In der Nougathöhle
Nach drei endlosen Stunden passieren wir das Ortsschild. Ostseebad Scharbeutz. Hier liegt der Hund begraben, das sieht man gleich. Ampeln, Zebrastreifen, Seitenstraßen, Sackgassen, schließlich biegen wir in die Strandstraße. Irgendwann endet der asphaltierte Teil, danach ist die Strandstraße keine Straße mehr, sondern nur noch ein von Schlaglöchern durchsiebter Trampelpfad. Ruckel ruckel, holper holper. Endlich hält der Bus, am allerallerletzten Haus der Strandstraße, dahinter beginnt stacheldrahtumzäuntes Niemandsland, Vogelschutzgebiet. Die anderen Häuser heißen nach Vögeln: Haus Seemöwe, Haus Schwalbe, Haus Seeadler, Haus Fink, unser Haus hat keinen Namen. Schade eigentlich.
Als Erstes fällt mir ein eigentümlicher Geruch auf, der in der Luft liegt. Ich weiß sofort, dass es nirgendwo auf der Welt so riecht wie beim allerallerletzten Haus vor dem Vogelschutzgebiet in Scharbeutz, so was weiß man einfach. Vordergründig riecht es wie überall am Meer, nach Salzwasser, Algen, Gras, Sand, Möwen, Muscheln und was weiß ich. Aber dahinter, darunter, dazwischen, davor liegt noch eine zusätzliche Note. Nachdem wir ausgestiegen sind, laufen alle Jugendlichen hinters Haus (ich auch), Meer gucken. Die offene See, das Ostmeer, endlich! Irgendwo, unendlich weit hinter dem Horizont, liegt Amerika, denke ich. Natürlich ist das Quatsch, aber egal. Die USA werden seit ein paar Monaten von Jimmy Carter regiert, der im Hauptberuf Erdnussfarmer ist. Was für eine schlechte Idee, dass der mächtigste Mann der Welt Erdnussfarmer ist. Man stelle sich vor, Bundeskanzler Schmidt wäre Imker oder betriebe ein gottverdammtes Kinderkarussell. Eben. Jeden Morgen sitzt Jimmy Carter über beide Backen grinsend mit seiner debilen Großfamilie am Frühstückstisch und stopft dick mit Erdnussbutter bestrichene Weißmehlbrote in sich hinein. Dann legt er sich erst mal wieder hin, weil er so vollgefressen ist. Helmut Schmidt hingegen sitzt mit Frau Loki im spartanisch eingerichteten Reihenhauswohnzimmer, raucht zum Frühstück Zigaretten und trinkt Bohnenkaffee, um einen klaren Kopf zu bewahren. Das ist der Unterschied. Jimmy Carter wird als unbedeutendster Präsident der Vereinigten Staaten in die Geschichte eingehen, so viel steht jetzt schon fest.
Die Erwachsenen interessieren sich nicht sonderlich fürs Meer. Sie sind sofort ins Haus gegangen, um ihre Zimmer zu beziehen und die Koffer auszupacken, und danach erschöpft nach unten in den Gemeinschaftsraum, eine rauchen. Die Jugendlichen sind nicht im Haus, sondern in Zelten untergebracht, poröse, schmuddelige Viermannzelte, die dicht an dicht auf einer kleinen Wiese stehen. Getrennt sind Haus und Wiese durch eine hölzerne Wasch- und Kackbaracke, die nicht nur Arm von Reich trennt, sondern auch den Zeltplatz: in den Jungen- und den Mädchenbereich.
Es fängt an zu nieseln. Niesel niesel. Jetzt nieselt es auch noch, denke ich. Wir sammeln uns auf der Wiese, und Peter Edam verkündet, wer mit wem zusammen pennen darf oder muss. Mir soll alles recht sein, wenn ich nur nicht mit Harald oder mit Peter Behrmann in ein Zelt komme. Der Gemeindehelfer rattert mit schleppender Schleppstimme die Beschlüsse runter. Russisches Roulette. Mein Name will und will und will nicht fallen.
