Arschbrand
Ich ziehe mir die Hose hoch, setze ein harmloses Gesicht auf und gehe wieder nach vorn.
«Hallo.»
«Tach.»
Inzwischen haben sich ungefähr zwanzig Leutchen vor dem Gemeindehaus versammelt, darunter Andreas. Hä, ich wusste gar nicht, dass er mitkommt, eigentlich hätte er ja mal was sagen können. Er hockt zusammengesunken auf einem riesigen Rucksack, seine Augen sind von Hitze und Geilheit ganz glasig, kommt mir jedenfalls so vor. Wie immer trägt er eine hautenge Wrangler Jeans, in der sich seine Rute abzeichnet wie nichts Gutes.
Von den Erwachsenen sind bisher nur die Fiedlers da, die können’s gar nicht abwarten, dann das Ehepaar Wöllmann und Herr Schrader, unser Nachbar aus dem neunten Stock. Die Wöllmanns kenne ich von der Gemeindearbeit, sie sind um die vierzig, kommen aus Hessen und sprechen unfassbar breiten Dialekt, obwohl sie schon vor Ewigkeiten nach Hamburg gezogen sind. Das ewige Gebabbele grenzt bisweilen an Geistesschwäche, und dieser Eindruck wird von Frau Wöllmanns «Frisur» unterstützt: kurzes braunes, wirr abgeschnittenes Haar, es sieht aus, als ob ihr Mann ihr immer die Haare stutzt, wenn sie so richtig besoffen sind. Dabei trinken sie bestimmt nur mal sonntags zum Essen ein Glas Wein oder Silvester einen Sekt zu zweit. Herr Wöllmann hat die Marotte, immerzu mit den Augen zu rollen. Ansonsten sehen sie normal aus, normaler geht’s nicht. Sie sind sehr freundliche und anständige Leute, die es ernst nehmen mit der Nächstenliebe, sie haben mehrere Patenschaften in der Dritten Welt und kümmern sich außerdem noch um Obdachlose. Zweimal in der Woche ist bei ihnen zu Hause großer Wasch- und Futtertag, da laden sie die Obdachlosen zu sich ein, damit die mal so richtig schön baden können und sich rasieren und Haare waschen und sich vollfuttern.
Herr Schrader hat mit Kirche nichts am Hut, wahrscheinlich ist er noch nicht mal getauft. Seit dem Tod seiner Frau fährt er mit, der Pastor hat ihn überredet, damit er nicht immer so alleine ist. Er gehört wie die Fiedlers zum Inventar, ein warziger, staubiger alter Mann, unter dessen Zehennägeln Flöhe leben. Könnte ich mir jedenfalls gut vorstellen. Sommers wie winters trägt er eine abgeranzte Taxifahrerlederweste, in der Dutzende Kugelschreiber stecken, und die ewig gleiche Cordhose. Vom Kettenrauchen (LUX-Zigaretten) ist er schon ganz gelb, nicht nur die Finger. Herr Schrader ist fast so dick wie Herr Fiedler, aber anders. Während Herr Fiedler eine riesige Ballonwampe vor sich herträgt, ist Herr Schrader am ganzen Körper gleich dick. Stammfettsucht nennt sich das, hab ich mal gehört. Weil er so unappetitlich ist, nennen wir ihn hinter vorgehaltener Hand Ekelopa. Er hat den ganzen Tag nichts zu tun und liegt deshalb ständig auf der Lauer, um uns irgendwas anzuhängen: Müll wegwerfen, rauchen und Alkohol trinken, Klingelstreiche, in den Fahrstuhl pissen, Schmierereien. Schrader ist Blockwart von eigenen Gnaden, selbsternannter Privatsheriff, einer, der dem Bademeister petzt, wenn jemand ins Becken gepinkelt hat.
«Tach, Herr Schrader.»
«Tach, Thorsten. Kein Scheiß machen.»
Jaja.
