Darmverschluss
Halb eins, normalerweise habe ich um die Zeit schon längst gekackt. Zwei Mahlzeiten gären in mir, und ich habe noch nicht mal einen Fingerhut wieder ausgeschieden. Woran es genau liegt, weiß ich auch nicht: Aufregung, Nahrungsumstellung, frische Luft, ungewohntes Bett, Insekten; auf der Jugendfreizeit konnte ich volle drei Tage nicht auf Klo, da hab ich’s echt mit der Angst zu tun bekommen. In einer halben Stunde ist Mittagessen, dann kommt noch eine ganze Mahlzeit hinzu. Verstopfung führt unweigerlich zu Darmverschluss, und dann ist Feierabend. Daran werde ich sterben und nicht an Gehirnschlag, Krebs oder Autounfall. Der Darm kann die übervolle Ladung nicht mehr halten, er ächzt und stöhnt und quietscht und rumort, doch irgendwann nützt alles Nachgeben und Dehnen nichts mehr, es bilden sich winzig kleine Risse, durch die der Kot heraussickert und von innen her den Organismus vergiftet. Genau so wird’s kommen, es gibt Dinge, die weiß man eben.
Ich muss es wenigstens mal versuchen. So kurz vor dem Essen ist die Baracke sicher leer. Sicherheitshalber lege ich mich auf den schmutzigen, nassen Boden und gucke, ob in einem der beiden Verschläge irgendwelche Füße herumscharren. Nichts zu sehen, nichts zu hören.
Durch leichten Druck auf die Rosette versuche ich, den Schließmuskel zu stimulieren, Sesam, öffne dich. Jetzt heißt es beten. Ich starre an die Tür und versuche an irgendwas Neutrales zu denken, an Oma, mein Fahrrad, einen Waldspaziergang. Bringt nichts, Kackhemmung, alles seelisch. Ich hänge auf dem ungeheizten Jugendklo, und durch den erbarmungslosen Ostseewind zieht sich der Schließmuskel zusammen, anstatt sich zu weiten. Ich muss es mit stärkerem Drücken probieren, presse die Lippen zusammen und zähle bis zehn. Bis fünf baue ich den Druck auf, dann wieder ab, mehrmals nacheinander. Keine Ahnung, ob das die richtige Methode ist, aber irgendeine Methode muss man sich schließlich ausdenken. Nichts. Vom Drücken bekommt man Hämorrhoiden, und wenn man’s übertreibt, sogar einen Leistenbruch. Ach, Gottachgott, warum kann das Leben nicht ein klein wenig leichter sein, ich hab doch noch gar nichts verbrochen.
QNNÖÖÖÖIIIIRRRRZZ!
Die Barackentür! Bitte bitte, jetzt nicht das auch noch! Ein Konkurrent, einer, der es besser kann und macht, schlurft in den Nebenverschlag. Laut furzend lässt er die Hosen herunter, und dann brüllt sein Arsch in die Schüssel, aber richtig. Er prustet, schreit, winselt, schreit, röhrt, brummt und schnarrt, animalische Laute, die Entleerung hat nichts Menschliches mehr. Die Redensart jemanden zusammenscheißen erschließt sich mir nun in ihrer vollen Bedeutung. Dann herrscht Totenstille. Ich hocke regungslos auf der Brille und tu keinen Mucks. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Wieso haut der nicht endlich ab, er hat mich doch schon genug gedemütigt. Meine Güte, ich verstehe nicht, wieso Leute Ewigkeiten auf dem Klo zubringen, vor allem wenn sie längst fertig sind. Lesen tut man in der Bibliothek oder in einem Lesezimmer!