Zeltbelegschaft auf Zeltbelegschaft auf Zeltbelegschaft: «Susanne Bohne, Ina Blankenburg, Petra Teer, Karin Vogt.» Und Abmarsch. «Harald Stanischewsky. Peter Behrmann, nie gehört und nie gehört.» Abmarsch. Haha, Peter Behrmann, jetzt bist du dran! Aua aua, mein Arsch brennt. «Karsten Petermann und Dirk Kessler und nie gehört und nie gehört.» Abmarsch. Außer mir stehen jetzt nur noch Detlef, Andreas, nie gehört und nie gesehen und ich frierend auf dem regenglasierten Zeltplatz. Edam schaut uns vielsagend an. Alles klar. Hätte besser laufen können, aber auch bedeutend schlechter. Mit Andreas in einem Zelt, den kenne ich wenigstens. Seine dicke, große Rute zum Greifen nahe, gleichzeitig Lichtjahre entfernt. Na ja, immer nur der Schwanz des Elektrikersohnes, es gibt auch noch andere Dinge im Leben. Der Nie-gehört sieht mit seinen kohlrabenschwarzen Augen, die aus einem länglichen Totenschädel blitzen, irgendwie fies aus, vampirartig, so was. Außerdem hat er spitze Ohren, wie Mr. Spock. Detlef ist noch schiefer und krummer als im Bus. Der wird’s noch schwer haben.
Die Bettgestelle sind aus Eisen und wirken, als hätten früher Landser darauf geschlafen. Spakige Matratzen und platte Kopfkissen verstärken den weltkrieghaften Eindruck. Die Füllung der Matratze fühlt sich unangenehm klumpig an, man will gar nicht wissen, woraus die besteht. Bezüge und Schlafsäcke und Laken mussten wir selber mitbringen. Dünne, kalte Ostblocklaken, die in dem Moment feucht werden, in dem man sie auspackt. Ich bin sehr ungeschickt im Bettenbauen, dabei muss es schnell gehen, denn ich will vor der Abendandacht noch meinen Arsch behandeln. Es ist jetzt kurz nach sechs, um halb sieben gibt’s Abendbrot, davor ist Andacht. Freizeiten bestehen aus einer ununterbrochenen Reihe von Andachten. Abendandacht. Morgenandacht. Stoßgebet. Abendandacht. Morgenandacht. Gottesdienst. Abendandacht. Morgenandacht. Messe. Abendandacht. Morgenandacht. Christmette. Abendandacht. Morgenandacht. Betstunde. Und so weiter.
«Wer pennt denn wo?»
Andreas schaut fragend in die Runde.
Mr. Spock: «Ich würde gern am Eingang schlafen, wenn niemand was dagegen hat.»
Niemand hat was dagegen.
Andreas: «Ich penn hinten hier in der Nougathöhle.»
Hä, versteh ich nicht. Wieso Nougathöhle? Egal, klingt lustig, sehr lustig sogar. Andreas jedoch scheint das nur so dahingesagt zu haben, die beiden anderen reagieren nicht, und er hat seine Bemerkung auch gleich wieder vergessen. Ich nicht. Nougathöhle, passt irgendwie.
Als Nächstes räumen wir unsere Sachen in winzige, verdellte Metallspinde. Auspacken, auspacken, auspacken. Oje, da ist ja noch ein Buchstaben-T-Shirt, wie kommt das denn mit? Das war vor ein paar Jahren in, gab’s vorher nicht, hatten alle, man kaufte sich ein einfarbiges T-Shirt und ließ auf der Frontseite seinen Vornamen mit einer Art Nickicordstoffbuchstaben draufbügeln und auf der Rückseite den Namen seiner Lieblingsband. THORSTEN. DEEP PURPLE. Ich dachte, das wäre längst schon weggeschmissen. Ich knülle es zusammen und tu es in den Schmutzbeutel. Weiter im Text: Hosen, Schuhe, Pullover, Hemden, eine warme Jacke. Als Letztes die Kulturtasche, jetzt heißt es beten. Wenn mir meine Mutter Niveacreme eingepackt hat, dann wird bis morgen früh wieder alles gut, wenn nicht, muss mir neue Arschhaut eingepflanzt werden. Wühl, grabbel, stöber. Seife. Shampoo. Zahnbürste. Waschlappen. Zahnpasta. Nagelschere. Drei Tuben Fleckenteufel. Eine gegen Fett, eine gegen Blut, eine gegen Rost. Blut und Fett kann ich ja noch verstehen, aber Rost? Wühl wühl, stöber stöber, grabbel grabbel. Dann: Ja, ja, ja! Ganz tief unten, wo es feucht und krümelig ist, ertaste ich eine Minidose Niveacreme. Gerettet. Niveacreme ist ein magisches Teufelszeug, das praktisch alles heile macht. Alle