2. Kapitel
Die Hand noch am Riegel des hinteren Tors, blieb Gelis am Rand des überfüllten Hofes stehen. Das reinste Chaos herrschte hier, und sie brauchte nicht ihre neu entdeckte hellseherische Gabe, um zu wissen, dass der Aufruhr alles andere als das gewohnte rege Treiben auf Eilean Creags großem Burghof war. Nicht, dass die Unruhe sie gestört hätte. Als jemand, der es immer aufregend fand, wenn etwas in Unordnung geriet, straffte sie ihre Schultern und fuhr sich mit ihren immer noch kalten Fingern durch das Haar, ohne überrascht zu sein, dass kaum noch eine Nadel darin geblieben war.
Das Bild des Raben war ihr lebhaft in Erinnerung geblieben, und der Gedanke an sein bemerkenswert gutes Aussehen und die betörende Intensität seiner dunklen Augen ließ ihr Herz schneller schlagen und brachte ihren Puls zum Rasen. Sie dachte auch an die Heftigkeit seiner Umarmung, als sie sich bückte, um den feuchten Sand und die Reste Seetang abzuklopfen, die am Saum ihres Umhangs klebten, wobei ihr ziemlich egal war, dass ihre Bemühungen kaum einen Erfolg brachten.
Sie hatte wichtigere Dinge im Sinn, als sich darum zu sorgen, ob jemand sie befremdet ansah.
Was ihre verschmutzten Kleider anging, so würde sie sich bei den Wäscherinnen entschuldigen und dafür sorgen, dass sie ein paar Ellen feinen Wollstoff für ihre Mühe erhielten. Vorausgesetzt natürlich, sie schaffte es über den Hof bis zu dem hölzernen Waschtrog, an dem die Frauen arbeiteten - was angesichts des Gedränges von Clanangehörigen und Dienstboten ein ziemlich unmögliches Unterfangen war.
Gelis biss sich auf die Lippen und sah sich um. Einige der Garnisonssoldaten versuchten, sich den Anschein von Geschäftigkeit zu geben, obwohl sie offensichtlich gar nichts taten, während andere in Grüppchen zusammenstanden und ihre lauten, aufgeregten Stimmen nur noch von dem Gebell der Burghunde übertroffen wurden. Mit Ausnahme der beiden alten Lieblingshunde ihres Vaters, Telve und Troddan, rannten alle vierbeinigen Haustiere von Eilean Creag wie wild herum, trieben Hühner auseinander, machten die Pferde nervös und trugen so zu dem allgemeinen Eindruck von Unruhe und Chaos bei.
Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, stürzte sie sich ins Gedränge. Leider kam sie jedoch nur einige Schritte weit, bevor Arabella sich vor ihr durch die Menge zwängte, ihr den Weg verstellte und ihren Arm ergriff.
»Ich wusste, dass du zum See gegangen bist«, sagte Arabella missbilligend beim Anblick ihrer zerknitterten und feuchten Kleider. »Du hast dir einen schönen Tag ausgesucht, um wie ein halb ertrunkenes Fischweib herumzulaufen!«
»Und du ähnelst einer gedörrten Pflaume mit deinem verkniffenen Gesicht.« Gelis entzog Arabella ihren Arm. »Es ist ein schöner Tag. Du wirst nicht glauben, was ...«
»Du bist es, die nicht glauben wird, was Vater dir zu sagen hat. Er ...«
»Du hast ihm von der magischen Schüssel erzählt!« Gelis konnte spüren, wie sie vor Wut errötete. »Statt Mutter beim Besticken der Kissenbezüge zu helfen, bist du zu Vater gelaufen, um mir Ärger zu machen.«
»Oh, mit Ärger musst du rechnen, aber nicht durch meine Schuld.« Arabella ergriff wieder ihren Arm und begann sie in Richtung Burg zu ziehen. »Ein Bote kam, während du da draußen warst. Er hat einen Heiratsantrag für dich überbracht, und Vater hat zugestimmt. Er ...«
»Einen Heiratsantrag? Für mich und nicht für dich?« Gelis blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Und Vater hat zugestimmt? Ach was, das glaube ich nicht.«
»Das solltest du aber. Und mir macht es nichts aus. Ganz und gar nicht. Ehrlich gesagt würde ich eine solche Last auch nicht auf meinen Schultern wollen!« Arabella sah sie an. »Warum, glaubst du, sind alle hier draußen auf dem Hof? Weil sie sich vor Vaters Zorn verstecken.«
Sie sprang beiseite, als einer der Burghunde auf der Jagd nach zwei Ziegen an ihnen vorbeischoss. »Siehst du? Sogar die Hunde haben die Burg verlassen, bis auf den armen Telve und Troddan. Und die kauern in einer Ecke von Vaters Arbeitszimmer, mit eingeklemmtem Schwanz und angelegten Ohren.«
»Ich verstehe nicht.« Gelis strich sich eine Locke aus der Stirn. »Du sagtest doch, er habe zugestimmt.«
»Das hat er. Aber das heißt nicht, dass er auch froh darüber ist.«
Gelis war zu verblüfft, um klar zu denken. »Das ergibt doch keinen Sinn. Er hat solche Heiratsanträge doch noch nie freundlich aufgenommen. Da würde er doch schon gar nicht einen annehmen, der ihn so wütend macht, dass sich alle aus der Burg flüchten, um ihm nicht in die Quere zu kommen.«
»Er hat ihn aber angenommen.« Arabella zupfte an einem Fädchen an ihrem Ärmel. »Ich habe ihn mit Onkel Marmaduke darüber reden hören. Er sagte irgendwas über seine Ehre, um derentwillen er mit dem Rücken an der Wand steht.«
»Verstehe.« Gelis überlegte. »Wer auch immer den Antrag gemacht hat, er hat Vater da gepackt, wo es einen Mann am meisten schmerzt.«
»Gelis!«, rief ihre Schwester entsetzt. »Wenn du so derb daherredest, wird kein Mann dich nehmen. Nicht einmal, wenn er ein zweiköpfiges Ungeheuer ist oder Vater dich auf einem Silbertablett übergibt.«
Gelis begann zu lachen, verstummte aber gleich wieder, als eine Wolke über den blauen Himmel zog, die das Kopfsteinpflaster verdunkelte und sie erschaudern ließ. Der Schatten des Rabens folgte ihr. Sie konnte ihn und seine großen Schwingen, die die Luft bewegten, in ihrer Nähe spüren. Als sie aufblickte, sah sie nur die Wolke, und dennoch lief es ihr wieder kalt über den Rücken. Ob sie ihn sehen konnte oder nicht, ihr Herz wusste, dass er da war. In Gestalt eines Raben kreiste er über dem Hof, blieb zunächst in der Schwebe und stieß dann tiefer herunter, bis er ihr fast so nahe war wie vorhin am Strand. Dann schwang er sich wieder in die Lüfte und ließ nur den belebten, sonnenüberfluteten Burghof hinter sich zurück.
