Kapitel 16
Einige Zeit später, in der Finsternis der noch immer mondlosen Nacht, brachten Sir Marmaduke, die Männer, denen er am meisten vertraute, und ein elender falscher Hund, dem er nicht vertraute, ihre Pferde hoch über Sir Johns von den Engländern besetztes Kinraven Castle zum Stehen.
Dunkel und stolz ragten die Mauern der Burg auf der anderen Seite eines langen, schmalen Sees auf, hinter dem sich eine endlose Fläche flacher, sanft ansteigender Hügelkämme erstreckte.
Flache, grasbewachsene Hänge.
Erstklassiges Weideland, übersät von einer großen Anzahl gemächlich dahinzockelnder dunkler Brocken.
Keithscher Binder.
Das beste Rindfleisch, das binnen eines Dreitageritts zu finden war.
»Hier?« Sir John trieb sein Pferd durch ein dichtes Stechginstergebüsch, um Marmadukes Seite zu erreichen. »Habt Ihr mich falsch verstanden? Dort...«
Er unterbrach sich und zeigte auf das ferne Ende des Sees, wo Kinraven Castle durch den Nebel zu erkennen war. »Es sind diese Weiden dort, wo die Rinder grasen.«
Den Arger des anderen ignorierend, ließ Marmaduke seinen Blick Sir Johns ausgestreckter Hand über das nächtlich schwarze Wasser folgen. Es brannten noch einige Lichter in Kinravens schmalen Fenstern, und die Bewegungen schattenhafter Gestalten waren oben auf den Zinnen zu erkennen.
»Ihr seid verrückt, wenn Ihr glaubt, auch nur einen einzigen Ochsen an diesem Hang zu finden«, beharrte Sir John ärgerlich.
»Man könnte genauso gut sagen, dass Ihr verrückt seid, so zu reden«, wandte sich Ross an den enteigneten schottischen Adligen. »Es gibt Leute, die für weniger ihre Zunge verloren haben«, fügte er hinzu und trommelte mit den Fingern auf dem Griff seines Dolchs, der unter seinem Gürtel steckte.
Ein bedrohliches Glitzern in den schmalen Augen ritten die beiden anderen Highlander näher. James drängte sein Pferd zwischen sie, und auch sein Gesicht war ganz angespannt vor Ärger.
Aber es war nicht Sir John, dem dieser Ärger galt. James starrte an ihnen vorbei zu den zahlreichen, am Rand des fernen Seeufers verstreuten schwarzen Flecken.
Eine dumpfe, hitzige Gespanntheit strahlte von ihm aus. »Es regt mich auf, wenn ich daran denke, wie viele meiner Leute mit nichts anderem als Fisch und Seetang im Magen zu Bett gegangen sind.«
Aufgebracht stieß er den Atem aus. »Sie sind alle da, unsere gesamte Herde«, schäumte er mit einem Seitenblick auf Marmaduke. »Erzähl mir nicht, wir wären diesen weiten Weg gekommen, um einen einzigen Ochsen an einem bewaldeten Hang zu suchen, wenn so viele in greifbarer Nähe sind?«
»Wir brauchen heute Nacht nur einen, obwohl zwei noch besser wären«, entgegnete Marmaduke mit der Ruhe, die er sich in Jahren des Kampfs gegen seine Dämonen angeeignet hatte. »Hab Geduld, mein Freund, bald werden wir auch die anderen holen.«
Und wenn wir jetzt gleich hinunterreiten würden, um sie zu holen, würden wir feststellen, dass uns dort unten mehr erwartet als Ochsen und Nebel.
Sir John gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Ihr werdet nichts anderes als Stechginster und Buschwerk an diesem steilen Hang finden.«
»Glaubt Ihr?« Marmaduke erwiderte ruhig seinen hochmütigen Blick und saß dann ab. Während er eine zusammengerollte Ochsenhaut vom rückwärtigen Teil des Sattels losband, warf er Sir Alec einen kurzen Blick zu. »Sag Sir John, wo du vor zwei Nächten warst.«
»An ebendiesem Hang hier«, erklärte Alec, während er aus dem Sattel stieg und nach seiner eigenen Rindshaut griff. »Ich habe mich ein wenig umgesehen. Nach Ochsen und nach Schweinen.«
Nachdem er die schon etwas schäbige Haut ausgerollt hatte, legte er sie sich um die Schultern. »Ich sah mehr als genug Rinder in dem Stechginster in dieser Gegend, aber keine Schweine.«
Er bedachte Sir John mit einem humorlosen Lächeln. »Aber wir hoffen, dennoch heute Nacht noch eins zu fangen.«
Ein Ausdruck der Verärgerung huschte über Sir Johns Gesicht.
