16. Kapitel
In seinem Grab?«
Ronan verschluckte sich fast vor Überraschung. »Dann, meine Schöne, hat deine Gabe dich getäuscht«, sagte er und fegte ihre Einwände beiseite. »Oder du hast das Gesehene falsch gedeutet.«
Gelis schien verärgert, denn sie hob die Hand und fuhr damit durch die Luft.
»Ich weiß sehr wohl, wie das Innere einer Grabstätte aussieht«, beschied sie ihn in einem Ton, der an Entrüstung grenzte.
Ihre Wangen waren Aufregung gerötet, und wie so oft schon hatte sich ihr Zopf gelöst. Im Feuerschein golden glänzend fiel ihr das Haar in einer Flut rotgoldener Locken über die Schultern. Und verlockte Ronan über alle Maßen.
Es gab so viele Dinge, die er mit ihren Haaren anstellen könnte ...
Dinge, die nichts mit längst verstorbenen Vorfahren und deren letzter Ruhestätte zu tun hatten.
Ronan fuhr sich mit der Hand durchs Haar und unterdrückte ein Stöhnen. Er wusste Besseres als über Vorfahren und Grabstätten zu reden, wenn Gelis in seinem Plaid so unwiderstehlich aussah, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.
Sie jedoch schien fest entschlossen, dieses Gespräch fortzusetzen.
Und sie hatte Maldreds Sache ganz eindeutig zu ihrer gemacht.
Ihre funkelnden Augen und ihr kampflustig vorgeschobenes Kinn bewiesen das.
»Ich bin einmal in die Familiengrabstätte auf Eilean Creag gekrochen.« Sie begann im Zimmer herumzuwandern, und ihre Brüste wogten bei jedem ihrer Schritte. »Ich war noch klein und ... wollte Geister sehen. Sie verbargen sich vor mir, wie Geister es gewöhnlich immer tun, aber das Grab zumindest konnte ich sehr gut sehen.«
Ronan verschränkte die Arme. »Das ändert gar nichts. Maldred wurde nicht in einer Grabstätte beigesetzt. Er ...«
»Ich weiß, was ich gesehen habe.« Sie blieb vor ihm stehen. »Er befand sich in einer kleinen steinernen Kammer, in der es dunkel, kalt und stickig war«, erklärte sie und unterstrich jedes Wort mit einem Fingertippen an seine Brust. »Es kann nur seine Grabstätte gewesen sein.«
Ronan holte tief Luft und ließ sie langsam wieder aus. »Du hast das Grab des Mannes gesehen, Gelis. Es ist ein eingefallener Hügel auf dem ältesten Teil des Familienfriedhofs. Das Einzige, was noch darauf hinweist, wo Maldred liegt, ist ein zerbrochener Grabstein. Er hat nie in einer Gruft gelegen.«
»Oh doch, er liegt in einer«, beharrte Gelis. »Und der Stein des Raben befindet sich bei ihm. Auch das habe ich gesehen. Er hielt ihn mir hin und bat mich, ›den Raben zu befreien‹.«
»Er hat was?« Ronan blieb fast das Herz stehen.
Er hatte ihr nie die ganze Geschichte des Steins erzählt.
Und ihr war anzusehen, dass sie keine Ahnung davon hatte.
Denn sonst hätte sie ihren Triumph nicht unterdrücken können.
»Erbat mich, ›den Raben zu befreien‹«, wiederholte sie und begann wieder auf und ab zu gehen. »Ich glaube, er wollte mir damit sagen, dass meine Liebe zu dir dich von dem Fluch befreien wird, mit dem du belegt zu sein glaubst. Und dass Dare dann ...«
»Er hat nicht mich gemeint, Gelis.«
Ronan trat an eines der Fenster und hoffte, dass die kalte Luft, die durch die Blenden drang, wieder etwas Farbe in seine Wangen bringen würde.
Denn er wusste, dass er kreidebleich geworden war.
Er hatte es gespürt.