Gelis stockte der Atem, und ein erwartungsvolles Prickeln begann sie zu durchrieseln.
Köstlich und ... erregend.
Ein Gefühl des Triumphs erfasste sie, und sie drückte eine Hand an ihre Brust. Er war ihr Zukünftiger, dessen war sie sich ganz sicher. Entweder kam der Heiratsantrag von ihm, oder er ließ sie wissen, dass daraus nichts werden würde.
Doch ein so mächtiger Mann wie der Rabe würde nicht zulassen, dass sie einem anderen gegeben wurde.
Impulsiv ergriff sie den Arm ihrer Schwester und drückte ihn. »Wer auch immer um meine Hand angehalten hat, er ist kein zweiköpfiges Ungeheuer, da bin ich mir ganz sicher. Er wird der perfekte Ehemann für mich sein, du wirst schon sehen.«
»Wie sehr ich mir das für dich wünsche!« Arabella schüttelte Gelis' Hand ab, um den Staub von ihrem Rock zu klopfen. »Aber perfekte Ehemänner kommen für gewöhnlich nicht aus zweifelhaften, verfluchten Clans. Ich hörte Vater sagen, dass der Mann ...«
»Pah!« Diesmal lachte Gelis wirklich. »Als Mann, der sein Leben lang als Teufel bezeichnet wurde, sollte er seinen Atem nicht damit verschwenden, über andere herzuziehen.«
»Er klang aufrichtig besorgt.«
»Das braucht er aber nicht zu sein, weil ich es auch nicht bin.«
Arabella furchte die Stirn. »Du hast das Schicksal herausgefordert, als du geboren wurdest. Ich hoffe nur, dass es nicht zurückschlägt und dich beißt.«
»Bestimmt nicht.« Gelis streckte die Hand aus und kniff Arabella lächelnd in die Wange. »Ich habe mein Schicksal gesehen. Deshalb fürchte ich mich auch nicht.«
Bevor ihre Schwester etwas erwidern konnte, fuhr sie herum, raffte ihre Röcke und begann die Turmtreppe hinaufzulaufen.
Die wenigen noch Anwesenden im Saal erschraken, als sie an ihnen vorbeihuschte. Überrascht und sprachlos starrten sie ihr nach, als sie durch den Mittelgang zu der Treppe rannte, die zum Arbeitszimmer ihres Vaters führte.
Es war ein gemütlicher, mit kostbaren Wandbehängen versehener Raum, in dem sie nicht nur ihre erstaunliche Gabe offenbaren konnte, sondern auch die beste Nachricht ihres Lebens hören würde.
Das glaubte Gelis jedenfalls, bis sie das oberste Stockwerk des Turms erreichte und in das Arbeitszimmer stürmte, wo sie ihren Vater dabei anzutreffen erwartete, wie er mit wütendem Blick und geballten Fäusten ihren Freier mit einer Litanei von Flüchen überhäufte. Stattdessen empfing sie drückende Stille, und es dauerte einen Moment, bis sie ihren Vater entdeckte, der zusammengesunken in einem Sessel am Kamin saß.
Atemlos hielt Gelis inne, und etwas von ihrem Mut geriet ins Schwanken.
Duncan MacKenzie war kein Mann, der sich eine solch nachlässige Haltung gestattete.
Und auch keiner, der eine Niederlage hinnahm.
Doch genau so sah er in diesem Augenblick aus. Müde, wie betäubt und resigniert.
Als er sie sah, sprang er jedoch auf und setzte seine übliche finstere Miene auf, als wäre sie die ganze Zeit da gewesen. »Herrgott noch mal, Mädchen, wo hast du bloß gesteckt?« Er trat zwei Schritte vor und packte sie an den Schultern. »Würde ich dich nicht besser kennen, könnte ich auf die Idee kommen, du wärst im Loch Duich schwimmen gewesen.«
»Sei rücksichtsvoll zu ihr.« Ihre Mutter trat aus dem Schatten auf der anderen Seite des Kamins. »Irgendetwas hat sie offensichtlich aufgeregt. Dein Geschrei und deine grimmige Miene werden alles nur noch schlimmer machen.«
»Ha! Der da weiß doch gar nicht, was rücksichtsvoll zu sein bedeutet«, warf Sir Marmaduke ein, der auf der anderen Seite des Zimmers an einem Tisch lehnte. Der beste Freund ihres Vaters und durch die Ehe mit Caterine, der Schwester ihrer Mutter, Gelis' Onkel warf einen vielsagenden Blick in Linnets Richtung. »Vielleicht solltest besser du es ihr sagen, meine Liebe.«
Gelis' Mutter machte ein Gesicht, als sei ihr nicht ganz wohl, und ein mitleidiger Ausdruck erschien in ihren Augen.
Was ein denkbar schlechtes Zeichen war.