Der Verärgerung... und noch etwas anderem.
»Dann lasst uns jetzt aufhören mit der Alberei und von hier verschwinden«, knurrte er und stieg nun ebenfalls von seinem Pferd. »Warum wolltet Ihr, dass ich Euch hierher begleite, wenn Ihr ja doch nicht meinen Rat befolgen wollt, wo der beste Platz für einen solchen Diebstahl...«
»Diebstahl?!« Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung sprang James aus dem Sattel und hastete zu ihnen hinüber.
Ohne das Geringste Stolpern oder Hinken.
Marmaduke wandte sich ab, um sein Lächeln zu verbergen.
Die Highlander folgten seinem Beispiel.
Hinter ihnen fuhr James den Freund seines verstorbenen Vaters an. »Wie könnt Ihr es wagen, ein solches Wort zu benutzen, wo Kinraven besetzt vor Euren Augen liegt? Wenn wir die Burg noch heute Nacht zurückerobern müssten, würdet Ihr das dann auch Diebstahl nennen?«, tobte er, »Wo liegt der Unterschied?«
Marmaduke fuhr herum und sah, dass James Sir John am Arm packte ... und einen vollen Kopf größer wirkte als noch einen Augenblick zuvor.
Er räusperte sich und griff dann ein. »Freunde«, sagte er und benutzte diese Titulierung mit voller Absicht, »Euer Geschrei wird jeden warnen, der in diesen Hügeln auf der Lauer liegt und auf uns wartet.«
»Gott bewahre!«, rief Sir John, entriss James seinen Arm und fuhr zu Marmaduke herum. »Zuerst wollt Ihr, dass wir mit Rindshäuten auf dem Rücken herumschleichen, und nun sollen wir auch noch in einen Hinterhalt geraten?«
»Vielleicht würde ich das ja gern von Euch erfahren«, forderte Marmaduke ihn barsch heraus, während er demonstrativ seine Rindshaut um die Schultern legte. »Sind de la Hogues Männer da draußen? Oder war der Hinterhalt nur für Euer Weideland geplant?«
Er deutete auf das nächstliegende Ende des lang gestreckten Sees, dessen nächtlich dunkles Wasser deutlich sichtbar war am Fuß der Hügel. »Vielleicht dort, wo sich der Weg so stark verschmälert, dass es fast unmöglich ist, zu zweit nebeneinander zu reiten?«
»Ihr seid verrückt.« Sir Johns Hand glitt zu seinem Schwertgriff. »Ein illegitimer Sohn von ...«
»Und Ihr seid ein toter Mann, sollte sich mein Verdacht bestätigen.« Marmaduke packte ihn am Nacken seines Brustpanzers und hob ihn auf, bevor er seine Klinge ziehen konnte.
»Seid froh, dass ich Ehrenmann genug bin, um zu warten, bis ich mir sicher bin«, fügte er hinzu, als er ihn wieder freigab.
Keuchend rieb Sir John sich seinen Hals und funkelte Marmaduke böse an. »Das wird Euch teuer zu ...«
Ein Rascheln in den Büschen ließ ihn innehalten.
Trampelnde Geräusche ... und das Klirren von Stahl, als die Männer ihre Schwerter zogen. Alle außer Sir John. Puterrot im Gesicht vor Ärger, stand er da und starrte auf das Stechginster-und Weißdorndickicht, aus dem die Geräusche kamen.
Eine mit Erstaunen und lächelnden Gesichtern begrüßte Unterbrechung, die dem Augenblick die Spannung nahm, als die Quelle der Geräusche aus den Schatten brach.
Ein Ochse, und noch dazu ein so prachtvolles Exemplar, wie sie es sich besser gar nicht hätten wünschen können.
»Allmächtiger!« Gowan ließ seine Klinge sinken und grinste das mächtige Tier an. »Er ist fett genug, um jeden Mund in Dunlaidir zu füllen, und die der Dorfbewohner noch dazu.«
Aber dann trieb der stürmische Wind noch andere Geräusche zu ihnen hinüber. Noch mehr Rascheln, diesmal jedoch begleitet von einem Chor, der nichts Gutes zu verheißen schien: dem Klirren von Gebissstangen und Zügeln, dem Scheppern von Rüstungen und dem gedämpfte Klappern eisenbeschlagener Hufe auf feuchtem Untergrund.