anderen Cremes auf der ganzen Welt sind im Grunde genommen überflüssig. Ich stehle mich ins Waschhaus, zum Glück bin ich alleine. Mein Arsch glüht wie das Osterfeuer. Von Rechts wegen müsste ich mir vor dem Eincremen die Rosette waschen, aber das ist sehr riskant, denn es gibt nur eine Gemeinschaftsdusche. Was, wenn mich einer in gebückter Haltung und eingeschäumter Rosette erwischt, das sieht ja wohl total behindert und schwul aus. Dann bin ich geliefert. Trotzdem wage ich es, und zwar aus einem einzigen, ganz bestimmten und schwerwiegenden Grund: ICH MÖCHTE BIS INS HOHE ALTER MEINE SCHÖNE ROSETTE IN ABSOLUTEM TOPZUSTAND ERHALTEN. Deswegen und ausschließlich deswegen wasche ich mir nach jedem Kacken sofort die Rosette, damit sie für immer so aussieht, wie sie heißt: nämlich rosa. Rosetten dunkeln im Laufe des Lebens nämlich ein und werden über verschiedene Braunabstufungen schließlich tiefschwarz. Hunderttausendmal geschissen und nicht richtig abgewischt, das Ergebnis ist irgendwann verbrannte Erde. Ein abschreckendes Beispiel dafür ist mein ehemaliger bester Freund Axel, der mit seinen Eltern letztes Jahr nach Frankfurt gezogen ist, weil sein Vater als Berufssoldat alle paar Jahre aus fadenscheinigen Gründen versetzt wird. Schade. Sehr schade sogar, denn wir haben es miteinander getrieben wie die Tiere. Es fing ganz harmlos an, Doktorspiele, meinen ersten Zungenkuss habe ich von ihm bekommen, wir haben gefummelt und uns aneinander gerieben, erst mit, später ohne Unterhosen. Gegenseitig abgemolken. Wenn er mich als Ersten fertiggeschrubbt hatte, hatte ich nie Bock, ihn auch zu Ende zu wichsen, aber was blieb mir übrig unter Freunden. Arschuntersuchungen haben wir natürlich auch angestellt, und jetzt kommt’s: Axels Rosette war bereits kohlrabenschwarz. Mit vierzehn! Muss man sich mal vorstellen, kann sich kein Mensch vorstellen. Vielleicht ist die Rosettenfarbe erblich, doch selbst wenn der liebe Gott einem kein Toploch mitgegeben hat, muss man versuchen, das Beste daraus zu machen. Nach dem Kacken die Rosette einseifen kann sich ja wohl jeder angewöhnen. Ich überprüfe meine ungefähr alle vierzehn Tage in einer komplizierten Aktion aus Badezimmerspiegel, Bücken und Kosmetikspiegel meiner Mutter, na ja, kann man sich ja denken, wie das ungefähr geht.
So, fertig, ein Glück. Ordentlich abtrocknen und eine Ladung Niveacreme in die Kimme. Von einer Sekunde zur nächsten ist der Schmerz weg. Wahnsinn. Die Wundercreme ist so genial, dass es mich nicht überraschen würde, wenn sie sogar noch über eine versteckte Bleichwirkung verfügt. Wieso nennt man Schuhcreme eigentlich Wichse? Ich werde bei Gelegenheit mal jemanden fragen. Übrigens sollte man keine dunklen Unterhosen tragen, wenn man gerade eine Fuhre Nivea zwischen den Beinen kleben hat.
Bimmel bimmel. 18.30 Uhr. Andachtszeit. Es hat sich eingenieselt. Wir sind ungefähr sechzig Leute, ein Drittel Erwachsene, zwei Drittel Jugendliche. In der Mitte der Wiese stellen wir uns im Kreis auf, vorher nimmt sich jeder eine aus losen Zetteln zusammengeheftete Liedermappe von einem Stapel. Neben dem Stapel stehen zwei Paletten mit Seifenblasentuben. Hä? Ich verstehe nicht, was das soll, aber da sich alle eine genommen haben, mache ich es ihnen nach. Peter Edam grinst über beide Backen. Er hat eine Wandergitarre umgehängt, sein hellblaues T-Shirt ziert der Aufdruck «Jeder Christ ein Gitarrist». Wolfram Steiß steht neben Pastor Schmidt und hat ein strafendes Gesicht aufgesetzt. Passend zur Miene das T-Shirt: «Jesus Christus starb für dich – was tust du für ihn?» Pastor Schmidt trägt als Pastor natürlich kein T-Shirt, sondern ein Oberhemd, wie es sich gehört, und wartet darauf, dass langsam mal Ruhe einkehrt:
«Wir singen aus dem Lied Nr. 45 die Strophen 1, 3, 4, 7 und 9.»