»Ihr braucht mir nichts zu sagen.« Gelis entzog sich ihrem Vater und öffnete ihren Umhang, um ihn auf eine Bank neben der Tür zu werfen. »Ich weiß es schon«, fügte sie schnell hinzu, bevor ihre Mutter versuchen konnte, es ihr zu erklären. »Oder jedenfalls glaube ich, dass ich es weiß. Etwas ist unten am See geschehen. Ich hatte eine Vision und ...«
»Eine Vision?« Die Augen ihrer Mutter weiteten sich. »Was willst du damit sagen?«
»Genau das, was du denkst.« Gelis warf ihr Haar zurück und konnte ihr Herz klopfen hören, so aufgeregt war sie. »Ich habe deine taibhsearachd geerbt, Mutter. Wer hätte das gedacht, wo doch bis jetzt nichts davon zu erkennen war, aber sie überkam mich plötzlich, als ich am Strand spazieren ging. Zuerst hatte ich Angst, weil alles dunkel um mich wurde und ich schon dachte, ich wäre blind. Aber es war eine Vision, genau so wie deine.«
Sie unterbrach sich kurz und versuchte zu übersehen, dass das linke Auge ihres Vaters wieder zuckte. »Es geschah ganz schnell. Ich hatte einen Raben beobachtet, der über dem See kreiste, und plötzlich stieß er auf mich herab, umfasste mich mit seinen Schwingen ...«
»Großer Gott!« Die Augenbrauen ihres Vaters fuhren fast bis zum Haaransatz hinauf. »Ein Rabe?« Er warf einen Blick auf ihre Mutter und Sir Marmaduke. »Bist du sicher? Ich meine, dass du nicht am Strand eingeschlafen bist und das alles nur geträumt hast?«
»Gelis und am Strand einschlafen? Ha!« Lachend schüttelte Sir Marmaduke den Kopf. »In all den Jahren, die ich sie kenne, war es immer eine harte Prüfung, sie überhaupt dazu zu bringen einzuschlafen.« Er warf ihrem Vater einen vielsagenden Blick zu. »Du solltest dir besser anhören, was sie zu sagen hat, mein Freund. Das gibt der Sache nämlich eine interessante Wendung.«
»Eine interessante Wendung«, äffte Duncan ihn nach, wobei er den Freund ärgerlich ansah. »Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt, Sassenach. Ich sage, sie hat es geträumt. Oder es sich nur eingebildet.«
»Hört auf, ihr zwei.« Linnet trat zwischen sie. Sie hatte sich wieder gefasst, und ihre Stimme klang ruhig wie immer. »Überraschende Wendungen im Leben geschehen nur selten ohne Grund.«
Duncan schnaubte. »Falls es einen Grund gibt, kann dieser kein guter sein.«
Linnets Blick blieb auf der Pergamentrolle haften, die neben Duncans leerem Sessel in der Binsenstreu auf dem Boden lag. »Ob gut oder schlecht werden wir erst noch beurteilen müssen. Ich zweifle jedoch nicht daran, dass es eine Verbindung gibt.«
»Ist das die Botschaft mit dem Antrag für mich?« Gelis hob die Rolle auf, ließ sie aber fast wieder fallen, als sich das Pergament um ihre Finger rollte, als wollte es ihre Hand ergreifen. »Ich - oooh!« Sie fuhr zusammen, als das herabbaumelnde Wachssiegel ihr Handgelenk streifte und prickelnde kleine Hitzewellen über ihre Haut sandte.
Gerade genug, um sie wissen zu lassen, dass das Schriftstück wirklich etwas mit dem Raben zu tun hatte.
Denn sie bezweifelte, dass irgendjemand sonst ein Stück Pergament und ein bisschen Wachs mit so viel Macht erfüllen konnte.
Der Gedanke löste ein warmes Kribbeln in ihr aus, das ihr unter den gegebenen Umständen unangebracht vorkam.
Gelis war sehr wohl bewusst, dass ihre Wangen brannten, als sie das Pergament auf den Tisch legte und dann mit den Händen über die feuchten Falten ihrer Röcke strich. Doch die prickelnde Wärme blieb, und ihr war, als züngelten winzige Flammen ihre Armen hinauf und bis hinunter in ihre Zehen.
»Du weißt es also schon«, sagte ihre Mutter, die sie aufmerksam beobachtet hatte. »Weil du mit dem Boten der MacRuaris unten im Saal gesprochen hast?«
»Nein, Arabella hat es mir gesagt.« Gelis erschauerte, weil das seltsame Prickeln sie daran erinnerte, wie sie sich gefühlt hatte, als ihr zukünftiger Liebster aus der silbrigen Öffnung im Dunkel ihrer Vision getreten war, nicht mehr in Gestalt eines Raben, sondern als der schönste, unwiderstehlichste Mann, den sie je gesehen hatte. Sie sah ihre Mutter, ihren Vater und ihren Onkel an und fragte sich, ob sie wohl das Hämmern ihres Herzens hören und ihre Erregung spüren konnten.
»Dann ist er also ein MacRuari«, sagte sie und versuchte nicht einmal, es wie eine Frage klingen zu lassen. »Ich habe noch nie von diesem Clan gehört.«
»Ich wünschte, das müsstest du auch jetzt nicht.« Ihr Vater begann auf und ab zu gehen, die Fäuste so fest geballt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Ich würde alles dafür geben, um diese Verbindung zu verhindern, Kind. Alles, was ich besitze.«
»Aber nicht deine Ehre.«
Er warf ihr einen Blick zu. In seinen Augen lag der harte Glanz, den sie bisher immer nur gesehen hatte, wenn er aufgebrochen war, um in den Krieg zu ziehen. »Du wirst natürlich Schutz erhalten, also mach dir keine Sorgen. Ich mag mich meiner Ehre wegen gezwungen sehen, diesen Antrag anzunehmen, doch sowie ich zugestimmt habe, bin ich niemandem mehr verpflichtet.« Er unterbrach sich, aber sein Ausdruck wurde selbst dann nicht weicher, als Telve zu ihm hinüberschlurfte und sich an seine Beine lehnte. »Danach, falls dir auch nur das kleinste Unrecht zugefügt werden sollte, werde ich dafür sorgen, dass der Rabe und der Clan MacRuari restlos aus den Highlands ausgetilgt werden!«
»Der Rabe?« Gelis vergaß beinahe zu atmen. »Der Mann, der um meine Hand anhält, nennt sich der Rabe?«
Ihr Vater nickte kurz.
»Der Mann, den du heiraten wirst«, stellte ihre Mutter klar. »Sein richtiger Name ist Ronan MacRuari. Der Antrag kam jedoch von seinem Großvater Valdar, dem Clanchef der MacRuaris. Die Beziehung deines Vaters zu diesem Mann ist der Grund, warum er gegen diese Heirat keine Einwände erheben kann. Das wirst du verstehen, wenn er es dir erklärt hat.«
Doch statt sie aufzuklären, wurde Duncans Miene nur noch grimmiger, und er presste die Lippen zusammen, bis sie nur noch ein schmaler, dünner Strich waren.