Haha, guck mal, da ist ja auch Peter Behrmann, das Schwein! Total abgehetzt. Als er den riesigen Rucksack absetzt, bemerke ich seinen klatschnassen Rücken. Ihhh, der ganze Rücken ein Schweißfleck, wie bei alten Leuten. Er schaut sich suchend um, offenbar kennt er niemanden. Peter ist ein dauernervöser Typ mit einem zu kleinen Kopf. Irgendwie wirkt er wie ein Hamster oder ein Eichhörnchen, das ständig vor sich hin zittert und nach Löchern sucht, in denen es seine Vorräte bunkern kann. Hauptsache bunkern. Ich hasse Peter Behrmann, weil er ein ekelhafter Geschäftemacher ist. Vor einem Jahr hat er mir ein wertvolles Mikroskop, das ich von meinem Opa geerbt habe, für acht Mark siebzig abgekauft. Den ganzen Nachmittag hat er mich weichgekocht und immer weiter runtergehandelt; irgendwann war ich zu erschöpft und habe es ihm zu dem Spottpreis überlassen. Zu Hause hat’s dann richtig Ärger gegeben, mein Vater hätte mir fast eine gescheuert, er rief bei Behrmanns an, Peter solle das verdammte Mikroskop wieder rausrücken, aber Herr Behrmann hat nur gesagt, dass die Jungs das unter sich abmachen müssen, und wenn ich zu doof zum Handeln bin, selber schuld. Mein Vater ist weiß geworden vor Wut, konnte aber nichts machen, weil Herr Behrmann Polizist ist, sonst hätte er ihm bestimmt eine reingehauen und sich das verdammte Mikroskop wiedergeholt. Ich weiß, dass Peter das mit andern auch so macht, ständig kauft er irgendjemandem was ab, mir ist völlig rätselhaft, wo er das ganze Geld herhat. Aber irgendwo muss er den ganzen Kram ja lassen, sein beknacktes Kinderzimmer ist viel zu klein, deshalb gräbt er’s bestimmt im Wald oder sonst wo ein, der Pickerhamster. Peter besitzt als einer der wenigen ein Mofa, lässt uns jedoch nur gegen Geld darauf fahren. Pro Runde nimmt er zehn Pfennig, das ist umgerechnet fast so teuer wie Autoscooter. Das kriegt er zurück, in den nächsten zwei Wochen wird abgerechnet. Er schaut und schaut und schaut mit seinem kleinen Pickerkopf, aber ich werde ihm nicht den Gefallen tun, mich mit ihm zu unterhalten. Das ist ganz bitter, wenn man auf einer Freizeit niemanden kennt und keinen Anschluss findet. Ganz bitter. Übrig bleiben ist noch schlimmer, als verlassen zu werden.
Ein Freizeitteilnehmer nach dem anderen trudelt ein, langsam müssten wir mal vollzählig sein. Die meisten Jugendlichen kenne ich nur flüchtig, vom Sehen oder von früher von den Konfirmandenfreizeiten. Ich weiß nicht, zu wem ich mich stellen soll, deshalb setze ich mich auf meine Reisetasche und tu abwesend. Kurz vor drei kommt der Bus und manövriert wie irre auf dem viel zu kleinen Parkplatz herum. Alle stehen im Weg, der Fahrer wird sauer und schreit in seinem überhitzten Bus rum wie sonst was, obwohl wir doch eine christliche Familienfreizeit sind.
Im Sitzen spüre ich erst so richtig, wie der Arsch brennt, ich weiß gar nicht, wie ich die Busfahrt überstehen soll. Hoffentlich ist die Unterhose nicht nass vom Arschwasser, wie der Rücken von Peter Behrmann. Kann aber eigentlich nicht sein, denn ich habe eine dunkelblaue, farbneutrale Baumwollhose aus irgendeinem Scheißmaterial an. Wir haben zu Hause ziemlich wenig Geld; wenn ich mir mal richtige Klamotten kaufen wollte, müsste ich mir die selber verdienen.
Seit zwei Jahren trage ich Zeitungen aus (Bild am Sonntag/Welt am Sonntag), denke aber gar nicht daran, das Geld in Kleidung zu investieren. Ich trage schon seit so vielen Hunderten von Ewigkeiten schlechtsitzende Stoffhosen und bescheuerte Hemden und kaputte Schuhe und fleckige Mickymausunterwäsche, dass es total auffallen würde, wenn ich plötzlich mit geilen Wrangler Jeans oder gar einer Veddelhose in die Schule käme. Ich will aber nicht auffallen, unter keinen Umständen. Mir ist eh schon alles peinlich genug. Ich schäme mich zu Tode, seit ich denken kann, und weiß nicht, wofür, wird schon stimmen.