Genauso deutlich, wie er jetzt erkannte, dass seine Frau Maldred wirklich gesehen hatte, wo auch immer sich der Kerl jetzt aufhielt.
Noch beunruhigender war jedoch die Möglichkeit, dass der von allen verteufelte alte Bursche gar kein ganz so schlimmer Übeltäter gewesen war, wie alle glaubten.
Oder dass die Jahrhunderte, sofern sein Geist tatsächlich existierte, ihn ein wenig reumütiger gemacht hatten.
Eine andere Erklärung schien es nicht zu geben.
Nicht, dass diese nicht genügte.
Schon jetzt brachte deren Bedeutung den Boden unter seinen Füßen förmlich zum Schwanken.
»Nein, Gelis.« Er schüttelte den Kopf, weil die nächsten Worte ihm unendlich schwerfielen. »Ich bin nicht dieser Rabe.«
Seine Brust war schmerzhaft eng geworden, und weil er Luft brauchte, wollte er die Fensterläden öffnen. Doch noch bevor seine Hand den Riegel berührt hatte, schob sie sich zwischen ihn und den Fensterbogen.
»Ich verstehe nicht, was du meinst.« Mit erstaunlich starkem Griff packte sie ihn am Arm. »Du bist doch der Rabe, oder nicht?«
»Ich bin einer von vielen Raben.« Er blickte auf sie herunter und wünschte sofort, er hätte es nicht getan.
Er hatte das Plaid nicht so gut verknotet, wie er gedacht hatte. Und nach all ihrer Herumlauferei hatte der Knoten sich gelockert, und unter dem lose herabhängenden Stoff sah Ronan den Ansatz ihrer Brüste.
Ihre wundervollen Brüste, deren üppige Rundungen und rosige Spitzen nur auf seine Berührung zu warten schienen.
Schlimmer noch, auch Gelis' angenehmer Rosenduft übte seinen gewohnten Zauber auf ihn aus. Jeder Hauch ihres Dufts entflammte ihn, durchflutete ihn mit einem fast schmerzhaften Verlangen.
Das ihn so heiß und hart gemacht hatte, dass er es fast nicht mehr ertrug.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als er versuchte, ihren Duft zu ignorieren, und stattdessen seinen Blick auf ihr Ohr richtete. Ein hübsches, kleines Ohr, das ihn keineswegs von seinen Gefühlen ablenkte.
»Es hat immer einen Raben in unserer Familie gegeben«, erklärte er mit angespannter Stimme. »Aber es gibt nur einen echten Raben. Einen lebenden, in Maldreds Stein gefangenen Vogel, der dort eingeschlossen ist für alle Ewigkeit. Die enorme Macht des Raben dient demjenigen, der den Stein besitzt - jedenfalls besagt das die Legende.«
»Dann müssen wir den Stein finden und den Vogel befreien.«
»Wäre das doch nur so einfach.«
»Es wird vielleicht kein Kinderspiel, aber es muss doch möglich sein.« Sie lächelte ihn an. »Denn wenn es nicht so wäre, wo läge dann der Sinn darin, mich zu bitten, es zu tun?«
Von seinem Platz am Feuer bellte Buckie einmal kurz, wie um ihr zuzustimmen.
Ronan ignorierte ihn, entzog sich den Händen seiner Frau und öffnete die Fensterläden, um in die kalte, regnerische Dunkelheit hinauszuschauen.
»Gelis, glaubst du wirklich, die MacRuaris hätten das nicht längst versucht, seit der verdammte Schurke und sein Stein verschwanden?«
»Er verschwand?«
»So ist es«, brummte Ronan.
Den Blick auf die prächtigen kaledonischen Kiefern hinter den Burgmauern gerichtet atmete er tief die kalte Nachtluft ein. Die Bäume schwankten im Wind, und graue Regenschleier umhüllten ihre hohen Wipfel. Unter dem Fenster lag still und dunkel der große Burghof, aber Ronan wusste, dass sich fast zwei Dutzend oder mehr Wachposten in dieser stillen Dunkelheit verbargen.