»Du musst es ihr sagen, mein Freund.« Sir Marmaduke kam zu ihm hinüber und reichte ihm einen bis an den Rand gefüllten Becher uisge beatha. »Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.«
Duncan schnappte sich den Becher und schüttete den starken Highlandschnaps in die Binsenstreu am Boden. Dann knallte er den leeren Becher auf den Tisch und funkelte seinen Freund böse an. »Wie würdest du einer deiner Töchter beibringen, dass sie den Sprössling eines verfluchten Clans heiraten soll? Einer solch übel heimgesuchten Familie, dass es heißt, selbst die Sonne hätte Angst, in ihrem Tal zu scheinen?«
Sir Marmaduke hielt Duncans zornigem Blick ruhig stand. »Das ist ganz einfach. Ich würde ihr alles von Anfang an erzählen.«
»Das ist ganz einfach.« Duncans Augen blitzten. »Glaubst du, ich wäre so erbost, wenn es so wäre? Die Geschichte von Anfang an zu erzählen oder mit dem Eintreffen dieses verdammten Antrags zu beginnen, macht kaum einen Unterschied. Die Gefahr, dass ihr etwas zustößt, ist die gleiche.«
»Du regst dich ganz umsonst auf, Vater. Mir wird nichts zustoßen.« Gelis war sich dessen völlig sicher. »Welche dunklen Mächte auch immer in diesem Clan am Werk sind, der Rabe wird nicht zulassen, dass mir Böses widerfährt. Ich weiß das aus der Vision, die ich am See hatte. Ronan MacRuari ist kein Ungeheuer, sondern ein Mann, dessen Seele leidet. Er braucht mich. Und er will mich. Er wird mich gut behandeln ...«
»Er wird dich mit der Ritterlichkeit und dem Respekt behandeln, die ein Mann seiner Gemahlin schuldig ist.« Duncan begann wieder auf und ab zu gehen. »Ich habe nie gesagt, dass er ein Ungeheuer ist. Und sein Großvater Valdar hat mehr Herz und Ehre als jeder andere Mann, den ich gekannt habe. Bis auf einen.« Er warf einen Blick durch das Zimmer zu Sir Marmaduke, der jetzt wieder am Schreibtisch lehnte. »Doch ungeachtet dessen gibt es unsägliche Gefahren auf Castle Dare. Die MacRuaris sind keine Unholde, aber sie sind verflucht.«
»Dann brauchen sie jemanden, um den Fluch zu brechen.« Gelis zupfte einen Streifen Seetang von ihrem Rock und wickeln ihn um ihren Finger. »Und ich habe Grund zu glauben, dass ich dieser Jemand bin.«
Duncan funkelte sie an. »Verharmlose keine Frevel, die bis zu einer Zeit zurückreichen, als diese Berge hier noch jung waren. Seit Jahrhunderten hat jeder MacRuari - oder die, die ihnen nahestanden -, der über den Fluch erhaben zu sein glaubte, ein tragisches Ende gefunden. Und falls er überlebte, waren seine restlichen Tage so von Angst und Grauen heimgesucht, dass er wünschte, er wäre gestorben.«
»Verstehe.« Gelis warf das Stückchen Seetang ins Kaminfeuer. »Das ändert die Dinge natürlich.«
Duncan zog skeptisch eine Braue hoch.
Ihre Mutter dagegen schien erleichtert. »Wenn du willst, können wir sicher einen Weg finden, den Antrag abzulehnen«, sagte sie, den Blick auf ihren Mann gerichtet. »Alte Bande oder nicht.«
»Das meinte ich nicht, Mutter.« Gelis machte es sich in dem Sessel ihres Vaters am Kamin bequem und richtete sich auf ein langes Gespräch ein. »Ich fürchte mich nicht vor dem MacRuari-Fluch und will auf jeden Fall den Raben heiraten.«
Linnet furchte die Brauen. »Aber du sagtest doch gerade ...«
»Ich meinte, dass ich angesichts all dessen nicht einfach losreiten und den Mann heiraten kann, wie ich voll und ganz zu tun entschlossen war.« Sie lehnte sich zurück und lächelte. »Was ich meinte, war, dass ich jetzt so viel wie möglich über den Clan und den Fluch erfahren muss, bevor ich dem Raben begegne. Nur dann kann ich ihm helfen.«
»Ihm helfen?« Ihr Vater machte ein Gesicht, als hätte er etwas Bitteres geschluckt.
»Richtig.« Gelis lächelte. »Und helfen kann ich nur, wenn du mir alles erzählst. Die ganze Geschichte und von Anfang an, wie Onkel Marmaduke vorschlug.«
Während sie darauf wartete, dass ihr Vater begann, gab sie sich alle Mühe, keinen zu selbstzufriedenen Eindruck zu erwecken. Was nicht leicht war. Aber genauso schwer war es, das Lachen zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Gelis MacKenzie, die Tochter des gefürchteten Schwarzen Hirschen, sollte Angst vor dunklen Tälern haben? Ha!
Sie war alles andere als ängstlich.
Genau genommen war es sogar so, dass sie es kaum erwarten konnte, das Abenteuer zu beginnen.
Tage später und viele Meilen entfernt, in einem dunklen, abgeschiedenen Winkel Kintails, entzündete Ronan ›der Rabe‹ MacRuari die Wandfackeln in seinem Schlafzimmer. Seine Stimmung wurde noch schlechter, als er die Sinnlosigkeit dieses Tuns erkannte. Denn auch dieses zusätzliche Licht konnte die Düsternis im Raum nicht vertreiben, in dem bereits ein gutes Dutzend feiner Wachskerzen brannte und ein besonders großes Feuer im Kamin prasselte.
Es war sinnlos.
Denn Castle Dare, seit undenklichen Zeiten das Heim seiner Familie, war ein verfluchter Ort, an dem jede Kerze nach innen ausbrannte, ihr Licht und ihre Wärme für sich behielt und die Burgbewohner im Dunkeln frösteln ließ.
Eine Last und eine Heimsuchung, die so unerträglich geworden war, dass er am liebsten diese ganze verdammte Festung niedergerissen hätte, Stein für Stein. Gott wusste, dass die Gründe, dies zu tun, unzählbar waren. Doch die Umstände waren leider so, das er den Gedanken daran ebenso schnell wieder verdrängte, wie er ihm in den Sinn gekommen war.