Pffföörkk. Der Schlussfurz fällt auf die Essensbimmel. Nicht nur die Badezeit, auch die Mahlzeiten werden eingebimmelt. Raschel knister, der andere zieht sich rasch die Hosen hoch und geht, ohne sich die Hände zu waschen. So eine Sauerei! Mit Kackahänden zum Mittagessen in einer christlichen Gemeinschaft, das ist ja wohl das Allerletzte! Ich warte noch eine Minute, dann gehe ich auch. Während des Essens schaue ich mich unauffällig um. Irgendwo in unseren Reihen sitzt ein Monstrum, das sich höhnisch grinsend die Sachen reintut. Schaufel schaufel: sauerstechend-brackige Pranken mit starker Schwitz- und Dunstneigung, die Daumenballen mit Kotresten verschmiert, die Handflächen gelb angelaufen, in den Fingergelenkritzen Teppiche aus Kolibakterien. Ich könnte Herrn Steiß einen Tipp geben, dann würde Peter Edam mit einem kleinen Spatel von allen Verdächtigen Proben nehmen, und das Schwein müsste mit dem nächsten Zug nach Hause fahren, ohne Geld zurück natürlich. Obwohl, eigentlich kann sich Peter den Test auch sparen, denn nach menschlichem Ermessen kommt nur einer in Frage: Harald Stanischewsky, wer sonst? Ich habe in der Quick gelesen, dass sich die Deutschen von allen europäischen Völkern am seltensten die Hände waschen. Wundert mich nicht, denn Deutsche sind alles Schweine. Früher hatte ich mir nie vorstellen können, dass es den Nationalsozialismus wirklich gegeben hat, jetzt brauche ich nur jemand flüchtig anschauen und weiß sofort, welche Karriere der unter Hitler gemacht hätte: SA-Scherge, Blockwart, Gestapokommissar, Lagerleiter, Gauleiter, Göring, Hitler selbst. Im Grunde genommen haben die Terroristen recht mit ihrer Behauptung, Deutschland sei immer noch bis oben hin mit Nazis verseucht.
Scheiße hin, Kackhemmung her, ich hab Hunger. Es gibt Hackbraten, der in einer dünnen braunen Soße schwimmt, Beilage Salzkartoffeln, Erbsen und Wurzeln. Hastig fülle ich mir auf, bevor alles weg ist. Rasend schnell muss die Sättigung vonstattengehen, denn die Küche arbeitet aus Etatgründen (343 Mark) mit künstlicher Verknappung. Nachschlag, nein danke. Verhungern wird man schon nicht, nur ein wenig abnehmen, und das sieht immer gut aus. Ich gucke verstohlen zu Susanne Bohne rüber. Auch sie isst mit großem Appetit. Ihre Brüste wirken richtiggehend aggressiv, wie sie so hin- und herschaukeln. Egal, der Hackbraten schmeckt besser, als ich dachte, ich erwische sogar ein winziges Stück Tomate. Hmm, Tomate, mein Lieblingsgemüse. Wenn ich bis zum Ende meines Lebens nur noch eine Gemüsesorte essen dürfte, wäre das Tomate. Dicht gefolgt von roter Paprika und Erbsen. Erbsen schmecken am besten, wenn man sie direkt aus der Schote pult. Wenn Harald Erbsen aus der Schote pult, hat er mehr Scheiße im Maul als Erbse, denke ich. Das Mischgemüse war zu lange im Wasser und sondert eine klare gelbe Flüssigkeit ab. Auch die Kartoffeln sind verkocht, sie fallen auseinander, bevor die Gabel den Mund erreicht. Ist das alles eklig. Detlef scheint es nicht zu stören, er arbeitet wie immer mit ungeheuren Salzmengen nach. Wieso fällt das niemandem auf?
Was bei den fünf Freunden wohl gerade so auf dem Tisch steht? Knuspriges Spanferkel, kalter Braten, Fischteller, Fischsuppe. Pommes frites. Selbstgemachter Eierstich, Gemüsesuppe mit Hühnchen. Schweres, dampfendes Bauernholzofenbrot. Zum Nachtisch exotischer Obstsalat, Eisbombe, hausgemachte rote Grütze mit Vanillesauce, Schokokuchen mit flüssigem Kern. Waldmeisterbrause, diverse Säfte, Mokka.