»Auf die Pferde!« Marmaduke ließ die Rindshaut fallen und schwang sich in den Sattel. »Schwerter!«, schrie er, sein eigenes, dessen gut geschärfte Klinge in der Dunkelheit schimmerte, hielt er bereits in der Hand.
»Cuidich' N'Righ!«, brüllten seine Männer den Schlachtruf der MacKenzies, und ihre kühnen Schreie erhoben sich sogar noch über das immer lauter werdende Trommeln herannahender Pferdehufe.
Angesichts ihres Geschreis und des Wieherns der nervös tänzelnden Pferde stürzte sich der Ochse blindlings in das Unterholz. Im selben Moment brach eine Schar Berittener aus den Bäumen, und ein heftiger Tumult brach aus.
Die ihre Schwerter schwingenden Reiter donnerten auf die Lichtung und umkreisten Marmaduke und seine Männer, und ihre Klingen blitzten silbern vor dem fahlen Grau des Nebels.
Mit einer ruhigen Gefasstheit, an der es den heißblütigen Highlandern leider mangelte, richtete Marmaduke sich in seinen Steigbügeln auf, hob sein Brgitschwert hoch über den Kopf und wartete, bis die Bitter zu einem schnellen, wütenden Angriff vorstürmten.
Kaum kam der erste Angreifer in Reichweite, ließ Marmaduke sein Schwert in einem tödlichen Bogen hinunterfahren und traf seinen Gegner mit einer derartigen Wucht, dass er den Mann fast in der Körpermitte durchtrennte.
»Strongbow! Links!«, warnte einer seiner Männer, und er wirbelte herum, um einem gewaltigen Hieb von der Seite auszuweichen.
Unbeirrt holte dieser neue Angreifer jedoch zu einem weiteren vernichtenden Schwerthieb aus. Mit einem ohrenbetäubenden Klirren trafen ihre Schwerter aufeinander, und die pure Wucht des Aufpralls sandte einen scharfen Schmerz durch Marmadukes Arm.
Er parierte den nächsten Hieb mit der flachen Seite seines Schwerts und schlug seinen Gegner durch pure, rohe Kraft zu Boden.
Sir Alec erschien an seiner Seite, sein prächtiges Highlandschwert schon rot vom Blut der Gegner. »Da sind noch mehr«, schrie er über den Lärm des Gefechts. »Eine ganze Horde von Schurken strömt dort aus dem Wald.«
Den brennenden Schweiß aus seinem gesunden Auge wegblinzelnd warf Marmaduke einen raschen Blick zum Band der Lichtung.
Alec hatte nicht übertrieben.
Eine wahre Flut bewaffneter Berittener ergoss sich über den Hang und wälzte nach vorn, um Marmaduke und seine Männer durch ihre pure Übermacht in die Mitte dieses höllischen Tumults zu treiben.
»Der Himmel stehe uns bei«, murmelte Marmaduke und hoffte, dass die Heiligen über ihnen wachten.
»He, Junge - meine Axt!« Sir Gowans Schrei ertönte irgendwo zu seiner Linken, und die Erregtheit in der Stimme des Highlanders ließ Marmadukes Blut erstarren.
Er fuhr herum und sah, dass Gowan seine Streitaxt James zuwarf. Ohne Schwert, das er im Kampf verloren haben musste, rang James Keith mit einem behelmten Ritter und bemühte sich tapfer, mit seinem Schild die heftigen Schwerthiebe des Mannes abzuwehren.
Schwer atmend starrte Marmaduke über das Chaos, und sein Mut sank, als er sah, wie die Axt an James' ausgestreckter Hand vorbeisauste.
James stieß einen gellenden Wutschrei aus, als er sie verfehlte. Mit zu einer finsteren Maske verzerrtem Gesicht hob er seinen Schild und ließ sein hartes Ende auf den ausgestreckten Arm des Schwertkämpfers hernieder fahren, traf ihn mit solch irrsinniger Wut, dass der Arm des Mannes mit einem entsetzlich dumpfen Knacken brach.
James' Gegner ließ seine Klinge fallen und stürzte von seinem Pferd, und seine Schmerzensschreie wurden verschluckt von der unheiligen Kakophonie aus aneinanderschlagendem, klirrendem Stahl.
Doch kaum war er auf dem Boden aufgeschlagen, stürzte sich auch schon zweiter Angreifer auf James, das Schwert bereits zu einem Tod bringenden Hieb erhoben.
»Heilige Mutter Gottes!« Marmaduke gab seinem Pferd die Sporen, aber Sir Ross, der sehr viel näher an James war, trieb sein Pferd in einem donnernden Galopp mitten durch die Kämpfenden, sein riesiges Highlandschwert vor ihm ausgestreckt wie eine Lanze.