Ronan ballte die Fäuste und ignorierte die Dunkelheit, als er grimmig in den dichten grauen Nebel starrte, der an den Fenstern vorbeizog. Undurchdringlich und beklemmend füllte er die hohen Bogenfenster, kroch er in dünnen Schwaden fingergleich über die Fenstersimse gerade weit genug ins Zimmer, um Ronans Zorn noch weiter anzustacheln.
Er presste die Lippen zusammen und wurde starr vor Anspannung. In jüngeren Jahren hätte er sein Schwert gezogen und auf den Nebel eingeschlagen, um dessen kalten, feuchten Brodem wie einen Schwarm sich windender Schlangen zu den Fenstern hinauszutreiben.
Aber heute wusste er es besser.
Nicht einmal alle Schwerter der Highlands konnten etwas gegen diese Teufelei bewirken.
Ronan unterdrückte einen Fluch und weigerte sich, der Dunkelheit den Sieg zu überlassen, auch wenn eine unbewegte Miene nur ein sehr kleiner Triumph war. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und war nicht überrascht, den Geruch von Regen wahrzunehmen. Der Gedanke, dass die Menschen an jedem anderen Ort in Kintail sich jetzt an einem schönen Herbstnachmittag erfreuten, krampfte ihm den Magen und das Herz zusammen.
Auch er würde es genießen, irgendwo im Hochland unter einem wolkenlosen blauen Himmel zu stehen und den frischen Wind zu spüren. Oder am Ufer eines Sees entlangzureiten, frei von Sorgen und Flüchen und geblendet von dem Licht, das auf dem Wasser glitzerte.
Licht, das er nach Castle Dare zurückbringen wollte - falls die Sonne die erdrückenden Mauern dieser Festung überhaupt schon jemals mit ihren Strahlen berührt hatte.
Er bezweifelte das.
Was er nicht bezweifelte, war die Zuversicht, dass er diesen Fluch brechen würde.
Mit grimmigem Blick schaute er auf die eisenbeschlagene Truhe auf der anderen Seite des Zimmers, in der seine Reisekleidung lag. Es war an der Zeit, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Doch noch ehe er zur Truhe hinübergehen konnte, wurde die Tür zu seinem Zimmer aufgestoßen und sein Großvater stürmte herein, gefolgt von einer Magd mit einer Kanne Wein und Bechern.
»Ho, Junge! Ich bringe gute Neuigkeiten.« Der große, stämmige Mann, der trotz seines ergrauenden Haars noch immer wie ein grimmiger Kämpfer aussah, stürmte so schnell an Ronan vorbei, dass ihm sein Plaid um die Knie flatterte und das lange Schwert gegen das Bein schlug. Er ging geradewegs auf die Fenster zu, vor denen sich die Nebelschwaden bei seinem Näherkommen auflösten. »Pah! Siehst du? Selbst die wissen, wann sie sich geschlagen geben müssen.«
Ronan widerstand dem Impuls, eine Augenbraue hochzuziehen. Es kam in der Tat nur selten vor, dass der verdammte Nebel sich nicht zurückzog, wenn Valdar MacRuari einen Raum betrat.
Denn ob der Clan sein altes Oberhaupt liebte oder nicht, das Furchteinflößende, das er an sich hatte, vermochte selbst die Schatten des Mondes zu vertreiben.
»Nun?«, fragte er mit dröhnender Stimme.
»Ob Mensch oder Nebel, klug ist, wer den Moment erkennt, wann er sich zurückziehen muss.« Ronan sah die letzten dünnen Nebelfetzen über den Fenstersims ins Freie kriechen. »Ich habe auch Neuigkeiten ...«
»Bestimmt nicht so erfreuliche wie meine.« Sein Großvater stand mit stolzgeschwellter Brust vor ihm und blickte unter seinen buschigen Brauen das Dienstmädchen an, das neben ihm stand. »Und wenn Anice sich in Bewegung setzt und uns Wein einschenkt, können wir auf dein Glück trinken.«
Ronan runzelte die Stirn.
Das Mädchen starrte mit großen Augen auf das Fenster, und die Hände zitterten ihr so heftig, dass der Rotwein aus der Kanne überschwappte und ihren Rock befleckte.
Die Kleine war die Tochter eines Rinderhirten und sie würde noch vor Angst in Ohnmacht fallen, wenn man sie nicht bald zurück nach Hause schickte. Es war nur eine bescheidene, strohgedeckte Kate aus Stein und Torf, aber sie stand am äußersten Rand der Ländereien der MacRuaris und war damit weit genug entfernt, um von Castle Dares schlimmster Düsternis verschont zu bleiben.
Ronan nahm Anice den Krug und die Becher ab und entließ sie mit einem Nicken. Kaum war sie hinausgehuscht, schenkte er zwei Becher des starken Rotweins ein und reichte einen seinem Großvater. »Die Kleine wird froh sein, wenn du ihr sagst, dass ihre Dienste hier nicht mehr benötigt werden.« Den Blick auf Valdar gerichtet trank Ronan einen Schluck Wein. »Und sogar noch froher, zurückkehren zu dürfen, wenn ich wieder da bin ... falls alles nach Plan geht.«
»Wenn du wieder da bist?« Valdars Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Du liebe Güte, Junge, du kannst jetzt nicht hier weg! Nicht, wenn deine Braut schon morgen eintrifft.«
Ronan verschluckte sich fast an seinem Wein. »Meine was?«
»Deine Braut!«, wiederholte Valdar scharf und verengte seine Augen zu seinem durchdringendsten Blick. »Das Mädchen, mit dem du schon seit Langem hättest verheiratet sein müssen. Ich habe sie für dich geholt.«
»Dann wirst du sie wieder zurückbringen müssen.«
»Das glaube ich nicht.« Ein unerbittlicher Ausdruck erschien in Valdars Augen. »Du brauchst sie.«
Ronan sah ihn finster an. »Ich brauchte Matilda. Sie ist die Frau, die immer noch an meiner Seite sein sollte. Und Cecilia, meine zweite Frau, hat nur Kummer und Verderben durch mich erfahren. Ich werde mir nicht noch eine Frau nehmen.«
Sein Großvater schnaubte, zog den fein gearbeiteten, breiten Schultergurt seines Schwerts zurecht, holte tief Luft und schien sich auf ein Wortgefecht mit seinem Enkel vorzubereiten. »Du warst doch fast noch ein bartloser Junge, als du Matilda geheiratet hast. Sie war reizend, ja. Ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Aber sie hatte nicht die Beherztheit und die Stärke für das Leben auf Castle Dare. Deine Leidenschaft für sie hätte nachgelassen, hätte sie länger als die wenigen Tage nach eurer Hochzeit gelebt.«
Ein Muskel zuckte an Ronans Kinn. »Sie würde noch leben, wenn sie mich nicht geheiratet hätte. Cecilia ...«
»Cecilia war ein zarter kleiner Spatz.« Valdar schob das Kinn vor, als forderte er Ronan auf, das zu bestreiten. »Und manch einer sagt sogar, für sie sei es besser, in Frieden zu ruhen, als das Fieber zu erleiden, das sie jeden Winter heimgesucht hat.«
Ronans Stirnrunzeln vertiefte sich. »Sie ist im Kindbett gestorben und nicht an einem Fieber.«
»Wie so viele Frauen in diesen Highlands, mögen ihre Seelen in Frieden ruhen.«
»Cecilia war eine zu viel.«
Ronan ging zum Feuer, um zwei dicke schwarze Torfstücke nachzulegen. Über seine beiden verstorbenen Ehefrauen nachzudenken, über sie zu sprechen, schnürte ihm die Kehle zu und krampfte ihm die Eingeweide zusammen, als hätte sich plötzlich eine riesige Hand aus der Hölle erhoben und ihre glühende Faust um sie geschlossen.