Mein Zeitungsgeld habe ich sowieso viel sinnvoller investiert, in ein gebrauchtes Starflite Mofa, das mir Maik Hansen für hundert Mark verkauft hat. Woher er die Kiste hat, weiß kein Mensch, wahrscheinlich geklaut, und falls nicht, hat er dafür auf gar keinen Fall mehr als fünfzig Mark bezahlt, da bin ich mir sicher, er ist ja nicht bescheuert. Ist mir in Wahrheit auch egal. Hundert Mark, das sind umgerechnet mindestens 100 000 Bamms und Wamms plus Weihnachtsgeld. Starflites sind die schwächsten Mofas überhaupt, sogar noch schwächer als Mars Mofas aus dem Quellekatalog. Das geilste Mofa ist die Flory Dreigang, das einzige Mofa auf der ganzen Welt mit Gangschaltung. Ich kenne niemanden persönlich, der eine hat, vielleicht gibt’s die in Wahrheit auch gar nicht oder nur auf dem Papier. Meine Starflite ist weder frisiert noch angemeldet, weil mir meine Mutter kein Mofa erlaubt. Ich fahre daher schwarz, zahl weder Steuern noch Versicherung und hab auch kein Nummernschild. Wenn mich die Bullen erwischen oder wirklich mal was passiert, bin ich im Arsch und meine Eltern auch. Es ist totales Glück, dass ich die Mühle bei Ute im Fahrradkeller unterstellen darf. Ute ist so was wie meine beste Freundin. Wir gehen in dieselbe Klasse, und sie hat dauernd was am Laufen mit älteren Typen. Ihr neuer Freund war angeblich schon mal für ein halbes Jahr im Jugendknast und will mit ihr schlafen, sie ist aber noch unentschieden, von wegen ob er es ernst meint und der ganze Quatsch. Ute zieht mich regelmäßig ins Vertrauen, sie fragt mich ernsthaft nach meiner Meinung, ob sie mit ihm schlafen soll oder lieber nicht. Ich bin immer stolz wie Bolle, wenn Ute mich als ihren besten Freund vorstellt:
«Das ist Thorsten, mein bester Freund.»
Fast jeden Nachmittag treffe ich mich mit Ute, damit sie mir den Fahrradkeller aufschließt und ich endlich fahren kann. Peter Behrmann nennt diesen Zustand der Vorfreude «fahrgeil». Wo er recht hat, hat er recht, selbst wenn es Peter Behrmann ist.
Endlich sind alle da, bis auf einen. Scheiße, dann muss der eben hierbleiben, er ist schließlich nicht alleine auf der Welt.
«Abfahrt! Wir wollen mal endlich los!» Herr Schrader hat vor Wut eine rote Rübe. «Selber schuld. Wer nicht hören will, muss fühlen. Los jetzt, Abfahrt!»
Pastor Schmidt entscheidet, noch ein paar Minuten zu warten.
Zwanzig nach drei. Herr Schrader rast vor Wut: «Was soll die Scheiße. Abfahrt!!!»
Endlich erscheint am Horizont eine flirrende Silhouette. Als sie näher kommt, erkenne ich, dass es Harald Stanischewsky ist, im algengrünen Sportblouson. Oneinonein, Harald Stanischewsky, bitte nicht Harald Stanischewsky! Was soll das denn, wieso kommt der denn mit, der ist ja noch nicht mal konfirmiert und nix! Da muss der Diakon mit seiner scheißsozialen Ader dahinterstecken. Harald ist mein Feind, nicht weil ich das will, sondern weil er das will. Er ist mit fast achtzehn immer der Älteste, Stärkste und Dümmste von allen.
«Harald, zwanzig mal zwanzig, wie viel ist das?»
Harald haut zu.