»Cuidich' N' Righ!«, schrie er, als er James erreichte, und durchbohrte dessen Angreifer mit seinem Schwert, bevor der Mann seinen tödlichen Hieb zu Ende bringen konnte.
Ohne innezuhalten, riss er sein bluttriefendes Schwert aus dem Körper des Gefallenen und ritt augenblicklich weiter, dicht gefolgt von James, um sich Marmaduke und Alec, die sich mitten im Gewühl des Kampfgetümmels befanden, anzuschließen.
Einen dichten Kreis bildend, kämpften sie weiter, begleitet vom ohrenbetäubenden Kreischen aneinanderschlagender Schwerter. Der Gestank von Blut verpestete die Luft und drang mit seiner metallischen Süße bei jedem Atemzug in ihre Lungen.
Etwas entfernt von ihnen stand Sir Gowan in seinen Steigbügeln und ließ sein beidhändiges Highlandschwert auf solch beängstigende Weise durch die Luft wirbeln, dass sich kaum ein Gegner in seine Nähe wagte.
Und tat es doch einer, so säbelte der stämmige Highlandkrieger jeden dieser Narren mit einem einzigen, erbarmungslosen Hieb um ... mit einem Lächeln auf seinem bärtigen Gesicht.
Ein schriller Schrei zerriss die Luft, noch lauter und qualvoller als alle anderen zuvor. Marmaduke fuhr herum und sah Sir John weit entfernt vom Zentrum des Geschehens zu Boden gehen ... die ganze linke Seite von ihm glänzte purpurrot.
Rot wie die bluttriefende Klinge des englischen Ritters, der ihn erschlagen hatte.
Zu betäubt, um auch nur zu blinzeln, starrte Marmaduke über das Handgemenge und war für einen Moment lang wie gelähmt. Dann fuhr er sich mit dem Armrücken über die Stirn und beobachtete, wie Sir Johns reiterloses Pferd durchging und in der Finsternis verschwand.
Sir Johns blutüberströmter Körper, durch den Sturz in Schwung gekommen, rollte den Hang hinunter und hinterließ eine blutige Spur.
»Wenn das nicht alles überbietet«, keuchte neben ihm Ross, dessen sich rasch hebende und senkende Brust auch voller Blut war.
Aber es war nicht das seine. »Wir haben uns geirrt...«
»Herrgott noch mal, sprich nicht davon«, schnitt Marmaduke ihm das Wort ab und hob instinktiv sein Schwert, um einen weiteren Angreifer abzuwehren, während Galle so heiß in seiner Kehle aufstieg, dass er kaum noch atmen konnte.
Sein unbegründeter Verdacht gegen den älteren Schotten bedrängte ihn genauso heftig wie der Bewaffnete, der sich ihm näherte. Indem er sich im Sattel ein wenig zur Seite neigte, entrann er zwar der Tod bringenden Klinge des Mannes, aber nicht dem brennenden Schmerz seiner eigenen Beschämung.
Die ganze Raserei der Nacht und die noch viel größere Last seines Schuldbewusstseins durchfluteten ihn mit neuer Kraft, als er sich wieder seinem Angreifer zuwandte.
Als hätte der Mann den Teufel selbst in Marmadukes Gesicht gesehen, versuchte er kehrtzumachen, aber mit einem Aufschrei der Empörung, denn seine Selbstbeherrschung hatte ihn nun schließlich doch verlassen, zog Marmaduke sein Schwert zurück und streckte den Mann mit einem einzigen mächtigen Hieb nieder.
Ihr seid ein toter Mann.
Sollte sich mein Verdacht bestätigen...
Ein toter Mann.
Für den Rest der langen Nacht, während all des Blutvergießens und Geschreis, wurde Marmaduke von schweren Schuldgefühlen heimgesucht.
Sie waren seine beständigen Begleiter, ein bleiernes Gewicht auf seiner Ehre.
Und ein mächtigerer Feind als sämtliche bis an die Zähne bewaffneten Handlanger de la Hogues zusammen.
**
Über dem Hang und um ihn herum pfiff ein kalter Wind, dessen Heulen wie ein Echo des Wehklagens der Sterbenden war ... deren Seelen er schon sehr bald von dem erbarmungslosen Kampfgetümmel forttragen würde. Selbst Marmaduke hätte geschworen, dass die Heiligen nun auch ihn schließlich doch im Stich gelassen hatten, aber stattdessen hatten sie ihm offenbar einen Engel geschickt, der ihn an ihrer Stelle beschützte.
