Der Salzige
Lasst uns froh und munter sein.
REISE, REISE!
Schraders festgeklebtes Alkoholikergrinsen schweift ölig im Zelt umher.
«Lustig, lustig, trallalallala, bald ist Nikolausabend da.»
Ich bin weder froh noch munter und beschließe daher, liegen zu bleiben, wenigstens ein einziges Mal im Bett bleiben. Kein Mensch kann in meinem Zustand aufstehen, und ich schon gar nicht. Außerdem ist Sonntag. Ich habe die Rechnung allerdings ohne den Höllenklepper gemacht. Nach zehn Minuten Kontrollgang ist er wieder da.
«Was ist los mit dir? Hast du nich gehört. REISE, REISE!»
Mir schlägt eine Fahne entgegen, als hätte er sich zwei Liter Doppelkorn über den Gaumen gedrückt. Gibt’s nicht, alle besoffen gewesen gestern.
«Nee, ich kann nicht, ich bleib liegen.»
«Wie, du bleibst liegen, du hast sie ja wohl nicht mehr alle! REISE, REISE!»
«Nee, echt. Ich bin krank!»
«KRANK? So ein Quatsch. Los, raus.»
«Nee, das stimmt, ich lüg nich, ich bin wirklich krank.»
«Du spinnst doch. Ich sag’s nich nochmal.»
«Nee, ich bleib liegen. Sie können ja dem Pastor Bescheid sagen.»
«Das muss ich gar nich.»
Er packt mich an den Beinen und versucht mich aus dem Bett zu zerren. Ich klammere mich mit beiden Händen am Gestänge fest.
«Hilfe, Hilfe!»
«HÖR AUF DAMIT JETZT. LOS KOMM, SONST MACH ICH ERNST!»
Herr Schrader ist zwar alt und fett und wird bald sterben, aber noch ist er mir körperlich haushoch überlegen. Ich gebe auf.
«So is vernünftig, aber mach das nich nochmal, ich schwör’s dir. Ich warte vor dem Zelt, wenn du in einer Minute nich draußen bist, is was los, Meister.»
Obwohl endlich mal die Sonne scheint, herrscht bei der Morgenandacht eine ganz seltsame Stimmung. Alle sind bis auf die Knochen erschöpft, selbst der Pastor und seine Frau wirken angeschlagen. Was da wohl noch alles passiert ist? Die Nacht war ja noch lange nicht zu Ende, im Gegenteil, es wurde bestimmt noch richtig geil, außer für den dummen Peter, der hat’s genauso übertrieben wie ich. Überhaupt Peter: Er scheint über eine ganz und gar unwahrscheinliche Regenerationsfähigkeit zu verfügen: Wie aus dem Ei gepellt sieht er aus: Frisches T-Shirt (Fischsymbol), frische Hose, das Gesicht abgeschwollen, sogar der Glanz ist in seine Augen zurückgekehrt.
Andacht Wolfram Steiß. Es geht los wie immer (Jesus, Gott, Menschen, Natur, Sünde), doch plötzlich kommt er auf die Vorkommnisse der vergangenen Nacht zu sprechen. So, wie er sich aufplustert, muss einiges aus dem Ruder gelaufen sein, noch viel mehr, als ich gedacht hatte. Und ich war nicht dabei!
Verständnis dafür haben, dass wir ab heute Zeltkontrollen machen … schlimm, dass einige unser Vertrauen so missbraucht haben … glauben, dass sie machen können, was sie wollen … Verantwortung auch gegenüber euren Eltern … Alkohol … Entgleisung.
Nach dem Frühstück knöpfe ich mir Tiedemann vor. «Sag mal, was sollte denn das, du wolltest mich doch abholen?»
«Ja, stimmt, tut mir leid. Hab ich vergessen.»
«So was vergisst man doch nicht. Und wenn nun was passiert wäre?»
Er mustert mich komisch.
«Was soll denn passiert sein. Nu hör mal auf.»
«Und was ist bei euch noch so passiert?»
«Weiß ich auch nicht so genau. Ich bin irgendwann eingepennt, und dann ist Steiß gekommen, um vier oder so, und hat uns zusammengeschissen. Irgendwer muss gepetzt haben.»
