9
Nach ihrem umfassenden Geständnis schien Nan einen Trost darin zu finden, häufiger in das alte Haus zu kommen, wo sie soviel Anteilnahme erfuhr. Das Brautkleid war fertig; sie hatte das Geld dafür bekommen. Dan war fleißig bei der Gartenarbeit. Dennoch war die Aussicht gering, die volle Summe rechtzeitig aufzutreiben.
»Und Dan fürchtet, Mr. Seymour könnte ungeduldig werden. Er ist so hartherzig.«
Vicky fand diese Auffassung nicht fair. Schließlich hatte Seymour doch die Summe vorgestreckt und noch keine Anzeige erstattet. »Ich glaube nicht, daß er so böse ist, wie Dan tut. Uns gegenüber war er sehr großzügig, und Len und Amy halten ihn auch für einen hochanständigen Menschen.«
»Ich weiß, manche Leute mögen ihn gern, zum Beispiel Jack, der ihn nicht so genau kennt. Er meint, Seymour sei zwar sehr zurückhaltend, er habe aber einen vorzüglichen Ruf. Nur Dan ist nie mit ihm zurechtgekommen.«
Ob Dan überhaupt je mit einem anderen Mann zurechtkam? überlegte Vicky. »Meinst du nicht, es wäre besser, wenn du Jack einfach alles erzähltest? Ihr bringt das Geld doch nicht zusammen. Warum sprichst du nicht mit ihm?«
»Verstehst du denn nicht, daß ich das jetzt einfach nicht mehr kann? Ich weiß, ich war dumm, daß ich’s nicht sofort erzählt habe; doch jetzt ist es zu spät. Ich habe das Kleid genäht und das Geld dafür bekommen. Außerdem...«
Sie zögerte, und Vicky sagte reuevoll: »Ich weiß. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht, weil ich den Blödsinn von dem Soldaten erzählt habe und all den Quatsch von den Perlen. Ich verstehe das heute selbst nicht mehr. Ich wollte dir aus der Klemme helfen. Wenn ich doch lieber den Mund gehalten hätte! Ich will’s nie wieder tun!«
»Mach dir darüber nicht so viele Gedanken; das hilft jetzt auch nichts mehr. Ich hätte dich gleich unterbrechen und einen Witz machen sollen. Aber mir gelingt es seit neuestem nicht mehr, gegenüber Jack den richtigen Ton anzuschlagen. Unser Verhältnis zueinander ist gestört. Gestern morgen hatten wir einen richtigen Krach; er ging auf die Koppeln hinaus und kam erst spät abends heim. Ein elender Zustand!«
Vicky war sich ihrer Schuld bewußt. Lucy hatte recht: sie machte alles nur noch schlimmer. Man sollte irgend etwas dagegen tun. Und vorschnell wie immer sprudelte sie los: »Wenn ich doch nur ein bißchen gescheiter wäre! Lucy ist oft richtig böse auf mich. Nach ihrer Meinung muß Jack glauben, daß wir alle unter einer Decke stecken. Ich war schrecklich dumm, aber jetzt weiß ich, was ich tue: Wenn du das Geld nicht von mir nehmen und Jack auch nichts gestehen willst, könnte ich zu Mr. Seymour gehen und ihn bitten, die Frist zu verlängern. Wir kennen ihn doch jetzt viel besser; er ist wirklich nicht so übel. Ich glaube nicht, daß er nein sagt, wenn ich ihm alles erkläre.«
Schon wieder war ihr der Gaul durchgegangen! Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, bereute sie es schon wieder. Sie hatte sich ja eigentlich gar nicht in diese Angelegenheit mit Seymour einmischen wollen! Er sollte auf keinen Fall annehmen, sie unterstützte einen Diebstahl. Und vor allem sollte er nicht glauben, sie hätte irgendwelches Interesse an dem albernen Bengel. Lucy hatte ihr das mahnend vorgehalten. Hoffentlich lehnte jetzt Nan ihren Vorschlag energisch ab!
Aber Nan erwiderte eifrig: »Ach, Vicky, wenn du das tun wolltest! Das wäre herrlich! Kein Mann kann dir etwas abschlagen, auch nicht Mr. Seymour. Wenn er die Frist verlängert, brauche ich Jack nichts zu erzählen.«
»Aber eines Tages mußt du es ihm doch gestehen.«
»Selbstverständlich, wenn alles vorbei ist. Dann werde ich ihm alles erklären; denn ehe das nicht geschehen ist, kommt es zwischen uns nicht wieder in die Reihe. Ich fühle genau, daß er etwas von dem Kummer mit Dan ahnt. Er wird immer gleich ärgerlich, wenn ich ihn in Schutz nehme. Er kann einfach nicht begreifen, daß Dan für mich wie ein Bruder ist... Ach, ich wünschte, Dan ginge zu seinem eigenen Bruder nach Kanada! Er hat schon oft gesagt, daß er das so gern täte, wenn er nur das Fahrgeld hätte.«
Vicky war überrascht. Sie hatte angenommen, daß Nan tieftraurig sein würde, ihren Vetter zu verlieren, soviel Aufregung Dan ihr auch verursachen mochte. Aber jetzt war die junge Frau den Tränen nahe.
