Scharbeutz

Lasst uns froh und munter sein.

REISE, REISE!

Findet Schrader das witzig, kann er nicht anders, oder will er uns durch Stumpfsinn demütigen? Ich werde es wohl niemals rauskriegen.

Am Nachmittag geht’s das erste Mal nach Scharbeutz. Scharbeutz, Stadt am Meer, fällt mir ein. Genialer Slogan. Ich muss mir zum Glück keine Gedanken darüber machen, wem ich mich anschließe, das gemeinsame Doppelkopfspiel hat uns zu einer Clique zusammengeschweißt: Heiko Rost, Roland Schmidt-Wagenknecht, Tiedemann und ich. Im Haus Seemöwe kauern die beiden Dachdecker auf halb acht im Reet und machen anzügliche Bemerkungen.

Dachdecker 1: «Eh, du da! Ja, dich meine ich, die Rothaarige mit den dicken Titten. Was hast du denn heute noch vor?»

Katrin hat echt dicke Titten. Und dicke Beine und einen dicken Po, fuchsrote Locken, Sommersprossen, abstehende Ohren und kalkweiße Haut. Der Fluch der Rothaarigen. Sie ist sehr schüchtern, ich habe sie noch nie reden gehört. Und jetzt steht sie wegen ihrer Titten im Mittelpunkt, ausgerechnet wegen der Titten, sie kann doch noch gar nichts damit anfangen.

Dachdecker 2: «Ey, wir gehen nach der Arbeit schwimmen. FKK. Kommt ihr mit?»

Die versauten CDU-Schweine («auf der Flucht erschiiiieeße») stören sich nicht im Geringsten daran, dass die Mädchen minderjährig sind. Diakon Steiß tut so, als habe er nichts gehört, der feige Bock. Von Rechts wegen müsste er die Dachdecker aus dem Reet prügeln, aber er traut sich nicht, weil er dann auf die Fresse kriegt.

Dachdecker 1: «Hallo, ich sprech mit dir.». (Zu Dachdecker 2:) «Nun guck dir mal den Arsch von der Dunkelhaarigen an. Guck dir bloß mal den kleinen, geilen Arsch an.»

Wahnsinn, als wären sie geistig behindert oder besoffen oder beides. Alle Handwerker auf der ganzen Welt sind so.

Dachdecker 2: «Kleiner Arsch ist schnell geleckt.»


Strandstraße, Strandstraße, Strandstraße. Auf der Meerseite stehen Häuser, und auf der Landseite gibt es nichts als Wiesen und Weiden, unendliche Weiden und Wiesen, nur an einer Stelle unterbrochen von einem schrabbeligen Campingplatz, auf dem die Reichskriegsflagge gehisst ist. Haha, überall Nazis, witzig. Bis zum Ortskern ist es zu Fuß ungefähr eine halbe Stunde. Nachdem wir durch die Haupteinkaufsstraße gelatscht sind, bleibt Herr Steiß vor der italienischen Eisdiele «Sicilia» stehen und verteilt Stifte und Zettel:

«So, jetzt schreibt ihr mal alle Geschäfte, die ihr in dieser Straße gesehen habt, in der richtigen Reihenfolge auf.»

Natürlich schneide ich schlecht ab, ich habe allgemein ein löchriges Gedächtnis. Sieger wird überraschenderweise der lange, dürre Karsten Petermann. «So», sagt Steiß, «wer ein Eis essen will, soll das tun, ansonsten könnt ihr machen, was ihr wollt. Treffpunkt ist in einer Stunde wieder hier.»


Eis ist was für Kinder und Weiber. Wir (Clique) verziehen uns um die nächste Ecke, erst mal eine rauchen beziehungsweise so viele, dass der Nikotinspiegel bis zum Abend stabil bleibt. Dann latschen wir rum, ohne Plan und Ziel. Mädchen und Jungen sind getrennt unterwegs, aber das wird sich bald ändern. Irgendwann bricht sich die angestaute Liebe und Verzweiflung und Geilheit Bahn, dann wird geknutscht und gefummelt und gegrapscht und übereinander hergefallen, unter die Bluse, in die Hose, auf den Kopf. Mir ist aufgefallen, dass Tiedemann von den Weibern überhaupt nicht cool gefunden wird. Für die Jungs Popstar, für die Mädchen Penner. Sogar die ersten Brusthaare kommen schon aus den Untiefen seines schmuddeligen Pfeffer-und-Salz-Mantels gekrochen. So viel Männlichkeit macht den Mädchen Angst.