Er konnte die einsame Frau, die neben einem Weißdornbusch am Bande des Tumults stand, nicht sehen. Groß und dunkel wie die mondlose Nacht, beobachtete sie das Geschehen und gab keinen Laut von sich.
Und bewegte sich auch nicht.
Eingehüllt in einen Umhang mit Kapuze und den wabernden Nebel, verfolgte sie jede seiner Bewegungen, und grenzenloser Stolz lag in ihren unter der Kapuze halb verborgenen Augen.
Grenzenlose Liebe, die keinen anderen Wunsch kannte, als Marmaduke zu beschützen.
Und falls auch nur eine Spur von Traurigkeit ihr Herz verdüsterte, so ließ sie es sich nicht anmerken.
Er blickte einmal zu ihr hinüber, und für einen Moment erblickte er sie beinahe, und so hob sie ihre Hand und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Einem beruhigenden, um ihn wissen zu lassen, dass auch diese Nacht vorübergehen würde. Ihre Zeit auf dieser Welt war schon zu Ende, während er noch viele lange Jahre vor sich hatte.
Sonnige Tage und beglückende Nächte.
Ihr Lächeln verblasste, als sie still zu ihm hinüberblickte und ihm Trost spendete, so gut sie konnte, und über seinen Mut und seine Stärke staunte.
Wie sie es immer schon getan hatte.
Nach endlos erscheinenden Stunden ließ die Wut des Kampfes schließlich nach, und sein Ausgang wurde offensichtlich. Mit einem gefühlvollen Seufzer über all das, was einst gewesen war, schenkte sie Marmaduke ein letztes Lächeln und schlüpfte dann wieder in die Verborgenheit ihrer eigenen Welt zurück.
Wurde eins mit dem Nebel und der Dunkelheit.
Bis er sie wieder brauchen würde.
***
»Ihr glaubt also an den Stein des Gutsherrn?«
Auf Rhonas amüsiertes Flüstern hinter ihr stieß Caterine einen erschrockenen kleinen Schrei aus und klappte den Deckel der eisenbeschlagenen Truhe am Fußende ihres Bettes zu.
»Seit wann schleicht Ihr mitten in der Nacht in der Burg herum und steckt Eure Nase in Dinge, die Euch nichts angehen?«, fragte Caterine und richtete sich auf.
Dann legte sie eine Hand an ihre Brust. »Und übrigens«, fügte sie hinzu und machte eine kleine Pause, um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, »habe ich mir diesen albernen Stein nicht angesehen.«
Rhona verschränkte ihre Arme. »Warum seid Ihr dann nicht im Bett?«
Weil bald der erste Hahn schreien wird und unsere Männer noch nicht zurückgekommen sind.
Weil ich Angst um ihn habe.
»Vielleicht, weil ich nicht schlafen konnte«, gab sie zu, was durchaus wahr, wenn auch nicht ganz ehrlich war.
Kalte Angst hatte ihr während der gesamten Nacht den Magen umgedreht und ließ ihr auch jetzt noch immer keine Ruhe. Ihr Herz pochte fast schmerzhaft hart gegen ihre Rippen, als sie einen Blick in den dunklen Vorraum warf, in dem Leo, die Bequemlichkeit seines eigenen Lagers ignorierend, zusammengerollt auf Marmadukes grober Strohmatratze lag.
Bis vor einer kurzen Weile war auch er unruhig in ihrem Schlafzimmer umhergelaufen, und seine kurzen Beinchen hatten ihn auf endlosen Rundgängen zwischen dem Vorraum, der Fensterlaibung und der geschlossenen Tür getragen, vor der er sich dann auf sein kleines Hinterteil gesetzt und einen sehnsüchtigen Blick auf ihre Eichenplanken gerichtet hatte.
Und auf einen Beschützer gewartet hatte.
Wie auch sie es während der langen, einsamen Stunden der Nacht getan hatte.
»Kann es sein, dass Ihr aus dem gleichen Grund nicht schlafen konntet, aus dem auch ich so rastlos bin?« Rhona blickte ihr prüfend ins Gesicht und tippte sich mit einem Finger nachdenklich ans Kinn.
Caterine zog ihren Morgenrock noch fester um ihre Schultern, um sich vor der frostigen Luft zu schützen, die durch die Ritzen in den Fensterläden drang. Aber vor allem tat sie es, damit Rhona nicht das nervöse Heben und Senken ihrer Brust bemerkte.