Es war klar, daß Vicky ihr voreiliges Versprechen halten mußte. Und Lucy hatte sie doch so dringend vor einer Einmischung gewarnt! Was würde sie nun sagen? Zum ersten Male wagte Vicky nicht, von ihrem Vorhaben zu erzählen, und war deshalb recht deprimiert.
Doch damit stand sie nicht allein. Am Abend kamen die Bauarbeiter, um das Gebäck zu kaufen, was noch übrig war. Harry Kelston war noch stiller und bedrückter als sonst, und Ned flüsterte Vicky zu, daß er schon den ganzen Tag so gewesen sei. »Daran ist nur seine alte Mama schuld. In der Pension hat’s Krach gegeben. Sie ist wirklich eine verrückte Schraube, aber Harry will das nicht einsehen.«
Sofort vergaß Vicky ihre eigenen Sorgen. »Was ist denn passiert? Ich weiß, sie ist eine schwierige alte Frau.«
»Schwierig? Sie ist ein närrisches Huhn! Sie hat einen Fimmel wegen des Essens und erst recht wegen des Alkohols. Überall steckt sie ihre Nase rein: Sie sollen das Gemüse besser waschen wegen der Insektenmittel; ihr Essen soll nicht mit Zucker, sondern mit Honig gesüßt werden; und so geht’s in einem fort. Sie macht die Köchin total verrückt. Man kann’s den Leuten nicht verdenken, daß sie sie rausschmeißen. Das Dumme ist nur, daß es in Homesward wenig Pensionen gibt. Harry fühlt sich dort sehr wohl; er möchte keinen Streit mit den Leuten haben.«
»Kann sie denn nicht wieder nach Hause?«
»Erst in zwei bis drei Wochen. Ihre Haushälterin ist krank, und sie will unbedingt bei ihrem lieben Harry bleiben. Wissen Sie, im Grunde ist sie eine gute Haut, aber sie ist eben ein bißchen kindisch. Der Himmel weiß, wo er sie unterbringen soll, bis die Haushälterin wieder zurück ist, und allein kann sie nicht bleiben.«
Ehe er abfuhr, schüttete Harry doch noch sein Herz aus. Er befand sich wirklich in einer Notlage. Mrs. Kelston muß sehr alt sein, überlegte Vicky; denn Harry war selbst schon in den mittleren Jahren. Vielleicht war die arme alte Frau recht verkalkt. Jedenfalls schien sie die ganze Pension in Aufruhr zu versetzen.
»Die Leute dort waren stets sehr zuvorkommend, und mir gefällt es dort recht gut. Meine Mutter meint es nicht böse. Sie ist eine liebe alte Frau, aber in gewisser Hinsicht hat sie einen kleinen Stich, vor allem was das Essen und Trinken anbelangt. So etwas erschwert das Leben in einer Pension. Die Inhaber haben mich gebeten, sie binnen vierundzwanzig Stunden woanders unterzubringen. Ihre Köchin hat mit der Kündigung gedroht.«
»Haben Sie denn keine Geschwister?«
»Nein, ich bin der einzige. Und seit sie so ein wenig schwierig geworden ist, gibt’s auch keine Freunde mehr, die ich bitten könnte... Ja, ich muß fort und schauen, wie daheim die Dinge liegen, aber ich hab direkt Angst vor dem Nach-Hause-Kommen.«
Offenbar war alles noch ärger, als er gefürchtet hatte; denn am nächsten Morgen klopfte er mit vielen Entschuldigungen schon vor acht Uhr an ihre Tür.
»Miss O’Brian, wäre es wohl möglich, daß Mutter auf Ihrer Veranda bliebe, solange ich zur Arbeit bin? Es ist so schönes Wetter, sie braucht gar nicht ins Haus zu gehen. Mit einem anderen Gast gab es gestern abend eine Auseinandersetzung, und nun will man sie dort nicht mehr behalten. Wenn sie hier ist, kann sie nichts anstellen, und wenn ich von der Arbeit komme, werde ich für sie eine Bleibe suchen. Macht es Ihnen denn so viel Mühe, wenn sie hier draußen sitzt?«
Wie immer dachte Vicky nicht an die Folgen; sie war voller Hilfsbereitschaft.