Dare schlief nie. Nicht einmal in den längsten Winternächten.
Ronan runzelte die Stirn.
Sie war dichter hinter ihn getreten. Er spürte ihre Wärme an seinem Rücken, und ihr Rosenduft begann ihn wieder einzuhüllen, schien die Fensterlaibung auszufüllen, bevor er vom rauschenden Nachtwind davongetragen wurde.
Sein Körper spannte sich an.
Sie hatte etwas vor.
Er spüre das bis in seine Zehen, ja, sogar in denen, die verletzt waren.
»Wenn man bedenkt, dass deine Familie ihn in all diesen Jahrhunderten gesucht hat ...« Mehr sagte sie nicht, aber ihre Worte klangen mitfühlend.
»Aye, das hat sie«, bestätigte Ronan, bezaubert von ihrer sanften, femininen Wärme und dem Wissen, dass sie unter seinem Plaid nackt war. »Zumindest seit die ersten Auswirkungen seines Fluches uns getroffen haben ...«
Er schloss abrupt den Mund, aber es war schon zu spät.
Er konnte das Aufleuchten ihrer Augen sehen, ohne sich umdrehen zu müssen.
»Aha!« Ihre Stimme wurde laut vor Aufregung. »Wie kannst du sagen, er sei verschwunden und die MacRuaris hätten ihn gesucht, und trotzdem behaupten, er sei unter einem eingestürzten Grabhügel begraben?«
Ronan biss die Zähne zusammen und starrte zu den windgepeitschten Bäumen hinüber.
Aber Gelis ließ nicht locker. »Wäre sein Grab dann nicht der erste Ort, um ihn zu suchen?«
»Das war es.«
»Und was haben sie gefunden?«
Ronan stützte die Hände auf den Fenstersims und holte tief Luft. Er sah einen Fuchs am Waldrand entlanglaufen, der für einen Augenblick im Schatten verschwand, um gleich darauf wieder in einem hellen Mondstrahl aufzutauchen.
»Nun?«
Er schloss die Augen. »Wenn man den Geschichten des Clans glauben darf, war das Grab leer.«
»Ich wusste es!« Gelis klatschte in die Hände. »Er ist woanders beerdigt; wir müssen dieses Grab nur finden.«
»Die Geschichten besagen auch, dass seine Schlechtigkeit so groß und seine Macht so grenzenlos war, dass ihn selbst der Teufel darum beneidete.« Ronan drehte sich zu Gelis um. »Es heißt, der Gehörnte habe Maldreds sterbliche Überreste und den Stein mit in die Hölle genommen und beides in ein bodenloses Loch geworfen.«
»Mumpitz!«, lachte sie. »Ich sage dir doch, dass er ...«
Ronan ließ sie nicht ausreden. »Er benutzte seine letzte Macht, um die Familie zu verfluchen, ja, uns sogar im Tod noch zu verwünschen, als ihn der Teufel wegtrug. Dass der Teufel ihn geholt hatte, sei unsere Schuld, schrie er wütend, weil die Familie ihn an einem so leicht zu findenden Ort beerdigt hatte - zumindest geht so die Legende.«
Gelis schüttelte den Kopf. »Ich glaube kein Wort davon.«
Ich auch nicht, stimmte Ronan ihr im Stillen zu.
»Wie dem auch sei - ob er einmal unter dem Grabhügel geruht hat oder nicht, seine endgültige Ruhestätte wurde jedenfalls nie gefunden«, gab er ehrlich zu. »Aber was geblieben ist, ist sein Fluch. Er trifft ...«
»Auch das kann ich nicht glauben.« Gelis' Augen blitzten. »Ich habe dir schon in Creag na Gaoith gesagt, was ich von eurem Fluch halte.«
Sie fuhr herum und begann wieder auf und ab zu gehen. »Es ist völlig ausgeschlossen, dass du mit einem bloßen Gedanken einen Bergrutsch herbeigeführt hast und ...«
»Glaubst du etwa, das wäre alles?«
Ronan öffnete die Schnalle seines Schwertgehenks und legte ihn und seine Klinge auf einen Stuhl. Dann nahm er die große keltische Brosche ab, die sein Plaid an der Schulter zusammenhielt, und legte sie zu seinem Gurt und Schwert.