«Und nu?»
«Jetzt geht’s erst mal nicht mehr zu den Weibern. Hast ja gehört, Kontrollen ohne Ende.»
«Ach so.»
Ich tu enttäuscht, bin in Wahrheit aber heilfroh. Jetzt bleibt unsere Clique endlich wieder unter sich, wir spielen Doppelkopf bis zum Ende der Freizeit, und gut ist.
Keine Wolke am Himmel. Das kann ja heiter werden, haha. Bestimmt schon 25 Grad, und die nächsten Tage soll es noch heißer werden. Ich gehe zum Strand, Meer gucken. Schrader sitzt auf einer Bank, hustet und raucht LUX-Zigaretten. Er ist immer noch besoffen und quatscht wie gehabt auf Herrn Korleis ein:
«Egon, was machst du eigentlich, wenn der Dritte Weltkrieg ausbricht? Bist du gut vorbereitet?»
«Wie, vorbereitet, der bricht schon nicht aus.»
«Aber wenn doch, man muss doch vorbereitet sein!»
«Da kann man doch wenn nichts machen. Meinst du jetzt Vorräte anlegen, oder was meinst du überhaupt?»
«Vorräte is gut! Ich hab mir nämlich ’nen unterirdischen Bunker angelegt. Mit Sexsklavinnen. Von mir aus kann der Krieg kommen, bei mir is alles voller Sexsklavinnen, harharhar.»
Ein Wahnsinn. Jetzt ist er vollkommen durchgedreht, wenn das der Pastor hört. Korleis sieht zu, dass er Land gewinnt. Es naht Frau Wöllmann.
«Ey, Frau Wöllmann, was is denn mit dir los?»
«Was soll denn los sein?»
«War die Kette zu lang, oder wie bist du aus der Küche rausgekommen? Harharhar.»
Frau Wöllmann bekommt ein wächsernes Gesicht und geht, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus zurück. Schrader schüttelt mit dem Kopf.
«Die ham doch alle keinen Humor, alle, wie sie da sind.»
Bimmel bimmel. Rinderroulade mit Erbsen und Wurzeln und Kartoffelbrei. Mir ist immer noch ein bisschen übel, und ich hab trotzdem Hunger, ganz ätzende Kombination. Na ja, ich lass es lieber. Wenn ich hier auch noch auf den Tisch kotze, dann ist eh alles zu spät. Ich schäme mich schon genug wegen gestern: «Das Äffche, erst ist’s durchgedreht, und dann hat’s gebrochen! Schau mal, jetzt schon wieder! Das arme Äffche, schlimm.»
Detlef salzt wie üblich nach, das heißt, er versucht es, aber das Salzfass ist verstopft. Die Löcher zu klein, nass, irgendwas, es kommt einfach nichts, er kriegt schon einen steifen Arm vom Schütteln. Bald ist die Mittagszeit vorbei, ohne dass es schön salzig schmeckt.
In seiner Not begeht er einen entscheidenden Fehler: Er schraubt den Verschluss vom Salzfass und haut sich zirka die Hälfte auf den Kartoffelbrei. Dann rührt und manscht er mit der Gabel in der Pampe rum, bis aus dem Brei Lake geworden ist, Salzlake. Ich bin fassungslos und schaue mich um; Dirk Kessler hat sein Besteck zur Seite gelegt und beobachtet mit offenem Mund den Salzwahnsinn. Endlich, endlich bemerkt es auch mal ein anderer! Dirk stößt den dürren, langen Karsten Petermann an, der sagt Thomas Rolfs Bescheid, und rasend schnell erfasst die Neuigkeit die umliegenden Tische. Laute Post. Tragischerweise ist Detlef derart im Salzrausch, dass er von alldem nichts merkt; konzentriert verteilt er den Rest des Fasses aufs Mischgemüse. Dirk Kessler ruft zu ihm rüber:
«Sag mal, was ist denn eigentlich mit dir?»
Detlef schaut irritiert von seinem Inferno auf.
«Meinst du mich? Wieso, was soll denn sein? Ist irgendwas?»
«Das ist doch wohl voll abartig, das kann man doch nicht mehr essen.»