Danke, der ödeste Christenschlager aller Zeiten. Das Lied hat ungefähr tausend Strophen und ist damit zu lang für nur eine Abendandacht. Wieso hat Schmidt die Strophen 1, 3, 4, 7 und 9 ausgesucht? Vielleicht gibt es irgendeinen Zusammenhang mit dem Inhalt der Andacht. Danke, lalalalalalala. Danke, lalalalalaa. Endlich ist das Kackstück zu Ende.
Pastor Schmidt: «Ich blicke in fröhliche, aufgeregte, gespannte, aber auch in ein paar ernste Gesichter. Viele fahren schon zum wiederholten Male mit auf die Familienfreizeit, andere, die frisch Konfirmierten zum Beispiel, zum ersten Mal. Selbst einige, die schon öfter auf Freizeiten waren, sind noch aufgeregt. Da ist jemand sogar schon Stunden vor der Abfahrt am Gemeindehaus gewesen.»
Er wirft mir einen kurzen Blick zu. Das gibt’s doch nicht, woher weiß der das? Ob die olle Roth gepetzt hat? Oder hat er gar die verkackten Landserseiten entdeckt? Krieg ist Scheiße, haha.
«Eine Seifenblase sieht schön aus und fliegt hoch hinaus. Im Leben gibt es viele Seifenblasen, große, mittlere und kleine. Gerade die großen platzen meist zuerst. Zum Beispiel Reichtum: Er verspricht Sicherheit und Glück.»
Er öffnet umständlich die Seifenblasenröhre, nimmt das Seifenblasenpusteding raus und pustet: Die Seifenblase fliegt ungefähr einen halben Meter in die Ostseeluft, bevor sie zerplatzt. Wie auf Kommando tun es ihm alle nach. Hä, gab es da eine Absprache? Egal, ich mache mit.
«Durch Reichtum erhält man viele neue Seifenblasen wie teure Hobbys und teure Vergnügungen. Aber irgendwann merkt man, dass man damit kein wirkliches Glück erreicht. Dabei ist Reichtum an sich nichts unbedingt Schlechtes, wenn er nicht als Glücksbringer dienen soll. Eine andere Seifenblase sind Erlebnisse.» – Pastor Schmidt pustet, die Gruppe tut es ihm nach. – «Immer etwas Neues sehen und erleben, hierhin, dorthin. Irgendwann merkt man jedoch, dass auch das kein wirkliches Glück bringt.»
Was redet der Mann da? Er hat doch studiert, viele Jahre, ein Akademiker, da kann er doch nicht so ein irres Zeug zusammenstammeln.
«Auch Freunde und Kameraden sind feine Sachen, aber Seifenblasen, wenn man sein Leben davon abhängig macht.» – Pastor Schmidt pustet, die Gruppe tut es ihm nach. – «Wenn ich mit dem und dem befreundet bin, wenn ich zu der Clique gehöre, wenn ich von meinen Klassenkameraden anerkannt bin, dann habe ich ein tolles Leben, ein wirkliches Leben.»
Ich schäme mich für den Pastor, das muss man sich mal vorstellen, während alle anderen sich an dem Quatsch nicht zu stören scheinen. Herr Schrader steht mit gesenktem Haupt da, man sieht ihm an, dass er nicht zuhört, er denkt bestimmt an etwas Schönes: Jägermeister, Zigaretten, das Fernsehprogramm von heute Abend. Oder vielleicht an etwas ganz anderes? Gelüste? Ihhhgitt, mit Herrn Schrader, das muss die Hölle sein. Andreas’ Schwanz ist wirklich riesig.
«Eine weitere Seifenblase sind Beziehungen zum anderen Geschlecht.» – Pastor Schmidt pustet, alle tun es ihm nach. – «Hier eine, da eine. Eine Ehe ist natürlich nicht verkehrt, sondern toll, aber wenn man den Sinn und die Erfüllung des Lebens allein in so einer Beziehung sucht, dann wird man enttäuscht werden.»
Ich stelle mir vor, mit Andreas Vergewaltigung zu spielen, das habe ich mit Axel auch häufiger gespielt: Andreas will was von mir, ich tu so, als ob ich nicht will, und leiste heftigen Widerstand, der immer schwächer wird, schließlich gebe ich mich geschlagen und mache mit.
«Reichtum, Erlebnisse, Freunde, auch eine Ehe, alles wird irgendwann, spätestens mit dem Tode, vergehen. Aber was man hier mit Jesus erlebt, wird auch im Tod Bestand haben. Er hat versprochen, dass er die, die zu ihm gehören, mit in den Himmel aufnimmt; man geht nicht mehr verloren.» – Pastor Schmidt pustet, die Gruppe tut es ihm nach. – «Allerdings wird man sich freiwillig von einigen Seifenblasen verabschieden müssen. Manche Träume und Vorstellungen wird man als falsch oder völlig unnütz erkennen und ablegen.»
