Stalingrad – Minusgrad

Auf dem Weg zum Waschhaus treffe ich Ina Blankenburg.

«Hallo, Ina.»

«Hallo, Thorsten. Na?»

«Hoffentlich wird das Wetter bald mal besser. Hast du was gehört?»

«Ja, soll besser werden die nächsten Tage.»

«Ach so, ja, dann ist ja gut.»

«Bis nachher.»

«Ja, nä.»

Sie ist wirklich platt wie ein Brett. Echt ’ne interessante Idee, Andreas untenrum nackt und Ina obenrum. Eigentlich Quatsch, dann könnte man auch gleich ganz Andreas ausziehen, aber das ist trotzdem etwas anderes. Ich friere wie sonst was, außerdem ist es tierisch windig. Stalingrad = Minusgrad.

Der Russe leitete seine Offensive mit schwerem Artilleriebeschuss ein. Ich hatte schon seit Tagen kein Gefühl mehr in Händen und Füßen, ein Wunder, dass ich überhaupt noch einen Schritt laufen konnte, Reflexe, reine Reflexe. Der Obergefreite Kässbohrer lag neben mir. Er hatte die Angewohnheit, sich im Schlaf an mich zu schmiegen, obwohl unsere Körper kaum noch Wärme abgaben. Kässbohrer schlief wie ein Stein, und das bei dem Höllenlärm! Ich stieß ihn an. Sein Körper war bretthart. Erfroren.

Ich spüre, dass sich die Landserzeiten endgültig ihrem Ende nähern, und beschließe, mir keine neuen Hefte mehr zuzulegen. Die Fünf-Freunde-Bücher werde ich meiner Cousine vererben, die ist jetzt acht. Ich bringe Tiedemann den Mann mit der Ledertasche zurück und leihe mir das nächste Buch: Aufzeichnungen eines Außenseiters. Auf Englisch heißt es Notes of a Dirty Old Man. Ja, ja, Dirty Old Man, so fühle ich mich auch, obwohl ich doch erst sechzehn bin.


Zum Mittag gibt es Gulasch mit Nudeln. Detlef: Salzen, salzen, salzen, und keiner merkt’s! Das gibt es doch mittlerweile gar nicht mehr, wo haben die denn ihre Augen? Susanne Bohnes helles Lachen klingt bezaubernd. Sie steht in voller Blüte, mehr geht nicht, keinen einzigen Makel hat die Prinzessin. Manchmal haben schöne Menschen eine verdeckte Schwäche, große Füße, kleine Ohren, schiefe Knie, Adamsapfel, Hühneraugen, Gurkenwaden. Susanne hingegen ist glatt, gerade, gesund und hat gar nichts, das mit dem Pissegeruch war wohl ein einmaliger Ausrutscher. Gerade deshalb geht’s vielleicht bald schon rasend schnell abwärts, und mit zwanzig ist nichts mehr übrig von ihr, hat’s alles schon gegeben. Und in der schönsten Zeit ihres Lebens gerät sie ausgerechnet an Dieter Dorsch, der mit ihrem Zauber gar nichts anfangen kann. Dieter Dorsch will nur rumschrauben und seinen Spaß haben.

Harald fängt mich ab. «Sag mal, wann hat man dir eigentlich zum letzten Mal in den Arsch gekackt?» Mir fällt nichts Gescheites ein, irgendwie macht er mir auch keine Angst mehr. Ich lasse ihn einfach stehen und gehe Meer gucken. Fiedlers hocken mit herabhängenden Schultern auf der Terrasse und stieren ins Leere, es ist, als ob sie ihre riesigen Hände nicht mehr weiterschleppen könnten. Dabei würden sie so gerne schwimmen gehen, nur ein einziges Mal!

Frau Wöllmann wird von einer Wespe gestochen, aua aua. Herr Schrader hat es genau gesehen und singt auf die Melodie von Jingle Bells: «Wespenzeit, Wespenzeit, lalalala». Er ist wirklich ein Arsch.