»Selbstverständlich kann sie heute hier bleiben, Harry; machen Sie sich nur darüber keine Gedanken! Es ist so ein herrlicher Tag; sie kann auf der Veranda sitzen oder unter den Bäumen. Ich bringe ihr mein kleines Radio und ein paar Zeitschriften. Da ist sie gut aufgehoben, und sie kriegt auch was Gutes zu essen.«
Er war sehr erleichtert, aber auch ein wenig bedrückt. »Tausend Dank, Miss O’Brian! Aber mit dem Essen ist Mutter ein bißchen schwierig. Sie hat was gegen das normale Mehl. Sie bildet sich ein, daß ihr das schadet. Sie hat immer etwas Mehl aus dem Reformhaus bei sich. Das war eines der Probleme, die es in der Pension gab.«
»Ich verstehe. Ich kann ihr leicht ein paar Brötchen oder Kuchen aus dem Mehl backen. Das geht schon in Ordnung, Harry.«
»Ich bin Ihnen schrecklich dankbar, Miss O’Brian! Wenn einer mit ihr umgehen kann, sind Sie es. Sie ist für ein so hübsches Gesicht anfällig.«
Dieses Kompliment des ernsten Mannes tat Vicky überaus wohl. Es sollte keine Schmeichelei sein, sondern eine schlichte Feststellung. Sie lief zu Lucy, die ihren Enthusiasmus freilich keineswegs teilte.
»Das wird eine rechte Plage werden! O Vicky, kannst du nicht einmal ein bißchen vorausdenken?«
»Ich muß mich sehr über dich wundern! Es ist doch nur eine kleine Gefälligkeit! Das konnte ich ihm doch nicht abschlagen. Keiner hat uns soviel geholfen wie Harry. Er brachte seine Leute hierher, die uns unsere Sachen abkaufen. Er hat uns auch noch weitere Gäste geschickt. Es ist wirklich das wenigste, was wir für ihn tun können. Es wird bestimmt ganz glatt gehen.«
»Meinst du? Hat Harry dir von ihrem Spleen erzählt?«
»Freilich. Sie mag keinen Schnaps und kein gewöhnliches Mehl, und sie nimmt Honig zum Süßen statt Zucker.«
Lucy lächelte ein wenig boshaft. »Das ist noch nicht alles. Sie liebt jegliche Kreatur, besonders die Insekten: die Spinnen und die Wespen. Deshalb gab es auch den Ärger in der Pension. Spinnen sind ihre besonderen Lieblinge; sie sperrte sie in eine Schachtel und zeigte sie den anderen Gästen. Sie geriet außer sich, wenn einer die Spinnweben wegfegte. Das hat Harry mir neulich erzählt. Du wirst deine helle Freude haben!«
Vicky war bestürzt. Sie haßte Spinnen und hatte große Angst vor Wespen. »Warum hast du mir das denn nicht erzählt? Und jetzt lachst du auch noch darüber!«
Lucy hatte kein Mitleid. »Nur so. Du wirst ihr schon helfen, irgendwo im Garten das Wespennest zu suchen.« Seit einigen Tagen schwirrte es nämlich nur so von Wespen, die die Zuckerdose und den Marmeladentopf heimsuchten.
Vicky schauderte. Zaghaft erwiderte sie: »Na ja, es ist ja nur für einen Tag.«
»Glaubst du? Da bin ich neugierig! Na, das hast du dir selbst eingebrockt.« Sie mußte aber doch zugeben, daß man Harrys Bitte um ein Asyl für seine Mutter nicht gut abschlagen konnte. »Aber ich möchte wetten, daß es nicht dabei bleibt«, schloß sie ahnungsvoll.
Einstweilen jedoch war Mrs. Kelston überglücklich. Sie redete zwar mit den Gästen und empfahl ihnen, keinen Zucker zu nehmen und kein Backwerk aus gewöhnlichem Mehl zu essen, im übrigen aber störte sie kaum. Vicky buk ihr die versprochenen Hörnchen aus ihrem eigenen Mehl. Die alte Dame blätterte in Zeitschriften und lauschte der Radiomusik; zwischendurch befreite sie kleine Käfer oder brachte winzige Raupen in Sicherheit. Als ihr Sohn um fünf Uhr mit besorgtem Gesicht erschien, erzählte sie, daß sie einen herrlichen Tag verlebt habe.
«Den herrlichsten Tag seit langer Zeit! Ich habe den Vögeln zugehört und die Würmchen beobachtet. Vicky ist so hübsch und so lieb! Am Nachmittag durfte ich auf ihrem Bett ein Nickerchen machen. Könnte ich nicht hier bleiben?«
Er nahm sie schleunigst mit, aber Lucy äußerte die Befürchtung, daß Mrs. Kelston am nächsten Tag in ihr Gastzimmer einziehen werde.