»Was Matilda auf dem Felsen des Windes zugestoßen ist, war nur ein schrecklicher Vorfall in einer langen Geschichte von Familientragödien«, sagte er, während er sein Plaid ablegte. »Der Fluch hat uns unendlich viele Qualen bereitet, Gelis. Die Art von Kummer und Leid, vor denen ich dich so unbedingt beschützen will.«
»Dann erzähl mir davon - von Anfang an.« Gelis ließ sich in einem Sessel neben dem Kaminfeuer nieder und verschränkte ihre Hände auf dem Schoß. »Und falls du glaubst, ich würde Angst bekommen und zittern, bist du auf dem Holzweg, Ronan.«
Sein Plaid noch immer in den Händen, bedachte er sie mit einem ärgerlichen Blick, bevor er sich abwandte, den Stoff ausschüttelte und ihn faltete, um ihn auf die große Truhe am Fußende des Betts zu legen. Als er sich wieder aufrichtete und zu ihr umdrehte, wusste sie, dass sie gewonnen hatte.
Aber das Zaudern, das ihm dennoch anzumerken war, krampfte ihr das Herz zusammen.
»Bitte, Ronan.« Sie beugte sich vor und sah ihn flehend an. »Ich will es wirklich wissen.«
Er schien zu überlegen. »Wie du willst, aber es ist eine grausige Geschichte«, gab er schließlich nach und sah sie an, als erwartete er, dass sie jeden Moment zu zittern beginnen würde.
Oder aufspringen und aus dem Zimmer laufen würde.
Deshalb lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und zwang sich, eine ruhige, gelassene Miene aufzusetzen. Sie hatte sich Ronan noch nie so nahe gefühlt wie jetzt, und es wäre nicht gut, wenn er ihr aufgeregtes Herzklopfen bemerken und ihre Hoffnung mit Angst verwechseln würde.
Ihre Bemühungen hatten offenbar Erfolg, denn Ronan stieß einen tiefen Seufzer aus, trat wieder an das offene Fenster und schien endlich bereit zu sein, zu reden.
Bevor er begann, räusperte er sich noch kurz. »Du hast mich einmal gefragt, ob ich von dem Droch Shùil betroffen bin, und darauf habe ich dir von Matildas Tod erzählt. Dass meine Gedanken, anders als beim bösen Blick, manchmal auf furchtbare Weise Wirklichkeit werden.«
Gelis öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, aber er bedeutete ihr mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Genug meiner männlichen Verwandten und einige der weiblichen haben unter der gleichen Heimsuchung gelitten«, fuhr er fort. »Allerdings liegen die Vorfälle, von denen ich weiß, mit Sicherheit schon einige hundert Jahre oder länger zurück. Aber diese bedauernswerten Seelen brauchten nur eine Kuh anzusehen, und entweder versiegte deren Milch, oder sie gerann. Wenn sie ein Feld überquerten, verkümmerte hinter ihnen die Ernte.