»Mir den Rücken zuzukehren wird nichts ändern«, sagte sein Großvater mit ärgerlich erhobener Stimme. »Für dich, für Castle Dare und für alle, die innerhalb dieser Mauern leben, ist es unerlässlich, dass du die richtige Frau heiratest. Erst dann wird das Dunkel nachlassen.«
»Das sagst du.« Ronan, dessen Schläfen so heftig pochten, dass ihm schier der Kopf zu platzen drohte, drehte sich um. »Und ich sage dir ein letztes Mal, dass ich nie wieder heiraten werde.« Ohne Valdars wütendes Schnauben zu beachten, ging er durch das Zimmer und öffnete den Deckel seiner Truhe. »Ich habe bereits einen Plan gefasst, um Castle Dare von allen Übeln zu befreien.«
»Bah!« Valdar blickte stirnrunzelnd auf die Reisekleidung in der offenen Truhe. »Indem du dich auf irgendeine unsinnige Reise machst?«
»Nein, Sir, da irrt Ihr Euch.« Mit einem nicht weniger finsteren Stirnrunzeln nahm Ronan einen gefalteten Umhang aus der Truhe und legte ihn aufs Bett. »Dies wird keine unsinnige, sondern eine äußerst erfolgreiche Reise sein. Seit dem Tod meines Vaters hat sich der Fluch Maldreds des Schrecklichen auf mich gerichtet. Was ich vorhabe, ist ...«
Ein Geräusch wie Donnergrollen ging durch Valdars Brust. »Maldred hat Dare nie verflucht! Er ...«
Ronan schnaubte. »Der Kerl war ein Erzdruide und Zauberer. Seine Bosheit und seine Missetaten haben jeden MacRuari gezeichnet und ihm eine schwere Last auferlegt. Es spielt keine Rolle, ob er den Fluch ausgesprochen hat oder nicht, das Ergebnis ist das gleiche.«
»Und deshalb musst du ein temperamentvolles, hübsches Mädchen mit genügend Tatkraft und Charakter heiraten, um Maldreds Einfluss unwirksam zu machen.« Sein Großvater griff nach dem Umhang auf dem Bett und warf ihn zurück in die Truhe. »Eine solche Braut wird das Licht nach Dare zurückbringen und Maldreds Macht mindern. Wenn du sie zu lieben beginnst, werden die Schatten sich verziehen. Dessen bin ich mir ganz sicher. Selbst die finstersten Mächte können durch die Liebe bezwungen werden.«
»Erspar mir diesen Unsinn.« Ronan holte sich den Umhang zurück und legte ihn auf das Bett. »Ich habe geliebt. Du weißt, wie leidenschaftlich ich für Matilda empfunden habe. Und erzähl mir nicht, seit Maldreds Zeiten habe es keine Liebe mehr auf Castle Dare gegeben.« Er warf Valdar einen Blick zu. »Ich mag verflucht sein, aber ein Dummkopf bin ich nicht.«
»Natürlich hat es hier auch Liebe gegeben«, erwiderte sein Großvater gereizt. »Ich war deiner Großmutter sehr zugetan, und auch dein Vater liebte deine Mutter. Aber nicht genug, um den auf Dare lastenden Fluch zu brechen. In arrangierten Ehen gibt es nur selten die Art von Leidenschaft, die das Heidekraut in Flammen setzt.«
»Und trotzdem glaubst du, dass eine dritte Ehe ein solches Feuer entfachen würde?« Ronan nahm einen zweites Schwertgehenk aus seiner Truhe und begann es aufzurollen. »Hörst du nicht den Widerspruch in deinen eigenen Worten?«
Ein verschwörerischer Glanz erschien in Valdars Augen. »Meine Gewährsmänner sagen, dass das Feuer deiner neuen Braut sogar die Sonne noch versengen würde.«
»Ich habe keine neue Braut. Und ich werde mir auch keine nehmen.« Ronan legte einen ledernen Weinschlauch zu dem aufgerollten Schwertgurt auf das Bett. »Außerdem heißt es, dass es dort, wo ich hingehe, genügend Frauen gibt, die mir nur allzu gern zu Willen wären, falls mir danach sein sollte.«
Sein Großvater betrachtete ihn prüfend. »Und wo soll das sein?«
»In Santiago de Compostela. Ich bin sicher, dass Maldred uns nicht länger plagen wird, habe ich erst einmal vor dem Schrein des heiligen Jakob gekniet und die Muschel als Pilgerabzeichen erhalten. Selbst er wird die Bedeutung eines solchen Zeichens anerkennen«, sagte Ronan, ganz und gar überzeugt von der Wahrheit seiner Worte. »Dieses greifbaren Beweises, dass ich die Pilgerreise gemacht und für die Erlösung unserer Familie gebetet habe. Kein Abzeichen ist heiliger als die Sankt-Jakobs-Muschel. Die dunklen Mächte auf Castle Dare werden davor zurückschrecken ...«
»Meinst du, ja?« Valdar zog die Augenbrauen hoch. »Und ich sage, dass du nichts als Unsinn schwafelst. Was du brauchst, ist das Feuer der kleinen MacKenzie. Das und nichts anderes!«
Ronan warf sein Plaid über die Schulter und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sollte es mich nach dem Feuer einer hübschen Frau verlangen, wird sich mir auf der Rückreise durch Spanien und Frankreich reichlich Gelegenheit dazu bieten.«