»Ihr habt Euch sehr getäuscht, falls Ihr dachtet, Ihr könntet mir Eingeständnisse entlocken über Dinge, die nicht existieren«, sagte sie steif und wünschte, Rhona möge endlich aufhören, sich mit dem Finger an ihr Kinn zu tippen.
Und das tat sie schließlich auch.
Aber die dunkle Augenbraue, die ihre Freundin spöttisch hochzog, zeugte von mindestens genauso großer Verärgerung. »Euch liegt genauso viel an ihm wie mir an James«, stellte Rhona ruhig fest. »Ihr macht Euch Sorgen, weil sie noch nicht zurückgekehrt sind, und diese Furcht raubt Euch den Schlaf und nötigt Euch, den Stein des Gutsherrn anzusehen.«
»Aye, mir liegt etwas an ihm«, gab Caterine zu und strich sich mit einer Hand durch ihr ungefloehtenes Haar. »Er ist ein ritterlicher, großherziger Mann. Aber ich habe mir nicht den Stein des Gutsherrn angesehen, sondern nur seinen Ring weggelegt.«
»Seinen Ring weggelegt?«
Caterine hob ihre linke Hand und bewegte ihren nackten Ringfinger.
»Aber Ihr gebt zu, dass Ihr etwas für ihn empfindet?«
»Ich habe seinen Ring weggelegt, weil ich etwas für ihn empfinde«, sagte Caterine und beschloss, dass ihre beste Verteidigung gegen Rhonas Fragerei ein offenes Wort war. »Ich habe seinen Ring weggelegt, weil ich ihn zu sehr schätze, um ihn zu tragen, so lange ich ihm mein Herz nicht schenken kann.«
Rhonas Miene war skeptisch. »Etwas an der Art, wie Ihr das sagt, verrät mir, dass Ihr das bereits getan habt.«
»Nein, habe ich nicht.« Aber der Widerspruch klang sogar in Caterines eigenen Ohren hohl.
Mit ihrer Geduld am Ende, ging sie zu der dunklen Fensterlaibung, um die Blenden aufzureißen, und war dankbar für den eisig kalten Luftzug, der ins Zimmer strömte.
Rhona, die ihr gefolgt war, schnaubte sehr undamenhaft. »Wenn Ihr ihm nicht Euer Herz geschenkt habt, dann bin ich noch Jungfrau.«
»Mein Herz ist mein und wird es auch bleiben«, gab Caterine zurück und setzte sich auf die Fensterbank. »Das habe ich ihm gesagt.«
Sie zog den Morgenrock noch etwas fester um ihre Schultern und nahm Zuflucht zu der Offenheit, die sie vor Torheit schützte.
Und vor Schmerz.
»Er wird alles andere bekommen, was ich ihm geben kann«, sagte sie, verblüfft über die fast schmerzhafte Sehnsucht, die sie erfasste, wann immer sie nur an ihn dachte. Ein intensives, atemloses Sehnen nach der ungestümen Leidenschaft, von der sie bisher nur einen kurzen Eindruck bekommen konnte.
Und sie wollte mehr, viel mehr als die Küsse und Zärtlichkeiten, die sie bisher ausgetauscht hatten.
»Und was soll denn nun dieses >alles andere* sein, was Ihr ihm zuteil werden lassen wollt?«, beharrte Rhona. »Bewunderung? Respekt? Gesellschaft?«
»So lange er bei uns ist, ja. All diese Dinge und ... und meinen Körper.«
Rhona fiel fast die Kinnlade herunter. »Euren Körper?«
Caterine nickte. »Ich habe ihm gesagt, dass ich gerne meine Sinnlichkeit erforschen würde.«
»Eure Sinnlichkeit erforschen?«
»Ihr braucht gar nicht so schockiert zu blicken.« Caterine fixierte ihre Freundin mit einem vorwurfsvollen Blick. »Wenn ich mich recht entsinne, wart Ihr es doch, die behauptete, ich brauchte dringend Leidenschaft?«
»Aber ich habe nie das eine ohne das andere gemeint, Mylady.« Rhona ging vor Caterine in die Knie und griff nach ihren Händen, und es war wie eine absonderliche Wiedergabe dessen, wie er in dieser Fensterlaibung vor ihr gekniet hatte.
Wie mühelos er sie dazu gebracht hatte, ihn zu begehren!
Rhona drückte ihre Hände. »Ich hatte gehofft, Ihr würdet sowohl Liebe wie auch Sinnenlust bei Eurem Beschützer finden.«
»Bei einem englischen Beschützer?« Caterine war erstaunt über sich selbst, wie wenig ihr das jetzt noch ausmachte.