Ihr Kummer darüber war groß, denn sie beabsichtigten nichts Böses und taten ihr Bestes, um solche Katastrophen zu vermeiden.« Er unterbrach sich und verzog den Mund. »Ich weiß von mindestens einem Clanangehörigen, der sich wegen dieser Heimsuchung das Leben nahm.«
»In diesen Bergen gibt es viele Geschichten über den Droch Shùil.« Gelis wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. »Solange die davon Befallenen ihre Macht nicht dazu verwenden, anderen Schaden zuzufügen, kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Außerdem«, sagte sie und beugte sich wieder vor, »gibt es Mittel gegen den bösen Blick.«
Sie hob eine Hand und begann sie an ihren Fingern abzuzählen. »Eberesche ist einer der sichersten Talismane dagegen. Dann gibt es noch mit Zauberkräften versehene Steine, Amulette und eine Fülle von Beschwörungen und Zaubersprüchen. Selbst wenn du diese Plage hättest ...«
»Ach, Liebes, ich habe dir doch schon gesagt, dass das, was mich plagt, noch viel schlimmer ist.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und schloss für einen Moment die Augen. »Ich wünschte, solche Gegenmittel wie dreimal dem Lauf der Sonne folgend um eine Kuh herumzugehen, die keine Milch mehr gibt, oder mit Silber vermischtes Wasser zu trinken würden dieses Übel heilen.«
Gelis ballte die Hände auf den Knien. »Trotzdem ...«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist sinnlos, Gelis. Die MacRuaris sind seit undenklichen Zeiten verflucht. Einige von uns, wie ich selbst und andere, die vor mir dahingegangen sind, haben einen größeren Teil von Maldreds Last zu tragen.«
»Aber er will euch von dieser Last befreien!« Gelis' Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen. »Ich konnte es spüren, als er mir erschien. Er hat euch nicht verwünscht. Das weiß ich!«
»Dann werde ich es dir beweisen.«
Ronan wandte sich vom Fenster ab und ging zu einer seiner anderen Truhen, die neben ihren stand. Die Truhe war eingebeult und angeschlagen und wirkte, durch den Rost auf ihren eisernen Beschlägen, viel älter als irgendeine von Gelis' Truhen oder Ronans großer Reisekiste, die am Fuß des Bettes stand.
Mit grimmiger Miene beugte er sich vor, um den Deckel anzuheben. »Sieh dir das an«, forderte er Gelis auf und zog einen alten, gepolsterten und lederbezogenen Waffenrock hervor. »Der gehörte meinem Vater.« Er griff noch tiefer in die Truhe und zog einen hohen, kegelförmigen und genauso alten Helm heraus. »Und der hier auch.«
Während er die Gegenstände hochhielt, damit Gelis sie sehen konnte, fuhr er fort: »Das sind zwei der sehr wenigen Andenken, die ich an ihn habe. Als mein Vater starb, war Valdars Schmerz so groß, dass er die meisten Besitztümer meines Vaters verbrennen ließ. Einige wenige konnte ich damals verstecken und habe sie all diese Jahre behalten.«
»Und sie gerettet.« Gelis stand auf. »Du warst noch ein Junge und brauchtest deine Erinnerungen ...«
Er gab einen erstickten Laut von sich, dessen Bitterkeit ihr durch und durch ging.
»Ich habe sie zur Erinnerung behalten, aye, aber auch als Warnung.« Er legte den gepolsterten Waffenrock und den Helm in die Truhe zurück und schloss den Deckel. »Ich wollte etwas, das mich davon abhielt, je wieder schlecht von einem anderen Menschen zu denken.«
Seine Augen waren fast schwarz, als er Gelis endlich wieder ansah. »Besonders von einem Menschen, den ich von Herzen liebte.«
Gelis setzte sich wieder in ihren Sessel. »Ich verstehe nicht, Ronan.«
»Nein?«, fragte er mit erhobener Augenbraue. »Vielleicht wirst du es, wenn ich dir sage, dass an dem Tag, als mein Vater auf die Jagd ritt und über ein Kliff stürzte, ein jäher schwarzer Nebel ihm die Sicht genommen hatte. Es war derselbe Tag, an dem wir eine furchtbare Auseinandersetzung hatten. Ich hatte ...«
Gelis schnappte nach Luft. »Sag jetzt nicht, du ...«
»Ja, genau so war es.« Ronan nahm eine Kanne Bier vom Tisch, goss etwas davon in einen Becher und stürzte es in einem Zug herunter, bevor er weitersprach. »Wir waren schon eine ganze Zeit lang nicht sehr gut miteinander ausgekommen. Ich wollte bei den Fechtübungen seiner Knappen mitmachen, aber er hatte es mir verboten und gesagt, ich müsse noch ein weiteres Jahr warten. An dem Morgen, an dem er auf die Jagd ging, holte ich mir eines seiner Schwerter aus seinem Zimmer und ging zu den Knappen. Ich sagte ihnen, er hätte es mir erlaubt.«
»Aber das stimmte nicht«, erriet Gelis.