Sonnyboy Heiko kann sich Zeit lassen, die Weiber kommen irgendwann von ganz alleine angeschissen. Herrlich muss das sein, zu wissen, dass die Weiber irgendwann von ganz alleine angeschissen kommen. Bei Roland Schmidt-Wagenknecht kommen die Weiber bestimmt auch irgendwann von ganz alleine angeschissen, aber vielleicht will er auch nicht, weil er sich mit seinem geilen Doppelnamen für etwas Besseres hält und nur in Doppelnamen- oder Adelskreisen wildert. Aber warum ist er dann überhaupt mitgefahren?


Ich hab mich jetzt schon damit abgefunden, so etwas wie ein Maskottchen zu sein, das lustige, kleine Äffche, das mit seinem Zwergenkörper herumkaspert und weiter kein Aufheben um sich macht. Wahrscheinlich kann sich niemand vorstellen, dass ich mir auch so meine Gedanken mache. Einschlägige Gedanken. Das lustige, kleine Äffche. Von wegen. Im berühmten Sexualkundebuch von Günter Amendt habe ich gelesen, dass jeder Mensch ein Anrecht auf eine erfüllte Sexualität hat. Das gilt dann doch wohl auch für mich! Günter Amendt hat bestimmt noch viel hoffnungslosere Fälle therapiert.

Wir passieren den einzigen Edekamarkt. Roland bleibt stehen und schlägt vor, Saufkram zu besorgen, weil wir am Strandkiosk nichts kriegen. Die Chefin da weiß, dass wir aus der Nougathöhle sind und damit minderjährig, außerdem ist es am Kiosk sowieso zu teuer. Roland ist zwar auch erst sechzehn, könnte aber locker für neunzehn durchgehen. Also ist er für den Einkauf zuständig. Tiedemann schlägt vor, dass wir zusammenschmeißen, jeder einen Zehner. Einen Zehner, so viel? Ich hab doch nur vierzig Mark insgesamt!

«Echt, meinst du? Das sind ja vierzig Mark! Das kriegen wir doch gar nicht nach Hause geschleppt. Die vielen Flaschen, Steiß ist doch nicht bescheuert.»

«Von wegen viele Flaschen, wir besorgen uns Apfelkorn. Der schmeckt genau wie Apfelsaft und hat trotzdem Umdrehungen ohne Ende.»

«Ja. Ach so.»

«Du schmeckst den Alkohol überhaupt nicht, das schmeckt original wie Apfelsaft, ich schwör’s dir. Und für die Weiber besorgen wir Persico.»

«Persico? Hab ich noch nie getrunken. Und welche Weiber überhaupt?»

«Ist doch egal jetzt, wird man dann schon sehen. Auf Persico stehen alle Weiber drauf.»

Heiko mischt sich ein.

«Hast du echt noch nie getrunken? Perversico, weißt Bescheid, nä, haha.»

Apfelkorn, na ja. Vor Korn hab ich Angst. Einmal hat mich mein Onkel gezwungen, Doppelkorn zu trinken, ich hab die halbe Nacht überm Klo gehangen. Die anderen harten Sachen sind genauso eklig. Whiskey, Weinbrand, Rum, ich versteh nicht, wie man das runterkriegt. Aber was soll ich machen. Wenn Tiedemann sagt, das schmeckt, dann wird es getrunken, und gut ist. Hoffentlich behält er recht.


Roland steht in der Schlange und ist gleich dran. Vor ihm eine Oma mit Omaeinkäufen, hinter ihm ein Mann mit seinem vielleicht dreijährigen Sohn, der im Einkaufswagen herumturnt und nervt. Heiko, Tiedemann und ich stehen beim Naschzeug und beobachten das Geschehen. Die Oma ist gebrechlich und ungeschickt; sie braucht ewig, bis sie ihre Sachen aufs Band gelegt hat. Nervenzerfetzend. Das Kind turnt im Einkaufswagen herum und brabbelt vor sich hin, der Vater hat die unangenehme Eigenart, überlaut mit ihm zu sprechen:

«NEIN, KONSTANTIN, LEG DAS MAL WIEDER HIN.»

Konstantin, was ist denn das schon wieder für ein Scheißname?

«KONSTANTIN, ICH HAB’S DIR GESAGT, LEG DAS BITTE WIEDER HIN.»