Er ist eine arglistige Missgeburt, ein böser Schwachsinniger, ein elender Mistkäfer, aus gepresstem Müll gebacken. Ich bin mir sicher, dass er es auf mich abgesehen hat, deshalb suche ich Kontakt zu ihm, damit er runterkommt und es normal wird zwischen uns, aber er will einfach nicht. Was mir ernsthaft Angst macht. Er guckt mich immer wie wahnsinnig an und sagt nur einen einzigen Satz zu mir, egal, um was es geht. Beispiel:
«Sag mal, Harald, weißt du eigentlich, wie das Wetter am Wochenende werden soll?»
Harald:
«Hast du dir eigentlich schon mal in den Arsch gekackt?»
Das war’s. In den Arsch gekackt. Nicht mehr und auch nicht weniger. Er beherrscht zehn hoch zehn Varianten dieses einen Satzes:
«Hat dir jemand schon mal so richtig schön in den Arsch geschissen?»
«Wann hat man dir eigentlich das letzte Mal in den Arsch reingekackt?»
Unheimlich. Da kommt noch was. Er weiß es, und ich soll es auch wissen. Jetzt muss ich zwei Wochen in der Angst leben, von Harald aufs Maul zu kriegen. Vielleicht findet er ja ein anderes Opfer, hoffentlich, Peter Behrmann zum Beispiel. Trübe Aussichten. Na ja, jetzt ist’s eh zu spät.
Die Erwachsenen sitzen vorn und die Jugendlichen hinten. Vom Ding her ist es so, dass man umso geiler ist, je weiter hinten man sitzt, und die Geilsten sitzen auf der letzten Bank. Das war so, ist so und wird auch immer so bleiben. Ich hab mich irgendwo in der Mitte hingepflanzt, neben einem Jungen, den ich original noch nie gesehen habe. Er trägt noch beknacktere Klamotten als ich und sieht total bescheuert aus: ganz dünne, wirre gelbe Haare, wie ein alter Opi, seine Augen stehen dicht nebeneinander, und in den Mundwinkeln nisten eingetrocknete Spucke und/oder Speiseklümpchen. Außerdem sieht er irgendwie verwachsen aus, selbst im Sitzen eine gnomenhafte Erscheinung. Ich befürchte, dass er sich an mich dranhängt und ich in seinem Sog mit untergehe. Vielleicht kommt er auf die Idee, wir wären Freunde, nur weil wir im Bus nebeneinandersitzen. Von wegen. Träum weiter, Junge.
Und dann entdecke ich sie, die eine, die Göttliche, Diva, Unberührbare, heilige Maria: Susanne Bohne. Sie muss sich unbemerkt in den Bus gesetzt haben, als ich noch hinten war. Susanne Bohne, der Name ist natürlich total bescheuert und lässt in keiner Weise auf die Person schließen: Susanne ist das schönste Mädchen weit und breit, ich bin seit drei Jahren verliebt in sie, heimlich, das darf niemand mitkriegen, weil es einfach lächerlich ist. Selbst wenn ich eine Chance bei ihr hätte, bestünde die einzige Möglichkeit darin, es zu verheimlichen und bei allen Gelegenheiten eine leichte Gleichgültigkeit zu demonstrieren. Traurig, aber wahr. Aber da ich eh niemals bei ihr landen werde, brauche ich mir darum auch keine Gedanken zu machen. Susanne ist so schön, dass ich gar nicht auf die Idee käme, mir einen auf sie zu pellen. Es gibt Wichsvorlagen, und es gibt Susanne Bohne. Sie hat die Anziehungskraft derer, die keine Anstrengung unternehmen, um zu leuchten. Und sie hat wie meine Ute einen älteren Freund, Dieter Dorsch, der ist schon zwanzig. Zwanzig, unvorstellbar. Dieter Dorsch, auch schon wieder so ein Name. Er wohnt bereits in einem eigenen Apartment (O-Ton Susanne Bohne) und fährt einen Ford Taunus mit Fuchsschwanz und trägt Cowboystiefel und Totenkopfgürtel undundundoderoderoder, mit oder ohne vier Jahre älter ist er mir eine Milliarde Lichtjahre überlegen. Das vereinfacht die Sache irgendwie, und ich verzichte freiwillig auf Susanne Bohne.