Ihre Kehle wurde eng, und das Herz tat ihr weh für den kleinen Jungen, der er gewesen war, und die schrecklichen Gedanken, die er schon so lange mit sich herumtrug.
»Nein, er wusste nichts davon - bis er unerwartet zurückkam, weil er sein Schwert vergessen hatte.« Ronan schenkte sich einen weiteren Becher Bier ein, aber diesmal brachte er ihn mit zu Gelis und drückte ihn ihr in die Hand. »Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass er mich inmitten seiner fechtenden Knappen fand. Ich schwang eine Klinge, die fast so lang war, wie ich groß war.«
Er hielt inne und bedeutete Gelis, einen Schluck zu trinken.
Sowie sie es getan hatte, sprach er weiter. »Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Er sprang von seinem Pferd und rannte über den Hof, um mich am Kragen zu packen und vor aller Augen in die Burg zu zerren. Ich war zutiefst beschämt und überzeugt davon, dass ich ihn hasste. Als er schließlich wieder losritt, wünschte ich, er möge nie wieder zurückkehren.«
»Und das tat er auch nicht«, schloss Gelis für ihn.
Er nickte. »Niemand hat ihn je wieder gesehen. Jedenfalls nicht lebendig.«
»Ach, Ronan.« Sie sprang auf und lief zu ihm, um ihm die Arme um den Hals zu schlingen. »Du kannst nicht - darfst nicht denken, dass es deine Schuld gewesen ist! Es war tragisch, sicher, aber ...«
»Das war erst der Anfang, meine Liebe«, sagte er und löste sich aus ihren Armen. »Das mit Matilda weißt du schon. Und meine zweite Frau, Lady Cecilia ...«
»Auch von ihr weiß ich!« Gelis eilte ihm nach, als er sich von ihr entfernte. »Anice hat mir erzählt ...« Sie unterbrach sich sofort und schlug eine Hand vor ihren Mund.
Aber Ronan hatte schon genug gehört.
Sie wusste es.
Er seufzte. »Anice wird dir die Wahrheit gesagt haben, denke ich«, sagte er, weil er es für sinnlos hielt zu lügen. »Lady Cecilia war sehr unzufrieden hier. Sie hasste das Tal, und sie hasste mich.« Er ging zurück zu dem offenen Fenster, weil er wieder frische Luft benötigte. »Und sie hat sich nie eine Gelegenheit entgehen lassen, mich an ihr Unglück zu erinnern.«
»Aber warum?«, versetzte Gelis sichtlich ungehalten. »Wieso konnte sie nicht froh sein, deine Frau zu sein? Du ...«
»Du ehrst mich, meine Liebe.« Er sah sie an, und ihre Empörung wärmte einen kalten Ort in ihm. »Aber es war nicht nur Lady Cecilias Schuld. Sie war ein Stadtmädchen, die Tochter eines Händlers und Schiffseigners aus Aberdeen an der fernen Nordseeküste. Unsere dunklen Berge und die Stille dieses Tals machten ihr Angst. Und sie verstand auch unsere Lebensweise nicht.«
»Warum hat sie dich dann geheiratet?«
»Aus dem gleichen Grund wie du. Sie hatte einen Vater, der in unserer Schuld stand, nur dass die seine keine Ehrenschuld war.« Er starrte in das Feuer und durchforstete seine Erinnerungen. »Der Mann hatte zwei Schiffsladungen auf See verloren, und als ein Sturm ihm sein drittes und letztes Schiff nahm, stand er vor dem finanziellen Ruin.«
Gelis' Brauen zogen sich zusammen. »Es sei denn, er verkaufte für ein hohes Brautgeld seine Tochter.«
Ronan nickte. »Ich ... ich brauchte einen Sohn. Jahre waren seit Matildas Tod vergangen, und mein Clan verdiente Hoffnung.« Er lehnte sich mit dem Rücken an den Fensterbogen und umklammerte den kalten Sims. »Ein Highlander, der viel auf Reisen war, hatte in Aberdeen Lady Cecilias Vater kennengelernt. Und so erfuhr der Mann von uns, einem wohlhabenden Highlandclan, der keine Braut für seinen Erben finden konnte.«
»Und dieser Erbe warst du«, warf Gelis ein.