Sie hatte recht. Am folgenden Morgen war Harry ganz geknickt. Er hatte keine Seele gefunden, die geneigt war, seine Mutter zu versorgen und ihre Launen zu ertragen.
»Miss O’Brian, ich zahle Ihnen jeden Preis, wenn Sie sie für ein paar Nächte aufnehmen, bis ich ein Plätzchen für sie gefunden habe.«
Vicky zauderte. Sie dachte an die Spinnen. Aber jetzt kam die alte Dame aus dem Auto gekrabbelt. »Hier bin ich, meine liebe kleine Vicky! Ich möchte bei euch bleiben und hier glücklich sein!«
Da konnte Vickys weiches Herz nicht nein sagen. Vielleicht hatte Lucy mehr Courage. Vicky eilte ins Haus, um sie um Rat zu fragen; sie schilderte die Lage. Lucy murrte: »Das habe ich dir ja gleich gesagt!« Zum äußersten bereit, begab sie sich auf die Veranda.
»Unser Fremdenzimmer ist noch nicht eingerichtet«, begann sie. Aber Harry ließ sie nicht weiterreden. »Meiner Mutter macht das gar nichts, Miss Avery. Es ist ja auch nur für ein paar Nächte.«
Lucy war klar, daß wohl ein paar Wochen daraus werden würden, bis die schwierige alte Frau in ihr eigenes Heim zu ihrer unübertrefflichen Wirtschafterin zurückkehren konnte.
Widerstrebend sagte sie: »ja, Harry, Sie haben uns auch viel geholfen. Es wird freilich ein etwas mühsames Geschäft werden. Wir haben zu wenig Zeit, um uns um sie zu kümmern. Wenn sich Mrs. Kelston jedoch einrichten möchte und verspricht, die Küche nicht zu betreten...«
Hier wurde sie unterbrochen. Die alte Dame umarmte sie und rief: »Ach, Sie liebe Seele, Sie sind so reizend! Ich hatte solche Angst! Wenn man nicht weiß, wo man hin soll! Die Menschen sind so grob und unfreundlich! Sie töten die armen Spinnen! Ich komme bestimmt nicht in eure Küche. Ich weiß ja, daß ihr mir nichts gebt, was mir schadet. Auf die liebe Vicky kann man sich verlassen.«
Diese letzten Worte bewiesen eindeutig, wie kindisch sie sei, sagte Lucy nachher zu ihrer Freundin.
Als James Seymour an diesem Abend eilig die Stufen zur Veranda hinauflief, vernahm er eine hohe, schrille Stimme: »Vorsicht, mein Bester! Bitte, bitte Vorsicht! Vor Ihrem linken Fuß liegt ein wunderbares Geschöpf Gottes!«
Seymour erstarrte; er hob den Fuß, als ob ihn etwas gestochen hätte. Am Boden lag eine winzige haarige Raupe, und oben saß in einem Lehnstuhl eine alte Frau. Über ihren Handrücken kroch eine große Spinne. Sie wurde vorsichtig auf den Boden gesetzt, und dann wurde die Raupe unter zärtlichem Geplauder auf einem Blatt in Sicherheit gebracht.
Seymour ging ins Haus und fragte verstimmt: »Wer, um Himmels willen, ist denn die Alte auf der Veranda? Ist sie einem Narrenhaus entsprungen? Was macht sie denn hier?«
Er sah so entsetzt aus, daß Vicky lachen mußte. »Das ist unsere neue Pensionärin. Es ist Harrys Mutter. Sie kennen doch Harry, den Polier von der Baustelle. Er war in einer Notlage, weil man seiner Mutter in seiner Pension gekündigt hatte. Und nach Haus kann sie auch nicht, weil ihre Wirtschafterin für einige Wochen verreist ist.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie die alte Frau für die ganze Zeit auf dem Halse haben?«
»So wird’s wohl kommen, obwohl Harry meint, es sei nur für ein paar Nächte. Ich glaube aber nicht, daß er sie woanders unterbringt.« — »Garantiert nicht, und ich kann nicht einsehen, weshalb Sie sie nehmen.«
»Harry war doch so verzweifelt; und er hat uns ebenfalls eine Menge geholfen. Sie sitzt ja schließlich nur so herum, bewacht die Insekten, und ich kann ihr ganz leicht Brot aus ihrem Spezial-Mehl backen. Sie ißt genauso wenig wie ihre Freunde, die Vögel. Ich habe für sie eine große Tüte von ihrem Mehl bestellt und einen ganzen Eimer voll Honig. Da wird es schon gehen.«
Er sah sie überrascht an. »Hat sie vielleicht auch noch einen Tick, was das Essen anbelangt?«
»Allerdings, und auch bei den Getränken muß man Rücksicht nehmen. Aber das regt mich nicht weiter auf. Wir haben kaum alkoholische Getränke im Haus. Von der Sherry- und der Kognakflasche habe ich die Etiketten abgekratzt, für den Fall, daß sie mal im Wandschrank stöbert. Das macht mir nichts aus. Schwieriger ist die Sache mit den Spinnen, den Bienen und Wespen. Vor denen habe ich ziemlich viel Angst.«