«Wie, das kann man nicht mehr essen?»
Dirk schaut triumphierend in die Runde, dann erhebt er sich langsam und bedeutungsvoll, zeigt auf Detlef und sagt:
«Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: DER SALZIGE.»
Hysterisches Gelächter.
An sich kein besonders origineller Einfall, aber irgendwas ist mit dieser Wortschöpfung, sie hat etwas Magisches: DER SALZIGE.
«DER SALZIGE ist als Kind mal in ein Salzfass gefallen.»
Hysterisches Gelächter.
«Das ist doch unlogisch. Dann braucht er doch in seinem Leben gar kein Salz mehr.»
Hysterisches Gelächter.
«Stimmt auch wieder. Wisst ihr eigentlich, was heute Nachmittag auf’m Programm steht?»
«Nee, sag mal.»
«Begehung eines Salzstollens. Die Führung übernimmt DER SALZIGE.»
Hysterisches Gelächter.
Kollektive Raserei, Atemnot, wir können vor Lachen nicht mehr weiteressen.
«Ey, SALZIGER, in Lüneburg gibt’s ’n Salzmuseum, da musst du bald mal hin!»
Hysterisches Gelächter.
«Na, SALZIGER, wohin geht’s im Urlaub? Salzgitter soll ja sehr schön sein!»
Hysterisches Gelächter.
«Auf der Rückfahrt können wir dich auch schon vorher absetzen. Ausfahrt Salzhausen!»
Hysterisches Gelächter.
Wir können nicht mehr. Volle Breitseite. Jetzt hat es ihn also doch noch erwischt. Das wird er nie wieder los. Kurze Verschnaufpause während des Nachtischs: Es gibt Eis, das gute Fürst Pückler von Langnese. Drei Eisfirmen beherrschen die Welt, Langnese, Schöller und Warnke. Eis von Warnke und Schöller habe ich in meinem Leben noch nicht gegessen, es gilt als minderwertig. Ist ja auch egal.
«Ey, SALZIGER, das Eis ist doch viel zu süß für dich, da kannst du von sterben. Hier, ich hab was für dich.»
Der lange, dürre Karsten Petermann reckt triumphierend seine rechte Faust in die Höhe, die eine Handvoll Salzstangen umklammert. Wo hat er die denn auf einmal hergezaubert?
«Heute Abend steht Mikado auf dem Programm. Du kannst Salzstangen nehmen, damit du dich wie zu Hause fühlst.»
Hysterisches Gelächter.
Es ist kein fröhliches, harmloses, evangelisches Gelächter mehr, sondern ein tierisches Röhren, das tief aus der Kehle kommt, dort, wo der Teufel Quartier bezogen hat. Wir kriegen uns überhaupt nicht mehr ein.
«Scheiße, ich hab meinen Kohlepfennig noch nicht gezahlt! Egal, nehm ich eben den Salzgroschen!»
Hysterisches Gelächter.
Die Hysterie steuert von einem Höhepunkt zum nächsten und erschüttert die Nougathöhle in ihren Grundfesten. Die Erwachsenen schauen ratlos zu uns herüber. Sie haben natürlich keine Ahnung, was hier Irres vor sich geht. Man sieht Pastor Schmidt richtig an, wie es in ihm rattert; er ist sich unschlüssig, ob er eingreifen muss, weiß aber nicht, warum, und lässt es daher bleiben.
DER SALZIGE. Unfassbar, was dieses Wort auslöst, so was habe ich noch nie erlebt, ich schwör’s. Detlef ist salzweiß im Gesicht. In Erwartung von noch Schlimmerem hat er den Kopf eingezogen und wartet darauf, dass er endlich eine gescheuert kriegt, damit der Spuk endet.
SALZIGER.
Über seinem Kopf schwebt ein riesiges Fragezeichen, er findet das alles überhaupt nicht witzig und versteht’s auch nicht.
SALZIGER, so ein Quatsch. Wo er doch nur ganz normal auf alles Salz raufmacht, weil’s ihm sonst nicht schmeckt. Er verzieht sich nach dem Essen sofort ins Zelt und hofft, dass bis zum Abend alles vergessen ist.