ich merkte, daß sie einfach nicht so viel hatte, und ich sollte an diesem Nachmittag mein Gehalt bekommen. Ich wollte das Geld dann gleich in die Geldschublade legen.«
»Ich nehme an, du hast gesagt, sie hätte bezahlt?«
»Warum nicht? Aber das blöde Weib zählte das Geld in der Kasse nach, ehe ich das Pfund hineintun konnte. Sie war fuchsteufelswild und faselte etwas von Rechtschaffenheit und so. Ich hasse solche Leute.«
Lucy seufzte. Natürlich hätte Vicky das Geld ersetzt, statt die so dringend benötigten Handschuhe zu kaufen. Und sie hätte irgendeinen kleinen Schwindel erzählt, damit sich niemand aufregte. Deshalb stellte sie nur fest: »Du bist ein Idiot. Aber sie hätte dir eine Chance geben sollen.«
Vicky lachte. »Das tat sie auch. Es war aber schon die zweite. Beim erstenmal hatte es sich nur um wenige Pence gehandelt. Es war ein goldiger alter Herr, der ums Leben gern ein bestimmtes Buch hatte haben wollen; er hatte aber keinen Pfennig Geld dabei. So ein paar Pennys fallen doch bei einer Bücherei nicht ins Gewicht.«
»Es hat wohl keinen Sinn, so wie Miss Walsh zu sagen, das sei eine Frage der Rechtschaffenheit.«
»Dieses blödsinnige Wort! Fang nicht auch du noch damit an, Lucy! Was das Pfund betrifft, so tut’s doch nichts zur Sache, woher es stammt, wenn sie’s nur überhaupt bekommen. Jedenfalls zahlte sie mir mein Gehalt aus, und damit war Schluß.«
»Das kann ich mir denken. Und was nun?«
»Ich denke an Krankenpflege. Ich habe eine Vorliebe für kranke Leute.«
Lucy hatte Bedenken. Was Vicky ihre »netten kleinen Schwindeleien« nannte, konnte in einem Krankenhaus ernste Folgen haben. Außerdem gab es da männliche Patienten, von den jungen Ärzten gar nicht zu reden. Vicky war für Männer stets unwiderstehlich gewesen, und sie war bezaubernder denn je mit ihrem rosigen Teint (das einzige, was sie anscheinend von ihrem Vater geerbt hatte), den grauen Augen mit den schwarzen Wimpern und der aparten Schönheit ihres schmalen Gesichts. Nein, das Krankenhaus war nichts für sie.
»Da steh ich nun mit meinen zweiundzwanzig Jahren«, erklärte Vicky theatralisch. »Ohne Kenntnisse und ohne Anhang.«
Diese letzte Bemerkung überraschte Lucy. In jenen aufregenden Jahren nach der Schulzeit, als die beiden Mädchen dauernd beisammen gewesen waren, hatte es immer einen Schwarm von Männern um Vicky gegeben. Aber sie meinte nur: »Wir werden schon was finden.« Ihr fiel ein, daß bei ihr im Büro das junge Mädchen gekündigt hatte; man würde dort jemanden brauchen, der das Telefon bediente, Aufträge entgegennahm und freundlich zu den Kunden war. Das mochte für den Augenblick das richtige sein.
Vicky hatte ihre Freundin genau beobachtet. Lucy sah müde und ein wenig blaß aus, aber sie wirkte nach wie vor sehr anziehend. Doch irgendwie schien die Schönheit ihrer Freundin, an der sie so hing, zu verblassen. Sie dachte: Sie hat ein gut geschnittenes Gesicht, und das schöne dunkle Haar ist voll und glänzend. Sie besitzt eine tadellose Figur — ein bißchen größer als ich und ganz schlank. Warum ist sie eigentlich nicht so schön wie ihre Mutter? »Wie geht es deiner Mutter?« fragte sie unvermittelt. »Ist sie noch so schön, und sieht sie immer noch wie fünfundzwanzig aus?«
»Bestimmt. Dafür ist ihr nichts zu teuer. Du weißt, daß sie vor drei Monaten wieder geheiratet hat und nach England gezogen ist?«
»Ja, das stand in deinem letzten Brief. Hat sie einen netten Mann?«
»Godfrey Henderson? Sehr nett und sehr reich. Sie fordern mich dauernd auf, hier aufzuhören und sie zu besuchen.«
Daß sie eine solche Reise ernsthaft plante, aber nicht lang bei ihren Eltern bleiben würde, sagte sie nicht. In Gegenwart ihrer Mutter spürte sie immer ein Minderwertigkeitsgefühl. Ihre Mutter war so schön und so erfolgreich! Zur Zeit kam sich Lucy wie ein Versager vor. Aber daran war natürlich Gordon schuld.