Immerhin duldet sie mich gelegentlich als Kumpel, im letzten Winter waren wir zum Beispiel mal Schlitten fahren. In unserer Gegend ist eine Art Hügel (Willkommberg, woher der Name kommt, weiß ich nicht), und da treffen sich im Winter immer alle zum Wintersport. Eines Tages ist das Schönste passiert, was man sich nur vorstellen kann: Auf dem Weg den Hügel rauf habe ich Susanne an der Hand genommen, und wir sind wie ein Liebespärchen hochgestapft. Ich hab so getan, als würde ich sie nur bei der Hand nehmen, damit wir uns nicht auf die Fresse legen. Die Wahrheit braucht ja niemand zu wissen, vor allem nicht Susanne. Wir sind bestimmt zehnmal Hand in Hand den Hügel rauf, und ich habe damals schon gewusst, dass ich noch sehr lange an diese Sekunden unfassbaren Glücks zurückdenken würde. Und jetzt kommt’s: obwohl sie nach Pisse gerochen hat. Muss man sich mal vorstellen, kann sich kein Mensch vorstellen: Susanne Bohne hat echt pennermäßig nach Pisse gestunken! Zuerst dachte ich, ich wäre es, oder von irgendwo kommt dauernd eine Fahne rübergeweht. Aber nein: Aus Susannes Schoß kam eine Pissewolke gekrochen. Und trotzdem hat das meinen Gefühlen für sie keinen Abbruch getan. Das muss wahre Liebe sein. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass man sich, um über eine Trennung hinwegzukommen, den geliebten Partner beim Scheißen, Kotzen oder Pissen vorstellen soll. Am besten alles gleichzeitig. Egal, Susanne könnte mir direkt ins Gesicht pischern, und ich wäre immer noch verliebt in sie.
Ich bin mir nicht im Klaren darüber, wie ich es finden soll, dass sie mitkommt. Wie so häufig: einerseits, andererseits. Die Chancenlosigkeit hat auf Dauer was Deprimierendes, und die letzten Tage lässt sie vielleicht noch einen anderen ran. Wenn sich Freizeiten ihrem Ende nähern, geht erfahrungsgemäß nämlich einiges, und Dieter Dorsch ist vergessen, den gibt’s dann gar nicht mehr, wie die Flory Dreigang.
Obwohl Susanne eine Göttin ist, besteht der Rest ihrer Familie interessanterweise aus totalen Mongos: Die Eltern leben seit Ewigkeiten von der Sozialhilfe, ihre jüngere Schwester ist geistig zurückgeblieben, und der älteste Bruder sitzt andauernd im Knast, wie der Freund von Ute. Einzig Susanne ist verschont geblieben, körperlich und geistig gesund und eine sagenhafte Schönheit noch dazu. Wieso eigentlich? Landläufig herrscht die Überzeugung, dass die Menschen ausschließlich Produkt von Gesellschaft und Erziehung sind, und wer was anderes behauptet, ist ein Faschist. Ich bin politisch wie alle anderen auch links orientiert, bis auf Peter Behrmann, das verdammte CDU-Schwein, aber das halte ich trotzdem für ausgemachten Unfug. Na ja, kann ich ja der Meinung sein, muss ich ja nicht an die große Glocke hängen.