»Ich glaube nicht, dass die Tatsache, dass er Engländer ist, Euch jetzt noch stört«, beharrte Rhona.
»Nein, das stimmt.« Caterine konnte es nicht bestreiten. »Es sind andere englische Männer, die mich quälen... wie Ihr eigentlich wissen müsstet.«
Ihre Geister und die Flecken, die sie auf meiner Seele hinterlassen haben.
Caterine befingerte ein tröstlich weiches, seidenes Kissen, das sie sich auf den Schoß gelegt hatte, und starrte in den dichten Küstennebel, der vor ihrem Fenster vorbeizog.
Eine Barriere, so undurchdringlich wie das Tor zu ihrem Herzen.
Ohne sich besonders anstrengen zu müssen, konzentrierte sie sich auf die leidenschaftlichen körperlichen Gefühlsregungen, die ihr Beschützer in ihr geweckt hatte, und bemühte sich, die Kälte aus ihrem Herzen zu verbannen, die andere Engländer dort hinterlassen hatten.
Dies erwies sich allerdings als eine sehr viel schwierigere Aufgabe.
»Habt Ihr es ihm gesagt?« Rhona nahm Caterines Hände noch fester zwischen die ihren und massierte ihre kalten Finger. »Weiß er, dass sie Euch im Beisein Eures ersten Ehemanns missbraucht und ihn dann vor Euren Augen ermordet haben?«
Caterine starrte in den Nebel vor dem Fenster. »Nicht direkt, aber ich denke, er ist klug genug, um es sich selbst zusammenreimen zu können. Ich habe ihm gesagt, ich hätte in meinem Leben nicht häufig körperliche Lust verspürt und würde derartige ... Intimitäten gern erforschen.«
Als ihre Freundin nichts erwiderte, straffte sie ihre Schultern. »Ich werde nicht jünger«, sagte sie, plötzlich müde und ermattet vom Schlafmangel der vergangenen Nacht. »Warum sollte ich nicht etwas ausprobieren, was anderen Frauen angeblich so viel Freude bereitet?«
Trotzig erwiderte sie Rhonas schmallippigen Blick. »Er war einverstanden, Ihr braucht mich also gar nicht so missbilligend anzuschauen.«
»Einverstanden womit? Euch Vergnügen zu bereiten?«
Caterine beschränkte sich auf ein Nicken.
Die Augenbrauen ihrer Freundin schössen in die Höhe.
»Warum sollte er es nicht tun?« Caterine bemühte sich nicht einmal, ihren Ärger zu verbergen. »Er ist ein sinnlicher Mann. Das verraten mir schon seine Küsse. Ich bin sicher, er würde gerne jeder Frau gefällig sein, die mit derartigen Bedürfnissen zu experimentieren wünscht.«
»Nein, nein, nein, Mylady«, sagte Rhona und ließ Caterines Hände los und richtete sich auf. »Nicht jeder Frau. Habt Ihr nicht gesehen, wie er Euch ansieht?«
Caterine presste die Lippen zusammen und zupfte an den Falten ihres Morgenrocks, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihr charmanter Beschützer solch ungestüme Leidenschaft allein für sie empfand.
»Oh, das tut er aber, Mylady«, schwärmte Bhona, als hätte sie wie so häufig Caterines Gedanken gelesen. »Und das ist der Grund, warum er froh sein wird, dass Ihr Euch in dieser Hinsicht für ihn interessiert. Er ist nämlich vollkommen vernarrt in Euch. Und zwar nur in Euch.«
»Er hat noch ganz anderen Dingen zugestimmt... als nur dem erotischen Teil unserer Beziehung«, sagte Caterine und spürte, wie sich in ihrem Inneren heftiger Widerspruch angesichts der anderen Dinge regte, mit denen er sich einverstanden erklärt hatte.