Ich denke mir einen geilen Dialog zwischen Schwanzandy und mir aus:
«Nein, bitte nicht, Andy, lass mich.» – «Doch, nun stell dich nicht so an. Komm schon.» – «Bitte, das geht nicht. Wirklich nicht.» – «Wieso soll das nicht gehen. Natürlich geht das. Jetzt komm endlich.» – «Nein, bitte, du verstehst das nicht.» – «Was soll ich daran denn nicht verstehen? Los, mach keine Fisimatenten.»
Weiter im Text: «Mit Jesus bekommt man ein Leben, auch mit Erlebnissen, Freunden und vielleicht auch einer Ehe, aber mit weniger enttäuschenden Illusionen, stattdessen mit Sinn, Zufriedenheit und innerem Frieden und dauerhaften Dingen. Dies hat Jesus versprochen, und das haben einige von uns erlebt. Ich wünsche mir, dass von diesen vierzehn Tagen nicht nur eine Seifenblase übrig bleibt, die man einfach so fortpustet» – Pastor Schmidt pustet, die Gruppe tut es ihm nach –, «sondern das Gegenteil, das wünsche ich uns, mit Gottes Hilfe. Amen.»
Alle: Amen.
«Und jetzt singen wir aus dem Lied Nr. 11 die Strophen 2, 3 und 5.»
Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.
Ich frage mich wieder, ob irgendein Zusammenhang zwischen den Seifenblasen und den ausgewählten Strophen besteht. Entweder ich komm nicht drauf, oder, was ich für wahrscheinlicher halte, es gibt keinen. Aber vielleicht gibt es doch einen, und ich bin nur zu doof. Ich habe manchmal das Gefühl, in den Tümpeln meiner Dummheit unterzugehen.
Harald hat wie alle anderen brav mitgepustet, obwohl er’s garantiert mindestens so bescheuert fand wie ich, ich hab genau drauf geachtet. Eine gute Gelegenheit, sich mit ihm zu solidarisieren. Auf dem Weg zum Abendbrot gehe ich neben ihm und sage halblaut:
«Das war vielleicht ein Quatsch mit den Blasen, fandest du nicht?»
Harald guckt mich stumpf an, wie es stumpfer nicht geht: «Wann hast du dir eigentlich zum letzten Mal in den Arsch gekackt?»
Alles klar. Irgendwann wird er mich abgreifen, und dann gibt’s auf die Glocke, Jesus hin, Jesus her.
Im Erdgeschoss der Nougathöhle befindet sich der Gemeinschaftsraum, der auch als Speisesaal fungiert. Unsere Köchin heißt Frau Thieß, ich kenne sie von der Jugendfreizeit in Schweden im letzten Jahr. Obwohl sie bestimmt nicht älter als fünfzig ist, sieht sie mit ihrem Dutt und den mit dicken Stützstrümpfen umwickelten Wasserbeinen schon total aus wie eine Oma. Sie ist dauererschöpft und kommt aus der Küche so gut wie niemals raus, weil sie alles alleine macht außer Geschirr auf und wieder abdecken und Abwasch, dafür sind nach einem ausgeklügelten System wir zuständig. Keine Ahnung, ob sie Geld dafür bekommt oder aus Nächstenliebe kocht. Die Erwachsenen sitzen im hinteren Teil des Raums, die Jugendlichen vorn. Die Sitzordnung, die sich heute ganz spontan ergibt, gilt für die gesamte Freizeit, das ist immer so. Ich sitze mit den Jungen aus meinem Zelt an einem Tisch, auch das ist immer so. Mir gegenüber Detlef und Andreas, neben mir der Vampir.
«Sag mal, wie heißt du eigentlich?», frage ich ihn.
«Torsten.»
«Ach, ich auch. Mit t oder th?»
«Nur mit t.»
Andreas mischt sich ein:
«Okay, dann nennen wir euch auch so. Du» – er zeigt auf mich – «heißt mit teha und du» – er zeigt auf den Vampir – «mit te.»
Hahahahahehehehohoho!
Er lacht über seinen öden Witz aus allen Rohren. Mein Gott, was für ein Idiot, geil und dumm. Andreas guckt triumphierend in die Runde. Torsten mit t weiß nicht, in welchen Wind er seinen Vampirumhang hängen soll, vielleicht hat er auch den Gag nicht geschnallt:
«Wenn du meinst. Mir soll’s recht sein.»