Harald hat sich auf die letzte Bank gesetzt, obwohl er als Neuer in der Hierarchie ganz unten steht und sich ganz normal erst mal hinten anstellen müsste, aber es traut sich niemand was zu sagen, weil alle sehen, dass er irre ist und man von ihm ohne Ansage aufs Maul bekommt. Er versaut die Stimmung auf der letzten Bank. Keiner traut sich mehr irgendwas, noch nicht mal Marina Jakob, die sich nur auf die letzte Bank gesetzt hat, um durchgefummelt zu werden. Das macht sie in der Schule auch immer so, sie lässt sich überall angrapschen, und alle tun so, als ob es Spaß wäre, dabei ist es bitterer Ernst. Jetzt sitzt sie kerzengerade da, als ob sie einen Stock verschluckt hätte, die Hände in Pfötchenhaltung, weil sie Angst hat, von Harald angetatscht zu werden, und davor ekelt sie sich, denn Harald ist nicht nur stark und groß und dumm, sondern auch hässlich, groß und dumm. Wirklich hässlich. Überall quellen Wülste aus den Scharnieren seines plumpen Körpers, sein breiter, platter Arsch wächst übergangslos in den schwabbeligen Bauch (sogenannte Salinofigur: Das Wort hab ich mir ausgedacht – abgeleitet von der Lakritzsorte Salino). Und dann das Gesicht: Mit den eingedrückten, erloschenen Augen, der ungewöhnlich niedrigen, zerknitterten Stirn und dem Karpfenmaul hat er etwas enorm Fischiges. Er weiß, dass er unglaublich hässlich ist und sich daran auch nie etwas ändern wird. Das macht ihn wütend, sehr wütend sogar: Es war nichts, ist nichts und wird auch nichts mehr, jedenfalls nicht in diesem Leben. Er wird ungefickt sterben. Das alles weiß Harald, und es macht ihn rasend.
Pastor Schmidt sitzt ganz vorn, direkt hinter dem Fahrer, Diakon Wolfram Steiß zwei Bänke vor mir, um alles im Blick zu behalten, vor allem die hinteren Reihen. Die meisten der älteren Jugendlichen duzen ihn, ich trau mich aber nicht und nenne ihn wie in der Konfirmandenzeit stoisch «Herr Steiß». Er ist was mit Mitte dreißig, verheiratet, hat zwei kleine Kinder und einen jesusmäßigen Vollbart. Pastor Schmidts Alter ist wegen des noch jesusmäßigeren Vollbarts schlecht zu schätzen, wahrscheinlich so fünfzig irgendwas. Er ist natürlich auch verheiratet und hat zwei mittlere Kinder. Vervollständigt wird das Führungstrio vom Gemeindehelfer Peter Edam, der im Gegensatz zu den beiden Vollbartträgern immer glatt rasiert ist, wahrscheinlich, weil er nur Gemeindehelfer ist. Er trägt den Spitznamen «der dumme Peter», weil er echt doof ist. Aber sehr freundlich und hilfsbereit und gut im Sport.
Mein Sitznachbar kramt aus seinem Rucksack eine Tupperschüssel hervor. Als er sie öffnet, fängt es an zu stinken. Igitt, was ist das denn? Eine braun-rote Mischung aus Fleisch, Soße, Ei, Gemüse, Kartoffeln, Eiweiß, Brot, Schmant, Eigelb und Bindemittel, sog. Napffraß. Es riecht wirklich erbärmlich. Er schluckt das Nachkriegsessen einfach so weg, praktisch ohne zu kauen, vielleicht hat er einen Tiermagen mit extra viel Magensäure. Ich verstehe nicht, wie man darauf kommen kann, in nicht ausdrücklich dafür bereitgestellten Räumen zu essen. Viel zu privat. Mein Nachbar kennt solche Bedenken nicht, sondern produziert stattdessen unappetitliche Kaugeräusche, es ist eine Art feuchtes Mundhöhlengeschnalze. Wenn er abbeißt, klingt es zungig, während des Kauens nasal und beim Runterschlucken kehlig-halsig. Ich schaue ihn angeekelt an und frage ihn, wie er heißt. Nur so, aus Langeweile und um mal zu hören, wie seine Stimme klingt. Er schaut mich an, als müsse er erst überlegen. Dann:
«Detlef.»
Das darf ja wohl nicht wahr sein, Detlef heißen ja nun echt nur Schwule. Mir verschlägt es aber noch aus anderen Gründen die Sprache: Detlef hat sagenhaften Mundgeruch und riecht nochmal komplett anders aus dem Maul als der schauderhafte Napffraß, nach verdorbenem Ei und Kohlrabi und irgendwas, wofür der Name noch erfunden werden muss. Napffraß und Mundgeruch hüllen mich ein. Der kommt nicht ungeschoren davon, denke ich, das wird noch bitter für ihn, ganz bitter. Das Schlimme ist, dass er nicht merkt, was los ist. Erwartungsfroh blickt er mich an, aber ich kneife die Augen zusammen und gucke so ätzend, dass er sich noch nicht einmal traut, mich ebenfalls nach dem Namen zu fragen.