»Aber Sie haben doch beide viel zuviel zu tun, als daß Sie auch noch auf ihre Launen achten könnten.«
»Ach, das ist doch ganz einfach. Es ist nur ungeschickt von den Leuten, sie in Harnisch zu bringen. Warum soll man ihr sagen, daß etwas mit gewöhnlichem Mehl gebacken ist? Sie kann den Unterschied ja gar nicht feststellen.«
Er war verdutzt. »Machen Sie das immer so? Binden Sie den Leuten öfter einen Bären auf, um sie zufriedenzustellen?«
Sie merkte, daß sie einen Fehler gemacht hatte, und versuchte sich zu verteidigen. »Finden Sie, das wäre gelogen? Darf man den Menschen nicht auch einmal etwas vormachen? Dann lüge ich eben hin und wieder. Das machen alle. Aber meine kleinen Geschichten tun keinem weh. Sie beruhigen nur.«
Und da er sie immer noch forschend ansah, fügte sie bittend hinzu: »Ist es denn gar so schlimm, wenn ich Mrs. Kelston erzähle, ich nähme ihr Reform-Mehl, obwohl es mir zufällig ausgegangen ist? Sie ist alt und ein bißchen komisch, und der Gedanke, gewöhnliches Brot zu essen, würde sie schrecklich aufregen. Ich bin eben immer drauf aus, die Menschen zufriedenzustellen.«
»Das ist eine gefährliche Philosophie, die Sie leicht in Schwierigkeiten bringen könnte.«
»Manchmal schon, aber es lohnt sich trotzdem.« Mit einem bezaubernden Lächeln fuhr sie fort: »Sie finden das nicht ganz richtig, nicht wahr? Halten Sie es für sehr schlimm?«
Er ließ sich nicht dazu verleiten, seine persönliche Ansicht zu äußern, sondern behandelte die Angelegenheit sehr diplomatisch. »Ich selbst halte nichts von Ausflüchten, aber vielleicht haben Sie recht. Jeder schwindelt gelegentlich einmal.« Und nachdrücklich setzte er hinzu: »Aber man sollte es nicht zum Spaß tun und es nicht zur Gewohnheit werden lassen.«
Mit einem Male wurde Vicky ganz sanft. »Ich weiß, es ist eine schlechte Angewohnheit, und ich versuche auch, sie abzulegen. Aber es ist die einzige Methode, um Mrs. Kelston bei guter Laune zu halten.«
»Ist das denn wirklich so wichtig?«
»Es wäre doch schrecklich, wenn sie hier dasselbe Theater aufführte wie in der Pension. Das würde dem armen Harry noch mehr zusetzen. Es sind ja nur lauter harmlose Schwindeleien. Jemandem, den ich wirklich gern habe, würde ich nie etwas vormachen. Zu Lucy sage ich immer nur die reine Wahrheit.«
Er mußte lächeln, und Vickys Herz wurde plötzlich ganz leicht. Endlich blickte er sie an wie andere Männer auch; sie wußte sehr genau, daß er nun nie wieder so zurückhaltend und kühl wie früher sein konnte. Mochte er ruhig einmal aufbrausen oder sogar ärgerlich werden, das war immer noch besser als diese strikte Zurückhaltung.
Sie war selbst verwundert, daß sie sich soviel Mühe mit ihm gab und daß ihr Erfolg sie so beglückte. Eigentlich war er doch Lucys Freund!
Im selben Augenblick trat Lucy ins Zimmer. »Wissen Sie schon, daß wir einen Pensionsgast haben? Harry hat sehr viel für uns getan, und eine traurige Geschichte bringt Vickys Herz zum Schmelzen. Ein wenig hat sie das aber wohl schon bedauert, als sie Mrs. Kelstons Vorliebe für Insekten, besonders für Spinnen, entdeckte. Außerdem gibt es auch Schwierigkeiten mit dem Essen.«
»Damit weiß sie anscheinend fertigzuwerden. Sie hat da einige kleine Tricks, um die alte Dame zu beruhigen.«
»Ich meinerseits bin mehr für die schlichte Wahrheit. Aber Vicky hat das nun einmal so angefangen. Ich weiß selbst nicht, wie sie sonst mit Mrs. Kelstons Launen fertigwerden sollte. Sie soll ja nur zwei oder drei Tage bleiben, aber Harry wird kaum einen anderen Platz für sie finden.«
»Wäre es nicht das einfachste, sie in einem Altersheim unterzubringen?«
»Wie können Sie nur an so etwas denken?« Vicky war empört. »Da wäre die arme alte Frau todunglücklich. Dort ist alles so hygienisch, es gibt keine Spinnweben und nicht die kleinste Raupe. Hier ist sie glücklich, und wenn ich sie auch mal ein bißchen anschwindeln muß, ist es hier für sie immer noch besser als in einem Heim.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen gedacht. Und letzten Endes ist es ja auch Ihre Angelegenheit«, sagte er förmlich.