Der hat sein Balg einfach nicht im Griff. Es brabbelt irgendwas, ich versteh kein Wort, der Vater offenbar schon:

«DAS WEISS ICH NICHT. ALLE WOLLEN GERNE CLOWNS SEIN, KONSTANTIN. DAS WOLLEN ALLE GERNE, CLOWNS SEIN.»

Was für einen grauenhaften Unfug erzählt der da seinem Kind! Wer will hier Clown sein? Niemand, niemals, unter gar keinen Umständen, Clowns sind das Allerletzte. Ich weiß zwar nicht viel, aber das ist eines der wenigen Dinge, die ich ganz genau weiß. Man möchte das Kind aus dem Wagen nehmen und schütteln:

«KONSTANTIN, DU BIST ZWAR EIN TOTAL ÄTZENDES KIND, ABER TROTZDEM: HÖR NICHT AUF DEINEN VATER. ER HAT UNRECHT. IN DIESEM PUNKT UND IN ALLEN ANDEREN PUNKTEN AUCH.»

Leider wird man Konstantin jetzt schon verloren geben müssen.

Endlich ist die Oma abkassiert, und Roland legt den Alkohol, getarnt durch Cola, grüne Weingummiapfelringe, Haribokonfekt, Mr. Freeze Stangenwassereis und eine Tüte Würmer aufs Laufband. Echt abgebrüht. Seelenruhig tippt die Kassiererin die Preise ein, ohne Roland anzugucken. Wir haben es geschafft! Doch dann:

«Wie alt bist du eigentlich?»

«Achtzehn.»

«Kann ich bitte mal deinen Ausweis sehen?»

Alles klar, das war’s dann. So ’ne Scheiße, der einzige Supermarkt weit und breit. Doch wir haben nicht mit der Genialität von Roland Schmidt-Wagenknecht gerechnet:

«Der ist im Auto. Soll ich ihn holen gehen?»

Die Kassiererin überlegt kurz, dann sagt sie:

«Nee, lass mal. 36,35 macht das dann.»

«Ach, und zwei Tüten noch.»

«36,45.»


Sagenhaft. Das hätte keiner so hingekriegt, noch nicht mal Tiedemann. Vor dem Laden klopft Heiko Roland anerkennend auf die Schulter.

«Das war jetzt aber echt geil mal.»

«Ja, kann sein. Glück gehabt.»

In Heikos blauen Adidasrucksack passen fünf Flaschen rein, Tiedemann tut die restlichen Flaschen in die eine Tüte, das Naschzeug in die andere. Heiko protestiert:

«Nee, das geht nicht.»

«Wie, das geht nicht.»

«Apfelringe und Haribos nie zusammen in eine Tüte, die verstehen sich nicht.»

«Hä, bist du bescheuert?»

«Nee, echt nicht, das gibt Krieg.»

Er quetscht die Apfelringtüte in seine Hosentasche. Wir schauen uns vielsagend an. Vielleicht ist er verrückt geworden. Egal.

Steiß wird schon keine Tütenkontrolle machen. Wir gehen zurück zum Eiscafé, die meisten sehen so aus, als hätten sie sich die ganze Zeit nicht vom Fleck bewegt. Langweiler, elende.

Auf dem Rückweg macht Tiedemann einen Vorschlag:

«Wir sparen uns das auf bis Samstag. Das muss lohnen.»


Andreas geht direkt vor mir. Wie er mit seinem Arsch wackelt, bekomme ich sofort wieder Bock. Einmal seinen dicken Schwanz wichsen, herrje, das kann doch nicht so schwer sein. Kacken kann ich für heute wohl vergessen, ich muss noch nicht mal pupsen, schlechtes Zeichen, ganz schlechtes Zeichen. Ich zähle nach: Es gären genau zehn Mahlzeiten in meinem Zwergenkörper vor sich hin.


Bimmel bimmel. Badezeit. Ich würde gerne ins Wasser, aber trau mich wegen meines aufgeblähten Leibs nicht. Indianername: «Der, der nie kacken kann». Heiko und Roland schwimmen zum Floß, während ich mit Tiedemann am Strand sitzen bleibe. Er ist jetzt so etwas wie mein Freund.

Schrader zu Korleis: «Wenn du davon keine Ahnung hast, dann kannst du dazu auch nichts sagen. Ist doch logisch. Ich sag ja auch nichts zu Dingen, von denen ich keine Ahnung hab. Entweder sahnig oder gar nicht.»

Korleis: «Ja, mmmhh.»