Bei Frau Thieß gibt’s zum Nachtisch Vanillepudding mit Haut und dicker Kirschsoße. Das schmeckt jetzt aber echt mal richtig scheiße. Und der ewige Tee. Wie kann man überhaupt auf die Idee kommen, Kinder und Jugendliche mit Tee zu foltern. Meine Mutter schießt in dieser Beziehung den Vogel ab: Wenn ich nach dem Sport oder Spielen nach Hause komme, serviert sie mir nicht etwa eine herrlich zischende Brause mit extra viel durstlöschender Kohlensäure, sondern brühheißen Tee. Das muss man sich mal vorstellen, kann sich kein Mensch vorstellen: Man hat getobt und geschwitzt und sonst was und soll allen Ernstes den Durst mit Tee löschen. In kleinen Schlucken, damit man sich nicht die ganze Fresse und die Speiseröhre verbrennt. Wer denkt sich so was aus? Die ernsthaft ernstgemeinte Begründung meiner Mutter: Tee sei das gesündeste Getränk überhaupt, weil es alle lebensnotwendigen Mineralien und Vitamine und Gerbsäuren enthalte. Eigentlich könne der Mensch auch nur von Tee leben. Diskussion beendet. Ich trinke deshalb immer viel zu wenig und habe wahrscheinlich schon mit zwanzig einen Nierenschaden. Die Kacknieren fühlen sich sowieso komisch an. Von Rechts wegen dürften die sich gar nicht anfühlen, gesunde Organe fühlt man nicht, die sind einfach da und funktionieren.
So, fertig. Die anderen Jugendlichen auch. Aber die Scheißerwachsenen essen wie immer schneckenlangsam, um uns zu quälen. Na ja, sie haben den ganzen Tag eh nichts vor. Der größte Quälgeist ist Pastor Schmidt. Vor jedem neuen Bissen inspiziert er seinen Teller, als müsste er erst mal gründlich überlegen, was er sich als Nächstes in den Vollbart schiebt. Etwas Hackbraten? Ein Kartoffelstückchen? Eine Gabel Mischgemüse? Hatte nicht bereits sein letzter Bissen aus einem Stück Braten bestanden? Denk denk, grübel grübel. Dann wäre nach Adam Riese Kartoffel an der Reihe! Gipfel des Terrors: Nach ungefähr jedem zehnten Bissen legt er das Besteck vollständig aus den Händen, faltet seine Hände zum Gebet (Hügel, A, Pyramide, was weiß ich) und unterhält sich oder sinniert. Unfassbar.
Ha, jetzt seh ich’s: Harald riecht an seinen Händen. Also hatte ich recht. Was da außer Scheiße wohl noch so alles dranklebt? Bakterien, Mikroben, Viren, Kroppzeug. Es bereitet ihm offenbar ein dumpfes Vergnügen, wie der Geruch von Scheiße, Pisse, Wichse, Schweiß, Dreck, Hackbraten, Mischgemüse und verkochten Kartoffeln sich zu einer Schwade vermengt. Nach dem Essen legt er sich bestimmt in den Schlafsack und lässt die versifften Hände im heißen, feuchten Dunkel ausdünsten, danach nestelt er an seinem eigenen großen, lappigen, faltigen, schmutzigen, zusammengeklebten Sack, er schiebt die Eier in die Bauchhöhle und wieder zurück in den Beutel, stundenlang geht das. Eier, Eier, Eier.
Ich weiß schon jetzt ganz genau, wie Harald in zehn Jahren aussieht: Vom Halbfischigen ins Ganzfischige gekippt, Haare ausgefallen, der Kopf, der ansatzlos in den mit roten Quaddeln zugewachsenen kurzen Hals übergeht, sondert ununterbrochen ein dickflüssiges gelbes Sekret ab, das den stumpigen Oberkörper hinunterrinnt und dann in den Ausläufern der blondroten Schambehaarung versickert, die eingewachsenen Finger- und Zehennägel gleichen Krallen, unter den Achseln dichte Nester mit Taubendreck, Milben, Sporen und Wurmeiern. Um jemanden zu töten, braucht er bloß den Arm zu heben und seinen Feind einen tiefen Zug aus der Achselhöhle nehmen zu lassen. Die Arschritze ist mit eingetrockneten Kotresten verklebt, die Eichel bedeckt von einer Pilzhaube, die abgestorbenen Hoden dunkelbraun angelaufen. In sämtlichen Falten, Kratern, Bunkern, Rissen nisten Schmutzinseln, Drecksatolle, käsige Gerinnsel, die Füße pilzige Stumpen. So ungefähr.