»Unsinn!« Valdar hob mahnend den Zeigefinger. »Du musst nicht durch die halbe Welt reisen, um uns von Maldred zu befreien. Ich sag dir doch, deine neue Braut scheint so hell, dass allein schon ihre Anwesenheit hier alle Düsternis vertreiben wird! Ich weiß es hier drinnen«, sagte er und klopfte sich mit einer Faust auf das Herz. »Gelis MacKenzie ...«
»MacKenzie?« Ronan glaubte, das Herz bliebe ihm stehen, und er starrte seinen Großvater entsetzt an. »Bist du von Sinnen? Der Schwarze Hirsch hat uns all diese Jahre in Ruhe gelassen. Er würde hier keinen Stein auf dem anderen lassen, wenn du auch nur daran dächtest, eine MacKenzie nach Castle Dare zu bringen.«
»Nicht nur irgendeine MacKenzie. Deine neue Braut ist die Tochter des Schwarzen Hirschen.«
Ronan presste die Finger an seine Schläfen und schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich jederzeit die Klinge mit Duncan MacKenzie kreuzen würde. Mit jedem Mann. Aber der Schwarze Hirsch kann eine hundertmal größere Armee als die unsere um sich sammeln. Seinen Zorn zu erregen würde Dares Ende bedeuten. Ich werde nicht ...« Er brach ab, weil ihm die Worte seines Großvaters erst jetzt so richtig zu Bewusstsein kamen.
Als er Valdar wie vom Donner gerührt anstarrte und dessen selbstzufriedenes Grinsen sah, war er sicher, dass sein pochender Schädel jeden Moment explodieren würde. »Die Tochter des Schwarzen Hirschen?«
Valdar nickte. »Höchstpersönlich. Lady Gelis ist Duncans Jüngste.«
Ronan schnappte nach Luft, weil der Boden unter seinen Füßen plötzlich schwankte und das Zimmer sich um ihn zu drehen schien. »Du bist von Sinnen. Einen aberwitzigeren Plan habe ich noch nie gehört. Oder einen problematischeren.«
Valdar winkte ab. »Es wird keine Probleme geben. Duncan MacKenzie hat der Heirat noch am selben Tag, an dem mein Bote ihn erreichte, zugestimmt.«
»Das fällt mir schwer zu glauben«, erwiderte Ronan mit schmalen Lippen.
»Es gibt einige Dinge, von denen du nichts weißt.« Sein Großvater hob eine Hand und gab vor, seine Fingerknöchel zu betrachten. »Der Schwarze Hirsch hat seit vielen Jahren eine Schuld bei mir zu begleichen. Und jetzt wird seine jüngste Tochter das für ihn tun.«
»Indem sie mich heiratet?«
Valdar blickte mit triumphierender Miene auf. »Dann wirst du sie also nehmen?«
»Das werde ich ganz bestimmt nicht.« Ronan verschränkte die Arme. Die Tochter des Schwarzen Hirschen war die letzte Frau, die er anrühren würde. »In tausend Jahren nicht.«
Der Triumph in Valdars Blick verblasste. »Du wirst Schande über unser Haus bringen, wenn du dich weigerst.«
»Es wird deine und niemand anderes Schande sein.«
»Ich bin Dare. So wie du es sein wirst, wenn ich die Clanführung an dich weitergebe.«
Ronan seufzte. Der Gedanke, dass sein furchtloser, stolzer Großvater das Gesicht verlieren könnte, machte ihm mehr zu schaffen als das Gezeter des alten Mannes. Er ging zum Tisch hinüber und schenkte sich Wein nach, den er diesmal in einem einzigen großen Schluck hinunterstürzte.
Er unterdrückte den Impuls, sich seine Reisesachen zu greifen und zu verschwinden, und wandte sich wieder seinem Großvater zu, weil sein Pflichtbewusstsein und seine aufrichtige Liebe zu Valdar ihn zum Bleiben zwangen.
Nicht, dass er vorhätte, Duncan MacKenzies Tochter zu ehelichen.
Er wollte nur so taktvoll wie möglich ablehnen.
Eben wollte er den Weinbecher wieder abstellen, als vor seinem inneren Auge für einen Moment das Bild einer auffallend schönen jungen Frau erschien. Sie stand an einem schmalen, kiesbedeckten Strand und sah ihn aus großen, funkelnden Augen an. Ihre Wangen waren gerötet, und das ungebärdige, rotgoldene Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Sie sah bezaubernd aus, trotz ihres nachlässigen Äußeren - oder vielleicht gerade deswegen. Sie hielt eine Hand auf ihr Herz gedrückt, während das Wasser des Sees ihre Knöchel umspielte, ihre Röcke durchnässte und sie ihr an ihre Beine presste.
Wohlgeformte Beine, bemerkte Ronan noch, bevor sein Blickwinkel sich veränderte und er sie aus größerer Entfernung sah, fast so, als blickte er aus großer Höhe auf sie herab.
Aber dann blinzelte er, und das erstaunliche Bild verschwand.
Erschüttert räusperte er sich. »Ich glaube, du solltest mir sagen, was für eine Art von Schuld der Schwarze Hirsch bei dir zu begleichen hat«, sagte er und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Großvater zu richten, bevor ihm irgendetwas Wichtiges entging. »Warum sollte Duncan MacKenzie das Leben seiner Tochter einem MacRuari anvertrauen?«
»Weil er mir sein Leben verdankt«, erwiderte Valdar mit triumphierender Miene.
»Dir?« Ronans Kinnlade klappte herab.