»Genau.« Ronan sah sie auf und ab gehen, wobei einem sicherlich verderbten Teil von ihm nicht entging, dass das Plaid bei jedem ihrer Schritte vorne auseinanderklaffte, wenn sie das Zimmer durchquert hatte und sich wieder umdrehte.
Er ballte eine Hand zur Faust, öffnete sie aber gleich wieder.
Die wiegenden Bewegungen der Hüften seiner Frau und seine kurzen Blicke auf ihre wohlgeformten Schenkel machten es ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren.
Ronan räusperte sich wieder und versuchte es trotzdem. »Lady Cecilias Vater sandte eine Nachricht an Valdar, in der er behauptete, seine Tochter sei sehr an einer solchen Heirat interessiert. Man sagte uns, die Seeluft und die Stadt machten sie krank und sie könne es kaum erwarten, hierherzukommen. Bedauerlicherweise war dem jedoch nicht so.«
»Warum ist sie dann nicht nach Aberdeen zurückgekehrt?« Gelis drehte sich wieder um, so schnell diesmal, dass sie ihm sogar einen kurzen Blick auf das rotgoldene Haar zwischen ihren Schenkeln erlaubte.
»Oh, verdammt!« Der Fluch entfuhr ihm, bevor er es verhindern konnte.
Seine Frau warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, aber er sprach schnell weiter, bevor sie ihn etwas fragen konnte.
»Eine Rückkehr nach Aberdeen war ausgeschlossen, weil sie dort nirgendwo mehr hinkonnte«, erklärte er, während eine Hälfte von ihm wünschte, Gelis möge aufhören, hin und her zu laufen, während die andere wollte, dass sie noch schneller ging, damit er noch mehr von ihr zu sehen bekam.
Er verbiss sich ein Stöhnen, weil das Ziehen in seinen Lenden jetzt unerträglich war.
»Wie meinst du das, ›sie konnte nirgendwo mehr hin‹?« Gelis drehte sich abrupt herum, und das Plaid verrutschte und offenbarte eine kleine, harte Brustspitze. »War ihr Vater denn nicht dort?«
Ronan fuhr sich mit der Hand über das Kinn, hin und her gerissen zwischen den schlechten Erinnerungen und der quälendsten körperlichen Erregung, die er je erlebt hatte.
Sein Herz begann genauso hart zu pochen wie der Schmerz in seinen Lenden. »Ihr Vater steckte das Brautgeld ein, und statt seine Schulden abzuzahlen, nahm er das nächste Schiff nach Frankreich und ward nie mehr gesehen.«
Die Worte schienen in der Luft zu hängen, als hätte jemand anders sie ausgesprochen, während seine eigene Stimme stumm sein Verlangen herausschrie und all seine Gedanken nur auf sie gerichtet waren.
Auf diese bezaubernde, faszinierende Frau, die ihn so glutvoll ansah und in ihrem - eigentlich lächerlichen Aufzug absolut unwiderstehlich war.
Jetzt stemmte sie auch noch die Hände in die Hüften. »Und Lady Cecilia gab dir die Schuld daran.«
»Ja, das tat sie. Für das und viele andere Dinge.« Er konnte kaum noch sprechen, so laut rauschte das Blut in seinen Ohren. »Ihre letzten Worte an mich waren, dass sie jetzt endlich von mir und ich von ihr erlöst sein würde.«
»Und du stimmtest ihr im Stillen zu.«
»Ja.« Als die Erinnerung über ihn hereinbrach, dämpften Schuldgefühle seine Lust und schnürten ihm die Luft ab. »Und nachdem wir sie begraben hatten, schwor ich mir, nie wieder zu heiraten.«
»Aber du hast es getan, und ich bin ... anders!« Sie fiel ihm wieder um den Hals, schlang ihm diesmal ihre Arme ganz fest um den Hals und drückte ihn an sich.