Andreas guckt pro forma Detlef an, um auch dessen Zustimmung einzuholen. Der nickt, wahrscheinlich aus Angst, was falsch zu machen. Der wird es noch schwer haben, ganz schwer. Zu Hause mischt er bestimmt Popel unters Essen, damit’s besser schmeckt, aber hier geht das ja nun nicht.
Suppsch suppsch, ich habe mir echt eine ganz schön große Portion Nivea in die Kimme geschmiert. Der Brand heilt, die entzündeten Gebiete sind kochend heiß. Heilhitze, die Niveacreme saugt die Entzündung aus der Haut und wird zu Lava, Magma, weißem Magma. Das matschige Gefühl am Arsch ist auch schon wieder irgendwie geil. Zum Glück hat keiner eine Ahnung davon, was sich bei mir gerade hintenrum abspielt.
Diakon Steiß erhebt sich. Endlich. Wir falten die Hände, dann spricht er das Tischgebet:
«Herr, segne das, was du uns bescheret hast, amen.» Bravo. In der Kürze liegt die Würze.
Mit dem ausgefeilten Fünf-Freunde-Essen hat das Thieß’sche Abendmahl nichts zu tun: Graubrot, Schwarzbrot, Margarine, schlimme Augenwurst, Käsescheibletten, Gurkenscheibchen, Tomatenachtel.
Den fünf Freunden werden auf ihrem englischen Schloss zeitgleich gebratene Hähnchenkeulen, ofenwarme Brötchen, hartgekochte Eier, geräucherter Schinken sowie eine Käse- und Aufschnittplatte serviert. Zum Nachtisch Eis mit Sahne oder Früchten und Erdbeerkuchen. Zu trinken gibt’s frischgepresste Säfte, Malzbier und einen Krug eisgekühlte Limonade.
Detlef beschmiert eine Scheibe Graubrot dick mit gelber, kranker Margarine, belegt sie mit einer Scheibe schlimmer Augenwurst und packt darauf noch eine Scheibe schlimmen Wellblechkäse. Er schneidet Gurke und Tomate klitzeklein und schichtet die Matschepatsche nochmal obendrauf. Schichtbetrieb, haha. Dann nimmt er ein Salzfass und schüttet hemmungslos drauflos. Ich fasse es nicht. Wurst und Käse sind doch an sich schon salzig, da kann man doch erst mal probieren, bevor man nachsalzt. Nachsalzen, ohne vorher probiert zu haben, ist unhöflich dem Koch gegenüber. Detlef bedeckt die Stulle mit einer dicken Salzschicht. Der Typ macht mich jetzt schon wahnsinnig, der wird’s echt nicht leicht haben, denke ich.
Susanne sitzt ungefähr fünf Meter entfernt schräg links von mir. Als wir uns vorhin kurz gegrüßt haben («Hallo, Susanne» – «Ach so, ja, hallo»), schien es mir, als wäre es ihr peinlich, dass wir uns kennen und sogar gemeinsam Schlitten gefahren sind. Vielleicht wollte sie mir von vornherein klarmachen, dass sich der Kontakt zwischen uns während der kommenden vierzehn Tage aufs Allernötigste beschränken wird. Tja, kann man nix machen, vielleicht besser so, bevor ich mir noch Hoffnungen mache.
Sie wird immer hübscher. Und ihre Titten sind vielleicht groß geworden. Der fiese Dieter Dorsch zwingt sie wahrscheinlich, die Pille zu nehmen, sie muss mit ihm schlafen, obwohl sie eigentlich noch gar nicht so weit ist. Eines Tages wird er sie ohne Vorwarnung von jetzt auf gleich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Wenn es ihm gefällt. Von meiner Position aus kann ich sie unauffällig beobachten. Sie ist nicht nur schön, sondern strahlt auch noch wie sonst was. Unglaublich, wie ein einzelner Mensch strahlen kann. Dieter Dorsch schnallt das gar nicht mit seinem Fuchsschwanzgehirn, der ist nur scharf auf ihre Glocken. Wenn ich nur nicht so klein wäre! Eine Scheiße ist das alles. Ich bin mir sicher, dass ich, wenn ich zwanzig Zentimeter größer wäre, sehr wohl eine Chance bei ihr hätte. Vielleicht.
Detlef salzt sein zweites Brot wie das erste. Ich möchte es ihm am liebsten aus der Hand schlagen! Der wird’s noch ganz schwer haben hier!