Nachmittags gibt es trotz des schlechten Wetters eine Fahrradrallye. Wo haben die auf einmal nur die ganzen Fahrräder her? Na, egal. Steiß und Edam müssen heimlich wie die Irren geschuftet haben, die Rallye ist spitzenmäßig organisiert und macht Spaß. Endlich komme ich mal wieder richtig ins Schwitzen.

Am Abend steht für die Jugendlichen eine Diskussionsrunde auf dem Programm, bei den Erwachsenen läuft zur Abwechslung mal nicht der Fernseher, sondern Pastor Schmidt trägt plattdeutsche Geschichten vor. Mit zunehmendem Alter vereinfachen sich die Dinge, und irgendwann gibt es nichts mehr zu diskutieren.

Wolfram Steiß steckte den Rahmen ab.

«Das Leben als Teenager. Wenn man sich die Ehe als eine Portion Eis vorstellt, dann ist die Sexualität die Sahne darauf, so hat Gott sich das gedacht. Nun ist es für einen Teenager leicht gesagt, dass man warten muss und es später mal ganz toll wird. Es wird vielen sehr altmodisch vorkommen, aber ich bezeuge, dass es sich lohnen kann zu warten. Vor ungefähr zwanzig Jahren war ich mal auf einer Freizeit, wo mir eine Frau so ein bisschen ins Auge sprang. Aber als ich sie mit der Bibelarbeit verglich, merkte ich, dass mir nur ihr gutes Aussehen gefiel. Als mir das klar wurde, war der Zauber irgendwie weg.». (Und ich hab sie ganz normal ausgezogen wie alle anderen auch und ihr mein großes, haariges Ding reingesteckt, harhar.) «Auf der Uni gab es ein Mädel, in die war ich verknallt, ich habe mich richtig reingesteigert und gestand ihr meine Liebe. Aber sie gab mir einen Korb mit den Worten: ‹Ach, Wolfram, das bildest du dir doch nur ein.› Mein Leben zerbrach an diesem Tag, so kam es mir wenigstens vor. Dann entschied ich mich für Jesus.»

Herr Steiß, der Behindertenbus ist weg! Er ist bereits gestern abgefahren!

Dann geht’s richtig los:

«Wie könnt ihr mit eurer Sexualität heute leben? So blöde es klingt: Warten ist der richtige Weg. Ich glaube, dass wechselnde Beziehungen nur negative Folgen für einen selbst haben können. Man sollte eine Beziehung nicht leichtfertig eingehen, sondern sie schon ein bisschen als Ehevorbereitung sehen. Also: ernst nehmen oder gleich lassen.»

Es kommt noch ärger:

«Außerdem sollten Christen nur Christen heiraten. Es ist schon richtig, auch außerhalb der Gemeinde Freunde zu haben, aber heiraten sollte man nur jemanden, mit dem man die tiefsten Überzeugungen teilt. Nochmal zum Thema Partnerwechsel: Mit häufig wechseln meine ich nicht jede Woche. Aber wenn man etwas mit sechzehn anfängt und jedes Jahr eine neue Beziehung hat und mit dreißig heiratet, dann hat man bis zur Hochzeit vierzehn Beziehungen gehabt!»

Steiß entpuppt sich als Zahlenmensch. Die Erwachsenen sitzen beisammen und lauschen einer plattdeutschen Geschichte nach der anderen, während Steiß zum Schlusswort ausholt:

«Ich lebe jetzt mit Jesus und bin glücklich verheiratet, und das wünsche ich euch auch. Wenn ihr noch Fragen habt, stehen wir Mitarbeiter euch natürlich zur Verfügung.»


Niemand hat Fragen.


Irgendwie hat das Sexgelaber mich angegeilt. Ich merke es erst mit einer Stunde Verzögerung, wie vor einem halben Jahr, als mich mein Onkel (Doppelkornwolfgang, der Bruder meines Vaters) heimlich ins Pornokino mitgenommen hat. Zuerst fand ich’s eklig, ohne Gefühle, unmenschlich und auch so sinnlos: «Das ist doch total bescheuert, da gibt’s ja überhaupt keine Handlung.» Mein Onkel hat mich nur mitleidig angeguckt. Recht hatte er. Zu Hause bin ich so geil geworden wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Ja, so war das damals.