»Es ist ausschließlich Vickys Sache, nicht die meine. Ich selbst habe mich da herausgehalten. Aber ich habe gerade frischen Tee aufgegossen. Heute war ein schwerer Tag. Trinken Sie eine Tasse mit uns?«
Beinahe schüchtern kam die Antwort: »In der Tat wollte ich Sie gerade fragen, ob ich wohl bei Ihnen noch etwas zu essen kriegen könnte. Wegen einer Besprechung muß ich noch einmal in die Stadt. Und ich habe vergessen, noch rechtzeitig etwas einzukaufen. Ein Stück Apfelkuchen reicht mir völlig.«
»Selbstverständlich! Sie brauchen aber keinen Apfelkuchen zu essen. Wir haben jeden Abend eine warme Mahlzeit. Das Gemüse ist noch nicht gekocht, aber ich mache Ihnen schnell einen Salat, und kaltes Fleisch habe ich auch noch.« Als er dann aß, setzte sie sich mit ihrem Tee zu ihm.
Sie ist eine angenehme, ruhige Person, stellte er im stillen fest; eine der wenigen Frauen, mit denen man eine gute und doch nicht zu enge Freundschaft schließen konnte. Er genoß es richtig, mit ihr zu plaudern und währenddessen Vicky auf der Veranda zu beobachten. Vicky versuchte gerade, Mrs. Kelston zu überreden, keine Wespen mit ins Haus zu bringen.
Es war schön, wieder mal in seinem ehemaligen Heim zu verweilen und sich mit einer jungen Frau angenehm zu unterhalten. Er hatte das seit langer Zeit nicht mehr getan.
Plötzlich sagte er: »Nett von Ihnen, daß ich bei Ihnen etwas zu essen bekomme. Es ist so umständlich, sich abends nach einem arbeitsreichen Tag noch etwas zu kochen.«
»Haben Sie nie daran gedacht, eine Haushälterin zu engagieren?«
»Und ob ich daran gedacht habe! Ich habe fünf Haushälterinnen gehabt, und eine war schlechter als die andere. Sie haben mir sehr viel mehr Ärger als Hilfe eingebracht. Gelegentlich esse ich schnell in der Stadt eine Kleinigkeit, vor allem wenn ich länger im Büro zu tun habe. Aber oft genug klappt es nicht. Dann muß ich ewig auf mein Essen warten, und das ist recht unangenehm.«
»Wie wäre es denn, wenn Sie hier bei uns äßen? Wir essen regelmäßig um halb sieben, sobald der Tea-Room aufgeräumt ist. Es macht uns wirklich keine Mühe, für eine Person mehr zu kochen.«
»Wirklich nicht? Sie haben doch schon die alte Dame auf dem Hals; Sie sollten sich nicht noch mehr Lasten aufbürden.«
»Das ist doch keine Last! Um Mrs. Kelston kümmert Vicky sich. Ich will sie aber vorher um ihre Meinung fragen.«
»Es müßte dann aber ganz korrekt zugehen. Ich habe so viel Tee umsonst bei Ihnen getrunken, daß ich wenigstens die Mahlzeiten bezahlen möchte.«
Sie machte keine Einwendungen. »Wie Sie wollen. Hauptsache ist, daß alle Beteiligten zufrieden sind.«
Sie waren es alle zufrieden. Lucy legte Wert auf eine ordentliche Mahlzeit am Abend, schon um sich vom Anblick all ihrer Kuchen und Törtchen zu erholen. Es gab natürlich kein großes Dinner, aber wenn Mr. Seymour das nichts ausmachte... Es machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er ging geradezu überwältigt von dannen und wunderte sich über sich selbst. Auf was hatte er sich da eingelassen? Er hatte sich doch geschworen, nie wieder mit einer Frau anzubändeln! Es würde natürlich eine enorme Erleichterung bedeuten, wenn er sich abends beim Nachhausekommen nichts mehr zusammenkochen mußte, was dann doch nicht schmeckte. Doch warum hatte er nach all den friedlichen stillen Jahren bloß so etwas angefangen? Der Gedanke an Lucys angenehm sachlichen Ton beruhigte ihn freilich wieder. Sie würde sich gewiß nie in sein Leben drängen, nicht einmal übertriebenen Anteil daran nehmen. Ihr Herz gehörte wahrscheinlich einem anderen Mann. Er ahnte nicht, wer der Glückliche war; aber jedenfalls stellte das einen Sicherheitsfaktor dar.