Als sie ihren Tee getrunken hatten, blieben sie noch ein bißchen sitzen.
»Daß du momentan keinen Verehrer hast, überrascht mich«, meinte Lucy endlich. »Du hattest doch immer so viele Verehrer, und du bist nun schon zehn Tage da. Das langt doch eigentlich.«
»Wie drollig, daß du das sagst. Ich bin nämlich in der Klemme wegen Alec.«
Also gab es doch ein männliches Wesen. »Was ist mit Alec?«
»Es ist so schwierig. Ich habe schreckliche Angst, ihm zu begegnen.«
»Warum? Ist er so stürmisch?«
»Ach nein, er ist nett, aber ich möchte nicht, daß er erfährt, daß ich noch hier bin. Es war nicht meine Schuld, weißt du. Ich hätte nie gedacht, daß er mir so bald einen Antrag machen würde, und mir fiel so schnell nichts ein.«
»Keine Zeit, um eine gute Lüge zu erfinden? Was hast du ihm denn gesagt?«
»Ich habe ihm erklärt, ich könnte ihn nicht heiraten, weil ich gleich zurück nach Australien müßte. Ich wollte seine Gefühle schonen — und jetzt linse ich um jede Ecke, damit ich ihm nicht begegne.«
»Das paßt zu dir! Weshalb hast du nicht gesagt, daß du ihn nicht heiraten willst?«
»Aber Lucy, das wäre grausam gewesen, und er ist so sensibel! Schimpf nicht! Erzähl mir lieber von dir. Bist du verlobt, oder hast du einen Freund?«
»Weder verlobt noch sonstwas. Ach, die eine oder andere Möglichkeit hätte es schon gegeben. Einer arbeitete in unserm Büro. Kein besonders tüchtiger Mann, er verdiente weniger als ich. Aber er dachte, wenn ich nach der Heirat weiterarbeitete, könnten wir uns ein nettes Haus zusammensparen. Als ich nicht ja sagte, war er eine Woche lang niedergeschlagen. Dann machte er sich an die neue Stenotypistin heran.«
»Das war doch nicht der einzige?«
»In Wirklichkeit waren es drei. Der nächste war ein Witwer mit vier kleinen Kindern. Er sagte, er traute mir zu, ich könnte sie aufziehen.«
»Frechheit! Aber weiter — was war mit dem dritten?«
Doch Lucy konnte nicht einmal Vicky von Gordon erzählen, von der Seligkeit, von der Kameradschaft, von der Aussicht auf eine glückliche Ehe. Schon daran zu denken tat weh. Der plötzliche Streit, der aus einem Nichts heraus entstanden war und sich ins Maßlose ausgewachsen hatte, war so töricht gewesen. Sie hatte ihn bös angefahren, und er hatte sich umgedreht und sie verlassen. Sie konnte nicht von den schlaflosen Nächten erzählen, von den frühen Morgenstunden, als sie gedacht hatte: Heute kommt er bestimmt, und dann werde ich ihm sagen, daß das alles Blödsinn war; daß ich kein Wort ernst gemeint habe; daß es mir gleichgültig ist, ob ich berufstätig bin oder nicht; daß ich zu Hause vollkommen glücklich sein werde, wenn es nur sein Haus ist... Das alles werde ich ihm sagen, wenn er zur Tür hereinkommt.
Aber er war nicht gekommen. Sie hatte ihn nicht gesehen, und sie wußte nicht, was geschehen war. Hatte er den Auftrag erhalten, der ihn womöglich in den Süden rief, oder mied er die Orte, wo sie sich sonst so gern getroffen hatten?