»Genau.« Valdar strich über seinen Bart, und ein Anflug von Wehmut erschien in seinen Augen, bis er sich zusammennahm und eine Spur zu energisch an seinem Plaid herumzupfte. »Du wirst es nicht wissen, aber dein Vater und der Schwarze Hirsch waren als junge Burschen gute Freunde. Damals glaubte ich fast an Maldreds kuriosestes Vermächtnis, nämlich die angebliche Unsterblichkeit einiger Mitglieder unseres Clans.« Er hörte auf, an seinem Plaid herumzunesteln und sah Ronan an, wobei der auffallende Glanz in seinen Augen das einzige Anzeichen dafür war, dass die Geschichte ihm zu schaffen machte. »Ich dachte sogar, ich wäre möglicherweise selbst einer von ihnen. Ob das ein Segen oder Fluch war, spielte keine Rolle. Ich hielt mich jedenfalls für unbesiegbar.«
»Sprich weiter.« Ronan lehnte sich an die Tischkante und verschränkte die Arme.
»Der junge Duncan war häufig Gast hier auf Dare. Sein Vater war ein kluger Mann und meinte, dass der Junge ganz Kintail kennen sollte, selbst seine düstersten Winkel. Dass der Junge tapfer genug war, Glen Dale zu betreten, machte ihn bei uns allen noch beliebter, und dein Vater und der Schwarze Hirsch waren damals unzertrennlich, wie Brüder beinahe.«
Ronan konnte es nicht glauben. »Mein Vater und Duncan MacKenzie?«
Sein Großvater nickte. »Dein Vater und der Schwarze Hirsch. Damals hatte ich hier auf Eilean Creag eine Galeere liegen. Sie war ein Geschenk der MacDonalds und eines der feinsten Schiffe der Hebriden. So schnittig, dass dein Vater und der junge Duncan mir ständig in den Ohren lagen, eine Fahrt mit ihnen zu unternehmen.« Er blinzelte und fuhr sich mit einer Hand über seine bärtige Wange. »Es war ein herrlicher Sommertag, als wir Segel setzten. Der Himmel war blau, kaum ein Wölkchen war am Horizont zu sehen, und es wehte ein guter Wind. Bis wir uns der Isle of Scarba bei Jura näherten ...«
»Jura?«, warf Ronan ein und zog die Augenbrauen hoch. »So weit nach Süden seid ihr gefahren?«
»Ich sagte doch schon, dass die Jungen eine kleine Reise machen wollten.« Sein Großvater sah plötzlich verstimmt aus und älter, als er war. »Ich wollte mit ihnen nach Doon, um die MacLeans zu besuchen.«
»Aber ihr habt es nie dorthin geschafft, nicht wahr?« Ein warnendes Prickeln begann in Ronans Nacken. »Es passierte etwas, und du hast dem Schwarzen Hirschen das Leben gerettet.«
Sein Großvater trat an eines der Fenster und starrte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, in den Nebel und den Regen. »Ein schwärzerer Sturm, als ich je erlebt hatte, kam von der See herein und machte den Tag schneller zur Nacht, als du blinzeln kannst. Riesige Wellen brachten uns vom Kurs ab und trieben uns viel zu nahe an den mächtigen Strudel von Corryvreckan heran.«
Mit gequälter Miene wandte er sich zu Ronan um. »Die Galeere ging nicht unter, aber in dem wilden Auf und Ab des Schiffs wurde der junge Duncan über Bord geschleudert. So nahe, wie wir dem Corryvreckan waren, wäre er von dem Sog unter Wasser gezogen worden, wenn ich nicht bis an den Rand des Strudels gefahren wäre und ihn herausgezogen hätte.«
Ronan starrte ihn an und begann endlich den Einfluss seines Großvaters auf Duncan MacKenzie zu verstehen. »Jetzt verstehe ich. Der Schwarze Hirsch schuldet dir tatsächlich viel. Für deine Tapferkeit und Entschlossenheit in einer Situation, in der andere Männer vielleicht ...«
»Das hatte nichts damit zu tun.« Valdar strich wieder mit verlegener Miene über sein Plaid. »Ich war ein junger Narr, der auf das fragwürdige Glück von Maldreds Vermächtnis vertraute und sicher war, dass kein Unglück ihn ereilen konnte.«
»Aber indem du jetzt die Schuld einforderst, würdest du riskieren, dass einem unschuldigen jungen Mädchen etwas Schlimmes widerfährt?« Ronan bereute die Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Er hob die Hand und trat einen Schritt vor. »Verzeih mir, Großvater. Du meinst es gut, aber ...«
»Nein, ich weiß, dass es das Beste ist.« Mit blitzenden Augen trat Valdar vor und ergriff die Hände seines Enkels. »Ich bin nicht mehr jung und dumm, mein Junge. Maldreds Schattenseiten sind mir nur allzu gut bewusst. Und auch die Gefahren. Du musst mir glauben, dass ich nie um Gelis MacKenzie für dich angehalten hätte, wenn ich nicht glaubte, dass sie hier sicher sein wird.«
Ronan entzog ihm seine Hände und begann auf und ab zu gehen. »Ich will sie aber trotzdem nicht. Es ist unmöglich, Großvater.«
Valdar eilte ihm nach und packte ihn am Arm. »Du musst, Ronan! Sie ist deine Rettung. Sie ist Dares Rettung, so wie du die ihre bist.«
Ronans Magen verkrampfte sich. »Ich bin für keine Frau die Rettung«, sagte er und sah plötzlich wieder das Mädchen am Strand vor sich. »Höchstens ihr Verhängnis.«
»Du musst zumindest darüber nachdenken.« Sein Großvater drückte ihm den Arm. »Du hast bis morgen Zeit.«
Mit diesen Worten verließ Valdar das Zimmer. Ronan starrte ihm durch die offene Tür nach, durchbohrte mit seinem Blick die Düsternis hinter seiner Schlafzimmertür, bis ihm die Augen brannten und seine Kehle sich in stummer Wut zusammenzog.
Er konnte und würde Gelis MacKenzie nicht heiraten.
Nachdem er den Deckel seiner Truhe zugeschlagen hatte, setzte er sich auf sein Bett und stieß frustriert den Atem aus. Die Neuigkeiten seines Großvaters waren alles andere als erfreulich gewesen.
Die unmittelbar bevorstehende Ankunft der Tochter des Schwarzen Hirschen war kein Grund zum Feiern, sondern eine Katastrophe.
Möglicherweise war es seit Jahrhunderten das Schlimmste, das Dare widerfahren konnte.