Kartoffelspiele

Wir spielen «Beim Psychiater»: Eine Person wird zum Psychiater bestimmt und geht kurz vor die Tür. Die «Patienten» überlegen sich eine Krankheit. Einer antwortet beispielsweise immer auf die Fragen, die der Person rechts daneben gestellt wurden, oder fängt bei einem bestimmten Wort an zu weinen. Einer hält sich für den Bundeskanzler. Ein anderer lebt auf dem Mars. Der Nächste meint, er sei ein Handrührgerät (alles Beispiele). Anschließend wird der Psychiater wieder hereingerufen und muss durch Fragen herauszufinden versuchen, an was es den Patienten fehlt.

Ich fühle mich zu alt für so einen Quatsch. Egal, es ist eh das letzte Spiel, das ich mitmache. Der blonde Engel (ich hab in der Baracke mitgekriegt, dass er Heiko heißt) wird zum Psychiater bestimmt. Ich werde so tun, als wäre ich Sylvester Stallone beziehungsweise Rocky. Die anderen wählen konventionelle Irrsinnsvarianten, außer dem langen, dürren Karsten Petermann, der in die Rolle des Terroristen Andreas Baader zu schlüpfen gedenkt.

Peter Edam (entsetzt): «Aber das geht doch nicht!»

Karsten Petermann: «Wieso denn nicht. Ist doch nur ein Spiel. Da kann ich doch nehmen, wen ich will.»

Der dumme Peter (überfordert): «Na ja, wenn die Gruppe nichts dagegen hat, von mir aus.»

Karsten Petermann: «Ja, ja.»

Obwohl seine Idee originell ist, hapert es an der Ausführung. Er ist zu lang und zu dürr und kann es einfach nicht, im Gegensatz zu mir: Heiko und ich harmonieren miteinander, als hätten wir geübt. Prompt bekommen wir die meisten Lacher. Obwohl das Spiel eigentlich doof ist, macht es Spaß. Es kommt nämlich nicht aufs Spiel an, sondern darauf, was man daraus macht. Irgendwie ist die allgemeine Stimmung auch nicht mehr so gegen mich, kommt mir jedenfalls so vor. Während der Vormittagsbadezeit verziehe ich mich in die Baracke. Zum Kacken. Von wegen.


Zum Mittagessen gibt’s Milchreis mit Butter, Zucker und Zimt. Noch nicht mal heiße Kirschen oder so was. Bei 343 Mark sollte doch wohl eine Portion Beerenobst drin sein! Zum ersten Mal salzt Detlef nicht nach.


Der Nachmittag steht im Zeichen sogenannter Kartoffelspiele. Auch schon wieder was für Kinder. Zuerst gibt es ein Wettrennen mit Kartoffeln zwischen den Knien, die nicht herunterfallen dürfen. Nächstes Spiel: Eine Kartoffel muss in ein Tor geschossen werden. Dabei darf der Spieler nur auf einem Bein hüpfen. Auch schon wieder albern. Kartoffelschälen: Wer kann die längste zusammenhängende Schale abschneiden? Gewicht schätzen: Wer kann genau ein Kilogramm Kartoffeln in einen Eimer legen? Präzisionskartoffelschälen: Wer kann genau 150 Gramm Kartoffelschalen schälen?

Mir fällt eine Zeltnachbarin von Susanne Bohne auf: Ina Blankenburg. Sie passt zu den Kartoffelspielen wie die Faust aufs Auge, weil sie nämlich auch irgendwie kartoffelig aussieht. Warum, kann ich nicht genau sagen, ist aber so. Sie hat einen leichten Entenarsch und gar keine Titten. Nicht klein oder mini: gar nichts. Unten Mädchen, oben Junge. Auch schon wieder geil. Ich stelle mir vor, wie ich ihr die Bluse aufknöpfe und sie sich wegen der nicht vorhandenen Oberweite ziert. Sie weiß nicht, dass es in Wahrheit das Einzige ist, was ich an ihr scharf finde.

«Lass das, Thorsten.»

«Was denn? Wieso denn?»

«Das geht nicht.»

«Wieso denn nicht? Wieso geht das nicht?»

«Nee, ich will nicht.»

«Wieso willst du nicht?»

«Nee.»

Usw.

Georg von den fünf Freunden ist eigentlich ein Mädchen, Georgina, möchte aber viel lieber ein Junge sein und nennt sich deshalb Georg. Auch schon wieder geil.


Badezeit. Die dicken Fiedlers sitzen todschwer mit hängenden Bäuchen auf der Bank und schauen sehnsüchtig aufs Meer. Niemals würden sie sich mit ihren aufgedunsenen Seehundskörpern reintrauen. Alter und Fettleibigkeit sind ein Käfig. Schrader raucht und malträtiert Herrn Korleis («Besser Prösterchen als ins Klösterchen, harhar»). Wieso tut der sich das an? Er könnte doch einfach im Haus bleiben.