Mein Arsch muss, dem Schmerz nach zu urteilen, wund gescheuert sein bis auf die Knochen. Ich schupper auf dem Sitz hin und her, um das Ausmaß der Entzündung zu erkunden. Überall und nirgends. Das ist ja ein schöner Start. Außerdem ist es wahnsinnig stickig, die Luft verbraucht, vorgeatmet und genitalwarzenfreundlich. Na ja, für 343 Mark kann man keinen vollklimatisierten Bus erwarten. Schmerz hin, Luft her, mir ist stinklangweilig. Was anderes außer Fünf Freunde und Landserheften hab ich nicht mit, und das kann ich echt nur heimlich lesen.
Ich schaue mich um. Das Mädchen hinter mir liest Siddhartha. Unter christlichen Jugendlichen ist Hermann Hesse ziemlich angesagt. Der Steppenwolf. Narziß und Goldmund. Das Glasperlenspiel. Alles Scheiße.
Beliebt ist auch Lektüre, die sich mit dem Sinn des Lebens beschäftigt. Der «zivilisierte» in Tüddelchen Mensch unterliegt dem schweren Irrtum, Glück bestünde darin, so viel materielle Güter wie möglich anzuhäufen. Doch da irrt der weiße Mann. Die Menschheit muss endlich umschwenken, vom Programm «Haben» aufs Programm «Sein»! Laber laber. Aber dafür ist es wahrscheinlich eh zu spät, denn laut Angaben des Denkerzirkels «Club of Rome» wird die Menschheit spätestens bis zum 1. 1. 2000 untergegangen sein, weil sie bis dahin sich selbst und die Natur komplett ruiniert hat.
Alle sind mit irgendwas beschäftigt, dann kann ich wohl doch ein Fünf-Freunde-Buch lesen: Fünf Freunde im Schlossverlies. Das Erfolgsgeheimnis von Enid Blytons Fünf-Freunde-Reihe ist die detailverliebte Beschreibung von Essen: Frühstück. Mittag. Abendbrot. Zwischenmahlzeiten. Brotzeit. Grillen. Die Bücher bestehen praktisch nur aus Mahlzeiten, Mahlzeiten, Mahlzeiten. Die Abenteuer sind nur vorgeschoben, damit die fünf Freunde genug Kalorien für die nächste Mahlzeit verbrauchen. Enid Blyton hat begriffen, um was es geht: Alle Kinder und Jugendlichen sind notorisch hungrig, und sie lesen nichts lieber als den Inhalt von prallgefüllten Picknickkörben.
Detlef hat derartigen Mundgeruch, dass er den ganzen Bus vollmieft. Das ist doch krankhaft! Außerdem bohrt er sich mit beiden Zeigefingern in den Nasenlöchern herum. Er bohrt und bohrt, und wenn er fündig geworden ist, schmiert er die Sauerei unauffällig unter die Lehne. Von wegen unauffällig, ich sehe alles: Runde Wasserpopel, grüne Schorfpopel, eitrige Blutpopel und klebrige Sehnenpopel geben sich ein ekliges Stelldichein. Bohr, stocher, wühl. Lange kann es nicht mehr dauern, bis ihm die aufgerissenen, blutenden, vereiterten Nasenflügel in Fetzen herunterhängen. Team «wund»: Ich wunder Arsch und er wunde Nasenflügel. Ich stelle mir vor, wie ich ihn fessle, dann stecke ich mir vor den Augen des Schreckgelähmten einen Finger in den Arsch und pule anschließend damit in seiner Nase herum. Als ich noch klein war, hat mich mein Opa mal gefragt, ob ich Haare in der Nase hab, und da ich nicht wusste, was ich antworten soll, hab ich einfach ja gesagt. Daraufhin Opa: «Und ich hab welche am Arsch. Die können wir zusammenbinden, harhar.» Ich fand die Vorstellung dermaßen widerlich, dass ich wochenlang an nichts anderes denken konnte und wahnsinnige Angst davor hatte, mit Opa allein zu sein.