Ihre Wärme und weiche, nachgiebige Weiblichkeit vertrieben alles andere aus seinem Kopf, und sein Verlangen kehrte zurück, so machtvoll, dass es seine Welt umkehrte. Er erwiderte ihre Umarmung, zog sie noch härter an sich und ertrank fast in dem Wunder, das sie war.
Und den Gefühlen, die sie in ihm weckte.
Er schloss die Augen und atmete tief ein, weil er ihren Duft, ihre Essenz brauchte, um sich zu befreien. Eine große Last begann ihm von den Schultern zu fallen, doch als er Gelis wieder ansah, wurde ihm der feuchte Glanz in ihren Augen beinahe zum Verhängnis.
»Du liebe Güte, das ist doch kein Grund zum Weinen«, sagte er mit rauer Stimme.
»Ich weine nicht.« Als sie zurücktrat, blinzelte sie jedoch heftig. »Aber vielleicht werde ich es tun, wenn du nicht aufhörst, mir so traurige Geschichten zu erzählen - und dir endlich eingestehst, dass du mich brauchst!«
»Natürlich brauche ich dich. Mehr, als ich ja gedacht hätte.« Das Geständnis kam ihm erstaunlich leicht über die Lippen.
Und noch überraschender war, dass es ihn glücklich machte.
So glücklich, dass er vor Freude hätte jubeln können.
Er nahm Gelis noch fester in die Arme, aber als er dann einen unverwandten Hundeblick aus der Richtung des Kaminfeuers auf sich spürte, ließ er sie wieder los.
»Warte hier«, sagte er und führte sie in den Schutz der Fensterlaibung. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Dann wandte er sich ab und durchquerte das Zimmer, bevor ihn sein Verstand verließ. Nachdem er die Tür einen Spalt geöffnet hatte, spähte er auf den dunklen Korridor hinaus.
»Wache!«, rief er, weil er wusste, dass sich eine in der Nähe aufhielt.
Und da erschien auch schon ›der Drache‹. »Aye, Sir?« Der junge Mann stand stramm, das pockennarbige Gesicht von einer kleinen Handfackel erhellt.
Ronan trat näher an die Tür, um der Wache den Blick ins Zimmer zu verstellen. Dann beugte er sich vor, um Dragon etwas ins Ohr zu flüstern.
»Wie Ihr wünscht, Sir.« Der junge Mann konnte sein Erstaunen kaum verbergen. »Ich bin gleich wieder damit zurück.«
Ronan blieb mit dem Rücken zum Zimmer an der Tür stehen, während er wartete. Erregt, wie er war, wäre selbst ein kurzer Blick über die Schulter auf die Versuchung hinter ihm ein viel zu großes Risiko.
Es war zu lange her, seit er in lustvollem Begehren bei einer Frau gelegen hatte.
Oder aus Liebe - das wusste er jetzt.
»Hier ist er, Sir«, hörte er Dragons Stimme durch den Türspalt.
Ronan streckte eine Hand ins Dunkel und ergriff den großen Fleischknochen. »Ich danke dir - und nun sorg bitte dafür, dass meine Frau und ich nicht gestört werden.«
Bevor die Wache etwas erwidern konnte, schloss Ronan die Tür und verriegelte sie. Dann holte er tief Luft, straffte seine Schultern und ging zum Kaminfeuer hinüber.
»Für dich«, sagte er zu Buckie, bevor er ihm den großen Knochen gab. »Betrachte ihn als Bestechung.«
»Bestechung?« Gelis trat aus der Fensterlaibung. »Für Buckie?«
»Nun ja, irgendwie muss ich ihn ja beschäftigen.« Ronan trat vor und zog sich schon im Gehen das Hemd über den Kopf. »Ich will nicht, dass er sieht, was ich jetzt mit dir tun werde.«