Ich senke unauffällig meinen Kopf, um den Schrittmuff zu erschnüffeln. Schnüffel schnüffel. Eine süßliche Niveawolke steigt zwischen meinen Beinen auf, ganz schön auffällig. Ich muss mir gleich nach dem Essen auf dem Klo was wegmachen, sonst riecht das noch jemand, und dann bin ich fällig. Wenn jemand am Arsch nach Nivea duftet, ist ja wohl klar, was Sache ist.
Das Essen schmeckt echt scheiße. Na ja, bei 343 Mark darf man auch wie gesagt nichts Großartiges erwarten. Die Jugendlichen sind längst fertig, aber die Erwachsenen essen langsam wie die Faultiere. Es dauert bei ihnen alles unendlich viel länger, sie fressen sich in allem fest. Wir langweilen uns zu Tode, müssen aber so lange warten, bis auch der Letzte aufgegessen hat. Endlich erhebt sich Diakon Steiß und guckt forschend in die Runde.
«So, die Jugendlichen gehen dann bitte langsam rüber in die Zelte. Peter kommt in einer Stunde und guckt nach.»
Es nieselt immer noch, außerdem ist es echt ganz schön kalt geworden. Ich habe einen Schlafanzug mit Asterixmotiven und einen blauen Trainingsanzug mit. Bei den Bibbertemperaturen wähle ich den Trainingsanzug. Acht Uhr, es ist taghell, und alle sind noch total aufgekratzt. Schlafen, ein Wahnsinn! Detlef und Andreas gehen ins Waschhaus, ich bin mit Torsten allein. Torsten mit te, so ein Scheiß, ich beschließe, ihn den Namenlosen zu nennen, nur für mich, privat.
«Sag mal, ich hab dich noch nie vorher gesehen. Bist du neu hergezogen?»
«Ja.»
«Und von wo kommst du?»
«Kiel.»
Einsilbiger geht’s ja wohl nicht. Lässt mich voll auflaufen.
«Und wieso seid ihr hierhergezogen?»
«Mein Vater hat einen Laden übernommen.»
«Was denn für einen?»
«Ein Bestattungsunternehmen. Wir sind Bestatter in der vierten Generation.»
«Ach so.»
«Wenn du bei uns reinkommst, denkst du erst mal, du bist in ’ner Schreinerei gelandet. Wir stellen die Särge nämlich selber her.»
«Aha.»
«Früher haben ich und meine Schwester in den Särgen immer Verstecken gespielt.»
«Na ja, kann man nichts machen.»
«Es ist schon alles abgesprochen. Nach der Bundeswehr übernehme ich den Laden. Gerade in der Thanatopraxie sind in den letzten Jahren echt Fortschritte gemacht worden.»
«Hä? Was für ’n Vieh?»
«Thanatopraxie. So nennt man die Präparierung von Leichnamen.»
Seine Augen funkeln, und er rotzt mir, während er redet, vor Begeisterung ins Gesicht:
«Früher ist es voll oft vorgekommen, dass den Toten während der Beerdigung die Maden aus der Nase gekrochen kamen. Aber jetzt nicht mehr. Außerdem werden die Leichname immer mit so ’ner speziellen Gewürzmischung gefüllt, da kannst du Geruchsbelästigung praktisch ausschließen.»
Je länger er vom Tod spricht, desto lebendiger wird er.
«Wir haben auch ’ne eigene Messe, Bestattermesse, Intergrab heißt die. Dieses Jahr kommt als Neuheit die sogenannte Peacebox raus, sieht aus wie ein Umzugskarton, ist aber ein Sarg, aus Pappe. Aber das ist zweischneidig, weil wir da dran praktisch nichts verdienen, das ist eigentlich ein Nullsummengeschäft.»
«Wusste ich nicht.»
Weniger können sich zwei Menschen nicht zu sagen haben.
«Weißt du, was mein Vater immer sagt, wenn Kunden kommen?»
«Nee, was denn?»
«Bei uns liegen Sie richtig. Herherherherher!»
Er lacht meckernd wie eine Ziege und hört gar nicht mehr auf. Was für ein kaputter Typ. Plötzlich kommt es mir vor, als würde er Leichengeruch verströmen, obwohl ich gar nicht weiß, wie Leichen riechen, angeblich der schlimmste Geruch, den es gibt auf der Welt. Zum Glück kommen Detlef und Andreas zurück. Ob wohl was gelaufen ist in der Baracke, haha?