»Was für anderen Dinge?«
Caterine atmete tief durch. »Zum Beispiel, dass alle Intimitäten, denen wir frönen werden, nicht anderes sein werden als ... rein körperliche Akte, ganz ohne gefühlsmäßige Bindungen.«
»Und das habt Ihr ihm geglaubt?« Rhonas Stimme wurde noch zwei Oktaven lauter. »Dass er Euch im Bett beglücken und Euch nicht das Herz stehlen wird?«
»Was ist denn so verkehrt daran, ihm zu gestatten, mir Freude zu bereiten?«
»Nichts, außer dass all das, falls Ihr ihm Euer Herz verweigert, nichts anderes sein wird als ... pure Sinnenlust.« Rhona befingerte die Enden ihrer Zöpfe, und Röte überzog ihre Wangen. »Das, Mylady, ist es, was ich mit den Männern der Garnison zu tun pflegte. Es bringt schnelles Vergnügen, aber es verblasst genauso schnell.«
»Auch Ihr verwehrt James Euer Herz.« Caterine versuchte, ein anderes Thema anzuschneiden. »Sucht Ihr bei ihm auch nur ein schnelles Vergnügen?«
»Nicht ich verwehre ihm mein Herz, er verwehrt mir seines«, gab Rhona leicht verstimmt zurück. »Er kann meine ganze Zuneigung für sich beanspruchen, wann immer er sich dazu entschließen sollte, und ich kann nur hoffen, dass das bald der Fall sein wird.«
Sie strich ihre Röcke glatt, richtete ihren Blick gen Himmel und seufzte. »Und nein, wir waren bis jetzt noch nicht intim miteinander, obwohl ihm durchaus bewusst ist, dass ich nicht mehr unerfahren bin. Diesen Teil von mir habe ich ihm allerdings vorenthalten.« Sie sah Caterine wieder an, und ein verträumter Blick erschien in ihren Augen. »Vorläufig zumindest noch.«
»Aber Ihr würdet gern ... das Bett mit ihm teilen.«
Rhona nickte. Von ihrer vorübergehenden Verunsicherung war nichts mehr zu spüren. »Oh ja.«
»Ich möchte es auch«, gestand Caterine seufzend. »Ich bin es Leid, mich kalt und leer zu fühlen. Ich möchte wahre Lust erfahren. Wonnevolle, sündhafte Empfindungen.«
»Mylady!« Wieder stieg Böte in Rhonas Wangen, aber genauso schnell umspielte auch ein verschwörerisches Lächeln auf ihren Lippen. »Was für sündhafte Empfindungen?«
Caterine stand auf, um ihrer Freundin ihre geheimsten Wünsche ins Ohr zu flüstern.
Rhona sog scharf die Luft ein. »Das ist mehr als sündhaft«, sagte sie und bekam ganz rote Ohren. »Das ist... lüstern.«
»Es wäre erregend, glaube ich. Unglaublich erregend.« Eine träge Hitze und pulsierende Erwartung durchfluteten Caterine, wenn sie auch nur an solch erotische Vergnügen dachte.
Sie ließ sich wieder auf der gepolsterten Fensterbank nieder.
»Ich glaube, es ließe sich sogar sehr gut in dieser Fensterlaibung tun.«
Rhona warf einen verstohlenen Blick zur Tür und beugte sich dann vor. »Glaubt Ihr, er würde so etwas tun?«
»Wenn diese Dinge alles sind, was wir miteinander teilen können, halte ich das durchaus für möglich«, erwiderte Caterine und hoffte, dass sie Recht behalten würde. »Vielleicht, wenn ich ihm sage, so etwas zu tun, würde es mir helfen, mich an ... derartige Intimitäten zu gewöhnen.«
»Habt Ihr Angst um ihn heute Nacht, Mylady?«, fragte Rhona ganz unvermittelt und brachte damit endlich den bisher unangesprochenen Grund zum Ausdruck, warum sie beide zu dieser späten Stunde noch nicht schliefen. »Seid Ihr genauso besorgt um ihn wie ich um James ?«
Caterine blinzelte, um ihre eigene Beklommenheit zu verdrängen. Sie spürte sie in ihren Augen, heiß und brennend, und ihr dunkler Schatten war der Grund, warum sie sich während dieser ganzen langen Nacht an anderen, erfreulicheren, bewegenderen Bildern festgehalten hatte.
Sie verschloss ihr Herz gegen eine Furcht, über die sie auf keinen Fall nachdenken wollte, und richtete ihren Blick aufs Meer. Es war noch immer von einer dichten Nebeldecke bedeckt, und nichts anderes als das unaufhörliche Krachen, mit dem die Wellen gegen die Felsen schlugen, wies auf seine Nähe hin.
Das und die kühle, salzhaltige Luft.
»Wir brauchen uns nicht zu sorgen«, sagte sie dann, und die Worte schienen mehr aus dem wabernden Nebel hinter den Fenstern zu kommen als von ihr. »Sie werden bald zurückkehren. Unversehrt.«
Es war wie eine merkwürdige, aber willkommene Gewissheit, von der sie schlicht und einfach wusste, dass sie zutraf.
Als hätte ein Engel sie ihr zugeflüstert.