Und was dieses andere Mädchen betraf... An diesem Punkt seiner Überlegungen trat James Seymour aufs Gas und sagte sich, es wäre höchste Zeit, zu seiner Besprechung zu kommen.
Am selben Abend besuchte Amy Swales die Freundinnen. Sie kam öfters nach Ladenschluß, um eine Bestellung zu erledigen und um zu fragen, wie das Geschäft denn gegangen sei.
»Ich glaube, wir kommen über die Runden«, meinte Lucy. »Wir sammeln zwar keine Reichtümer, aber es geht voran. Natürlich wird es im Winter schwieriger werden, aber den Sommer über werden wir genug verdienen, um uns den Winter hindurch über Wasser halten zu können. Was sagen Sie zu unserem Gast?«
Um diese Zeit lag Mrs. Kelston schon im Bett, wohlversorgt mit Vickys Nachttischlämpchen.
»Da haben Sie ein gutes Werk getan! Harry hat uns schon davon berichtet. Er wußte ja nicht mehr ein noch aus. Die alte Frau ist eine schwere Last für ihren Sohn. Hoffentlich werde ich nicht auch mal so!«
»Ach, sie ist ganz vergnügt, solange sie nur genug Spinnen und Raupen um sich hat und ihr Reformhaus-Mehl essen kann«, versicherte Vicky. »Und wissen Sie schon, daß wir Mr. Seymour an vielen Abenden als Tischgast haben werden? Da braucht er sich daheim nichts mehr zu kochen.«
»Das ist ja großartig! Mich hat schon lange der Gedanke bedrückt, daß er abends in das leere Haus kommt und sich dort noch etwas kochen muß. Mittags mag er ja nichts Warmes essen. Ich habe mir oft Sorgen gemacht, ob er überhaupt genug ißt, und versucht, ihn zum Essen bei uns zu behalten. Mir fällt wirklich ein Stein vom Herzen, daß er jetzt bei Ihnen so gut aufgehoben ist.«
Als Amy heimkam, platzte sie schier vor Aufregung über ihre Neuigkeit. »Stell dir vor, Len, Mr. James ißt von jetzt ab abends bei den Mädchen! Also muß er seinen Kummer doch allmählich überwunden haben. Denk an meine Worte: diese Mädchen werden ihn wieder aufmuntern!«
Len mochte ihre Begeisterung nicht teilen; er gab aber zu, daß eine vernünftige Mahlzeit nichts schaden könne.
»Aber diese Frauen! Sie können ihn doch nie in Frieden lassen! Sie sind nette Mädchen, gewiß; aber sie sind jung, und die Jungen geben keine Ruhe, bis ein Mann nach ihrer Pfeife tanzt.«
»Sei doch nicht so verbohrt, Len! Du weißt genau, daß Lucy keine leichtfertige Person ist, und Vicky — na, jedem Mann muß warm ums Herz werden, wenn er sie nur anblickt.«
Len jedoch bemerkte düster, daß Blicke nicht die Hauptsache seien und daß ein Mann vor allem seine Ruhe brauche.
»Seine Ruhe? Jedenfalls nicht die Ruhe, in der er seit Mr. Peters Abreise gelebt hat... Nein, nein, das ist die beste Neuigkeit seit langer Zeit!«
Dan Ireland war nicht so entzückt. »Waaas? Fünfmal in der Woche kommt Mr. Seymour zum Essen hierher? Das ist ja gräßlich! Da wird er dann ewig lang rumsitzen, und ich kann doch auch nur abends kommen!«
Es sei eine geschäftliche Vereinbarung und keine freundschaftliche Einladung zum Dinner, versetzte Lucy kühl. Mr. Seymour würde nach dem Essen nicht mehr lange »herumsitzen«. Aber Dan murrte: »Als Sie beide hier einzogen, konnte man auf eine gemütliche Bleibe rechnen. Jetzt, mit dem alten Seymour und der verdrehten alten Hexe samt ihren Spinnen, ist’s damit vorbei.«
»Stellen Sie sich nicht so an, Dan!« sagte Vicky besänftigend. »Das alles bringt Geld ein; und wir müssen schließlich auch leben.« Daraufhin schwieg er zuerst, um dann kleinlaut zu erwidern: »Nan hat mir übrigens gestanden, daß sie Ihnen alles erzählt hat. Es ist eine blöde Geschichte, aber so etwas gehört eben zu den Prüfungen des Schicksals. Ich dachte mir schon, daß Sie Verständnis für mich haben werden. Anständig von Ihnen, Vicky, daß Sie gegen den alten Drachen angehen und ihn bereden wollen, die Frist zu verlängern, bis wir das verd... Geld beisammen haben. Ich weiß gar nicht, weshalb er solch einen Wirbel macht. Er ist eben ein richtiger Shylock. Ich habe das immer gesagt. Je mehr Geld einer hat, um so mehr will er haben.«
Diese Auffassung der Dinge verschlug den Mädchen die Sprache. Lucy blickte ihre Freundin forschend an, und Vicky wurde dunkelrot. Sie hatte noch nicht den Mut gehabt, ihr voreiliges Angebot einzugestehen. Sie hatte angenommen, Dan würde sich nie von einem Mädchen verteidigen lassen wollen. Darin hatte sie sich allerdings gründlich geirrt. Mit der größten Selbstverständlichkeit nahm er an, daß alle Welt dazu verpflichtet sei, ihm beizustehen.