Wie auch immer, es war vorbei, und sie war so unglücklich, daß sie sich in eine oberflächliche Freundschaft mit Brent Windro gestürzt hatte, einem Mann, dem sie stets ausgewichen war und der nun lästig zu werden drohte. Von Brent würde sie Vicky gleich berichten, aber von Gordon konnte sie nicht sprechen. Sie sagte nur: »Das war auch ein Mißgriff. Wir konnten uns nicht vertragen... Aber es wird spät. Wir müssen fort. Wo wohnst du, Vicky?«
»Ach, ich habe vorläufig nur ein Wohn-Schlafzimmer«, antwortete Vicky. »Wenn ich etwas Besseres finde, ziehe ich um. Aber die Mieten sind enorm hoch, findest du nicht auch?«
Lucy merkte, daß sie auswich, und sagte streng: »Wir fahren hin und essen bei dir. Unterwegs kaufe ich ein paar Sachen in einem Delikatessengeschäft. Wir müssen noch soviel bereden, und das können wir besser in deinem Zimmer tun als in einem Restaurant.«
Vicky zögerte, und dann platzte sie heraus: »Ich glaube nicht, daß es dir gefällt. Es ist ziemlich eng.« Und endlich gestand sie auf Lucys drängende Fragen, daß das Wohn-Schlafzimmer nur eine winzige Schlafstelle in einem Logierhaus war. »Das Stadtviertel würde dir auch nicht zusagen, obwohl es genau gesagt riesig interessant ist.«
Lucy lachte. »Dann werden wir halt bei mir essen, und später bringe ich dich heim. Dann kann ich mir die interessante Gegend anschauen. Mutter hat mir ihren kleinen Wagen dagelassen, als sie nach England ging. In der Nacht ist das angenehmer, als mit dem Bus zu fahren.«
Vicky war dankbar für diese Atempause und stimmte zu. Lucy kaufte das Abendbrot ein; sie war so heiter wie seit langem nicht mehr. »Es war richtig öde ohne dich«, sagte sie. »Ein alberner Mann ärgert mich. Aber das erzähle ich dir alles später.«
»Lucy, ich glaube, du bist unglücklich.«
»Unglücklich? Quatsch... Aber das Leben ist ziemlich kompliziert. Ach, es geht mir gut. Ich habe einen guten Job. In demselben Anwaltsbüro, in dem ich angefangen habe. Aber jetzt bin ich die Sekretärin des Chefs. Ich habe es angenehm, und meine Wohnung ist recht nett — dank meiner Mutter, die die Hälfte der Miete zahlt. Ich gehe ins Theater und ins Kino. Alles in Ordnung, aber langweilig.«
Vicky seufzte. Seit einer Ewigkeit war sie nicht im Theater oder im Kino gewesen. In einer jähen Aufwallung ihres Vertrauens sagte sie: »Ich mußte einfach von Australien zurückkommen, Lucy! Ich habe dich ja so vermißt. Ich hätte dich gleich angerufen, aber ich wollte doch warten, bis ich einen guten Job gefunden hätte.«
»Du bist wirklich eine dumme Gans! Nach all den gemeinsamen Jahren!« Ernst fuhr sie fort: »Jetzt sag endlich die Wahrheit. Du wohnst sehr ärmlich, und du hast kein Geld, nicht wahr? Wieviel hast du auf der Bank?«
Vicky nahm diese Frage nicht übel; sie und Lucy hatten niemals Geheimnisse voreinander gehabt. Aber sie wollte natürlich auch nicht die Wahrheit sagen, deshalb antwortete sie obenhin: »Du weißt ja, mit meinen Finanzen habe ich nie viel Geschick gehabt. Ich sollte wahrhaftig ein Bankkonto haben. Aber es geht mir trotzdem ganz gut, wenn ich nur wegen Alec kein so schlechtes Gewissen hätte. Es ist so anstrengend, immer aufpassen zu müssen.«
Lucy dachte: Sie hat keinen Pfennig auf der Bank, aber soviel gelacht wie heute abend habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr. Wenn sie in unser Büro kommt, gefällt es mir dort vielleicht auch wieder besser. »Ich habe den Eindruck, dieser Alec macht dich reichlich nervös«, meinte sie.
»Eigentlich nicht. Er ist schrecklich lieb und sagt dauernd: >Bitte verzeih.< Nicht um alles in der Welt möchte ich ihn kränken; ich weiß genau, er würde mich nicht verstehen.«
»Du meinst wohl, er möchte nicht gern angeschwindelt werden! Vicky, warum mußt du nur immer so etwas machen? Seit ich dich kenne, hast du das getan — und wahrscheinlich vorher auch schon.«
»Ach, schon lange vorher. Es ging los, als ich ungefähr sieben Jahre war; ich dachte immer, das würde ein bißchen Romantik in mein Leben bringen. Aber das stimmte nicht. Es kommt wohl daher, daß ich vor lauter Romantik alles falsch sehe. Wenn ich nur dunkelhaarig und ruhig und tiefgründig wäre, mit langen, glatten, schwarzen Haaren! Blondes Haar ist so gewöhnlich, und meines lockt sich noch dazu, obgleich ich es so lang wachsen lasse. Du bist fein dran, Lucy, mit deinem glänzend schwarzen Haar und deinen großen dunklen Augen. Du siehst fabelhaft aus.«
»Na, das hat mir auch nicht viel geholfen.«
Sie gingen die Straße hinab; da zog plötzlich etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich, im Rinnstein lag ein schmutziges, zerknittertes Stück Papier. Lucy zögerte und wollte stehenbleiben, und im gleichen Augenblick rief Vicky: »Schau, Lucy! Ich glaube, das ist ein Dollar-Schein! Den muß jemand verloren haben.« Rasch hob sie das Papier auf und versuchte es glattzustreichen.