Endlich kommt Pastor Schmidt zurück, hastet aber sofort in die kleine Pastorenwohnung. Er scheint gereizt zu sein. Keine gute Gelegenheit, mit ihm über mein Anliegen zu reden. Vielleicht kommt er ja gleich wieder raus. Ich warte bei der Tischtennisplatte, wo sich die beiden Weltmeister ein Match auf hohem Niveau liefern. Echt gut können die spielen. Susanne Bohne steht auch da und beachtet mich nicht.

Der Pastor verlässt die Wohnung erst wieder zur Abendandacht. Sein Thema: Der Glaube als Getriebe. Immer diese dämlichen Vergleiche: Den Glauben muss man sich vorstellen als … Eigentlich kann man alles einsetzen: Der Glaube als chemische Versuchsanordnung. Der Glaube als Supermarkt. Der Glaube als Hotel. Gott ist der Besitzer, Jesus Portier, der Fahrstuhl der Weg ins Paradies, die Sauna die Hölle, Zimmermädchen Engel, Frühstücksraum auch irgendwas, man muss nur lange genug drüber nachdenken.

Nach dem Abendbrot habe ich totalen Schmachter. Pastor Schmidt scheint noch gereizter zu sein als vorhin. Dann fahr ich eben morgen, auch egal.


Schon wieder Spieleabend. Fast alle spielen in den gleichen Besetzungen wie gestern. Peter Behrmann: alleine. Ich auch. Heiko und Tiedemann unterhalten sich angeregt, kein Reinkommen. Ich warte darauf, dass mich Pastor Schmidt auffordert, die Mühlepartie des gestrigen Abends fortzusetzen. Mein Schicksal bis in alle Ewigkeit: Pastor Schmidt und ich sitzen uns gegenüber, getrennt durch ein Spielbrett. Schweigend rücken wir Stein um Stein um Stein. Mühle! Mühle! Mühle! Mühle! Mühle!

Doch dann passiert, was ich nicht für möglich gehalten hätte: Heiko kommt zu mir rüber.

«Sag mal, spielst du Doppelkopf?»

«Ja.»

«Tiedemann auch. Dann brauchen wir noch ’nen vierten Mann.»


Wieso habe ich Roland Schmidt-Wagenknecht bisher eigentlich übersehen? Wie Frau von Roth hat er diesen gewissen Zug, ganz anders als die Schmidts, Behrmanns, Edams und Stanischewskys dieser Welt. Scharfgeschnittenes Gesicht, Höckernase, überheblicher Blick. Von oben herab, Dünkel nennt man das in Adelskreisen. Blasiertheit. Ich kenne sonst niemanden mit Doppelnamen, Doppelnamen sind die Vorstufe zum Adel. Peter Scholl-Latour/Kaiserliche Hoheit Otto von Habsburg. Roland Schmidt-Wagenknecht/Balduin von Nuttmann. Heiko heißt mit Nachnamen Rost, und jetzt kommt’s: Sein Vater ist Kfz-Sachverständiger! Gestatten, Rost, haha. Ob der Name wohl gut im Geschäft ist? Wahrscheinlich gerade.

Wir spielen, ohne viel Worte zu wechseln. Fuchs. Gewinnen mit oder ohne den Alten. Doppelkopf. Noch ein Doppelkopf. Und noch ein Doppelkopf. Der Schöne, der Coole und der Adlige. Ich (der Kleine) habe es mit den drei geilsten Typen überhaupt zu tun, ein Wunder, dass sie mich dabeihaben wollen. Sagenhaft. Spitze. Ich versuche, nicht weiter drüber nachzudenken. Vielleicht habe ich ja irgendeine verborgene Seite, von der ich nichts weiß. Noch nicht. Egal, ich werde Zweiter, hinter Roland und vor Tiedemann und Heiko. Wir beschließen, morgen weiterzuspielen.

Vor dem Schlafen gehe ich noch eine rauchen, ich rauch eh viel zu wenig, man kommt ja nicht dazu. Die drei Spastiker liegen bereits in ihren Schlafsäcken. Ich bin auf die Idioten zum Glück nicht mehr angewiesen. Aus Torstens Ecke riecht’s nach Leiche, aus Detlefs Ecke nach Kohlrabi-Hackbraten und aus Andreas’ Ecke nach Schwanz. Kommt mir jedenfalls so vor. Ob sich einer von denen schon einen gekeult hat, und wenn ja, wie oft? Und wenn, wo? Und wie oft hintereinander? Oder gegenseitig? Fragen über Fragen.