»Da fällt mir ein, daß es vielleicht doch ganz günstig ist, wenn der alte Knabe hier sein Dinner einnimmt. So kommen Sie mit ihm auf einen vertrauten Fuß und können ihn leichter rumkriegen.«
Das war zuviel! »Jetzt ist es erst einmal Ihre Aufgabe, soviel Geld wie möglich zusammenzubringen«, entgegnete Vicky scharf. »Gehen Sie jetzt? Ich begleite Sie.«
Als sie allein waren, entschuldigte er sich. »Ich war felsenfest davon überzeugt, daß das Pferd gewinnen würde. Ich wollte das Geld ja nur ausleihen. Ich habe eben Pech gehabt. Es ist nett von Ihnen, daß Sie mit Seymour reden wollen.«
»Ich tue es höchst ungern und eigentlich nur Nan zuliebe. Meiner Meinung nach sind Sie ein rechter Dummkopf und haben ihr schon viel Kummer gemacht.«
»Ach du lieber Gott, das weiß ich längst. Ich tue ja auch, was ich kann. Aber es hat keinen Sinn, den lieben langen Tag darüber nachzudenken.«
»Es wäre wohl besser, wenn Sie überhaupt mehr nachdächten. Sie wollten vielleicht das Geld nur ausleihen; in Wahrheit haben Sie’s gestohlen, und ein Diebstahl ist eine schlimme Sache.« Im stillen dachte sie: Es ist auch schlimm für mich. Lucy wird bitterböse sein und Seymour ebenfalls. Und das gerade jetzt, wo alles so gut zu gehen schien!
Voller Abscheu betrachtete sie den hübschen jungen Mann an ihrer Seite. Aus charmanten Männern machte sie sich eigentlich nichts. Sie zog die soliden, ernsthaften vor, selbst wenn sie gelegentlich einmal etwas rauh waren.
Dan war gekränkt. »Ich weiß, daß ich eine Dummheit gemacht habe, aber jetzt gebe ich mir ja alle Mühe, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. In einem Büro kann ich keine Anstellung finden, weil mir Seymour kein Zeugnis ausstellen will; aber ich schufte wie wild bei der widerlichen Gartenarbeit. Meine Hände sind voller Blasen, und meine Nase schält sich wie eine Kartoffel. Wenn ich genug Geld für die Überfahrt hätte, würde ich hier abhauen und zu meinem Bruder nach Kanada gehen. Da ist alles besser.«
»Ich glaube nicht, daß man in Kanada Leute, die Firmengelder unterschlagen, lieber sieht als hier«, sagte Vicky boshaft. Er warf ihr einen tief beleidigten Blick zu und ging über die Straße zu Nan, um sich von ihr trösten zu lassen. Vicky kehrte zögernd ins Haus zurück; Lucy würde sehr ärgerlich sein, weil sie Dan ihre Hilfe versprochen und ihr das verschwiegen hatte.
Aber Lucy sagte nicht viel. Sie verschwendete selten viel Worte an vollendete Tatsachen. Als Vicky ihr alles erzählt hatte, sagte sie ernst: »Daß Dan sofort darauf eingehen würde, habe ich erwartet. Daß aber auch Nan dein Angebot angenommen hat, überrascht mich. Sie ist wirklich töricht; sie hat doch einen Mann! Warum hält sie sich nicht an den? Ich wollte nur, du hättest ihr nichts versprochen. Ich habe so ein Gefühl, daß du alles nur noch schlimmer machst.«
»Dieses Gefühl habe ich auch«, stimmte ihr Vicky niedergeschlagen zu. »Es hat aber keinen Sinn, darüber zu grübeln.« Und sie ging in die Küche, um Milch für Mrs. Kelston zu wärmen. Mrs. Kelston lag ihrerseits zufrieden in ihrem Bett und beobachtete zwei große Nachtfalter, die Vickys Bettlämpchen umschwirrten; dabei sann sie über das Liebesleben dieser Tiere nach.