»Wahrhaftig, ein Dollar«, bemerkte Lucy gelassen. Sie beschloß, nicht zu sagen, daß sie ihn ebenfalls gesehen hatte; denn sie fühlte, daß ein Dollar viel für Vicky bedeutete. Aber schon wandte Vicky ein: »Du hast ihn zuerst gesehen. Erst als du stehenbleiben wolltest, habe ich ihn entdeckt. Er gehört dir, außer«, und sie blickte sich aufgeregt um, »außer wir finden den Verlierer.«
»Das ist aussichtslos. Vermutlich war es jemand, der aus der Hotelbar kam. Es hat keinen Zweck, nach ihm zu forschen.«
»Sollen wir ihn auf der Polizei abliefern?«
»Doch nicht einen Dollar. Die würden dich schön auslachen! Wenn es noch eine Zehn-Dollar-Note wäre! Behalte ihn und kauf dir etwas, was du eigentlich nicht brauchst.« Im Grunde meinte sie: Nimm ihn für ein Paar neue Handschuhe.
Vicky drängte ihn ihr auf. »Er gehört dir. Was wirst du damit anfangen?« Ihr gespannter Ton verriet, wieviel Geld ein Dollar für sie war.
»Ich will ihn nicht haben.«
Kurze Zeit stritten sie sich, und jede versuchte, den Schein der anderen in die Tasche zu schieben. Dann meinte Vicky: »Das ist doch albern. Ich weiß, was wir machen. Hier ist ein Kiosk. Wir kaufen zwei Lose für die nächste Lotterie. Wir nehmen sie jetzt gleich... Lucy, an unserm ersten gemeinsamen Tag... Das muß uns doch Glück bringen! Ist das nicht aufregend?«
Lucy hielt nicht viel von der Lotterie und sah auch nichts Aufregendes darin; aber wie immer willigte sie ein, um Vicky eine Freude zu machen. »Also gut«, sagte sie. »Für jeden ein Los?«
»Ach nein, eins zusammen für uns beide. Dann können wir das Geld teilen, wenn wir gewinnen.«
»Wenn... Sag mal, wie viele Lose hast du schon gekauft?«
»Ein einziges. Du siehst, ich bin noch nicht lange hier.«
Und du hattest keinen Dollar übrig! dachte Lucy. Um Vickys Optimismus etwas zu dämpfen, sagte sie: »Eins muß ich dir erzählen: Fünf Jahre lang habe ich jeden Monat ein Los gekauft, und ich habe nicht ein einziges Mal etwas gewonnen.«
»Aber wir kaufen es doch zusammen!« In diesem Wort lag etwas Magisches. »In Australien habe ich immer in der Lotterie gespielt, solange mein Geld reichte. Ich hatte viel Spaß dabei.«
»Und hast du einmal was gewonnen?«
»Eigentlich nicht, aber die Möglichkeit war doch da. Ich dachte mir immer die verrücktesten Sachen aus, was ich mit dem Geld anfangen könnte. Komm, wir wollen den Dollar auf den Kopf hauen!« Sie lief in den kleinen Laden und begann, den Los-Schein auszufüllen. »Bitte zwei... Na, wie sollen wir uns nennen? Wir brauchen einen romantischen Namen, zum Beispiel >Die Wiedervereinten<. Und wenn wir den Haupttreffer ziehen...«
Der alte Mann hinter dem Ladentisch lächelte nachsichtig. Sie war wirklich sehr hübsch und sah ganz so aus, als ob sie mit dem Preis etwas anfangen könnte. Auch ihre Freundin war nett anzuschauen, aber mit der Kleinen nicht zu vergleichen. Die Freundin erklärte ernsthaft: »Nein, wir wollen uns nicht in romantische Träumereien verlieren. Wir wollen bei der Wahrheit bleiben. Wir wollen uns >Das Wahrheitssyndikat< nennen.«
Lachend stimmte Vicky zu.
Der Tabakhändler nahm den Dollar freundlich in Empfang und zeigte volles Verständnis, als Vicky ihm alles über ihren Fund berichtete. »Zurückgeben? Machen Sie sich nur darüber keine Gedanken, Miss. Was ist ein Dollar heutzutage schon wert? Wahrscheinlich hat der frühere Besitzer nicht einmal gemerkt, daß er ihn verloren hat... Ihnen aber wünsche ich viel Glück!« Und sie verabschiedeten sich sehr herzlich.