Ich stecke den Kopf aus dem Zelt. Nichts los, alle pennen schon. Nebenan im Vogelschutzgebiet kreischen und plappern und meckern und piepsen die Viecher, eigentlich ganz angenehm. Ich schlüpfe in den Schlafsack, was soll ich sonst machen. Komisch, eben war ich noch hellwach, und plötzlich überfällt mich bleierne Müdigkeit. Von mir aus könnte es jetzt richtig regnen. Wenn der Regen gegen das Zelt pladdert und die Vögel kreischen und die Seeluft an den Nerven rüttelt, und alles ist durchdrungen von diesem einzigartigen Geruch, und Jesus weilt in unserer Mitte. In Wahrheit glaube ich nämlich an den ganzen Kram und bete jeden Abend vor dem Schlafengehen, auch wenn ich nichts zu sagen oder zu beichten oder zu beten habe. Wenn ich mal einen Tag nicht mit Gott spreche, bekomme ich sofort ein schlechtes Gewissen.
Meistens stellt sich zum Ende der Freizeiten ein magisches Gemeinschaftsgefühl ein, bei den Konfirmanden- und Jugendfreizeiten war das jedenfalls so, wieso sollte es nicht auch bei einer Familienfreizeit funktionieren? Wobei mir die Belegschaft auf den ersten Blick extrem schwach vorkommt: Harald. Detlef. Andreas. Peter Behrmann. Der Namenlose. Herr Schrader. Die Fiedlers. Und wer weiß wer noch. Da kann Peter Edam noch so beherzt in die Saiten hauen und Diakon Steiß grimmig gucken und Pastor Schmidt tonnenweise Seifenblasen in die Weltgeschichte rauspusten.
Es ist ganz still geworden. Ich bekomme einen Steifen und denke an Andreas. Ich könnte ihn besoffen machen und dann ins Vogelschutzgebiet verschleppen. Morgen bin ich seiner überdrüssig und denke an irgendeinen anderen geilen Typ oder eine Mieze. Ein Fass ohne Boden.
Jetzt fängt es richtig an zu pladdern. Ach, ist das herrlich gemütlich. Ich muschel mich in meinen Schlafsack und nehme mir ein Landserheft.
Hitler war in seinem Größenwahn davon ausgegangen, dass der Feldzug ein Spaziergang wird und der Russe pünktlich zum Herbstbeginn besiegt ist. Außerdem hat er das Unternehmen Barbarossa viel zu spät gestartet, erst im Juni 1941, wo es doch schon im Mai hätte losgehen müssen! Nach Anfangserfolgen kam der deutsche Angriff zum Erliegen, und die Soldaten mussten in Sommeruniformen überwintern! Muss man sich mal vorstellen: Tausende Kilometer von der Heimat entfernt, nur Kinderportionen zu essen, bis zur Erschöpfung marschieren und kämpfen und dann noch durchgehend frieren. Bibberwinter 41/42.
«Ob sie uns gesehen haben?», fragte der Gefreite Krause und unterdrückte dabei ein Keuchen. Hinter ihm nur die eisige Tundra, vor ihm eine leicht aufsteigende Hügelkette. Es war totenstill.
«Hoffentlich nicht.»
Infanterist Ruschmeyer schlotterte vor Kälte, Hunger und Erschöpfung.
«Das ist mal was anderes, was?!», bellte Unteroffizier Jensen ihn an. Ruschmeyer war erst vor einer Woche nach Russland abkommandiert worden, er hatte insgeheim gehofft, bis zum Ende des Krieges in Frankreich eine ruhige Kugel schieben zu können. «Ein Schlipssoldat bist du, nur brauchbar für die Wochenschau! Lächelnd und mit Vollbart von Feindfahrt zurück. Kannste vergessen, damit ist’s vorbei, Sportsfreund!»
Ruschmeyer klapperte eingeschüchtert mit den Zähnen, doch der Unteroffizier kam jetzt erst richtig in Fahrt:
«Krieg, das ist wochen- und monatelang im Schlamm kriechen, nichts zu beißen, maximal eine Stunde Schlaf pro Nacht, Flöhe, Zecken und jede Sekunde den sicheren Tod vor Augen. Wenn der Russe unter Trommelfeuer den Schützengraben stürmt, ‹Urräh› brüllt, dass das Blut gerinnt, und es sind fünfzig Grad minus, und das MG ist eingefroren.»
Spannend. Mir fallen trotzdem dauernd die Augen zu. Herrlich ist es in der Nougathöhle. Ich versuche, noch etwas wach zu bleiben, weil die kurze Zeit, bevor man endgültig einschläft, die schönste des Tages ist, gerade wenn es draußen ungemütlich ist und es regnet und man das Meer hört und den Wind und die Vögel. Von irgendwo weit weg höre ich so was wie Donner oder eine Explosion, dann schlafe ich ein.