5. Kapitel
Gelis wusste, dass etwas nicht stimmte.
Sie spürte es bei jedem Schritt, den sie tat - immer weiter die gewundene Turmtreppe von Castle Dares hinauf, durch das kalte, triste Treppenhaus der Burg, das nur von dem schwachen Licht einiger zischender Binsenfackeln erhellt wurde, das kaum die Düsternis durchdrang. Nicht, dass die trübe Atmosphäre Gelis etwa störte.
Sie hatte schon Pläne gemacht, wie sie die Trostlosigkeit vertreiben würde.
Insgeheim begrüßte sie die Dunkelheit sogar, weil sie hoffte, belohnt zu werden, wenn sie sie beseitigte.
Oder dass ihre Bemühungen zumindest anerkannt würden.
Leider hatte der Mann, dem sie so unbedingt gefallen wollte, sich nicht mehr sehen lassen, seit er mit dem Druiden fortgegangen war, angeblich weil er den alten Mann wohlbehalten hatte heimbringen wollen.
»Ha!«, schnaubte Gelis beleidigt und stolperte fast über die Säume ihrer Röcke.
Es war ihr Bett, an das Ronan MacRuari heute Nacht denken sollte.
Nicht das eines Graubarts.
So ritterlich und fürsorglich sein Angebot auch war.
Sie raffte ihre hinderlichen weiten Röcke, um schneller gehen zu können, und unterdrückte ein weiteres ärgerliches Schnauben. Nicht Ritterlichkeit hatte den Raben veranlasst, die Festtafel so schnell zu verlassen. Er hatte sich von ihr zurückziehen wollen. Und sie ahnte auch, dass er nicht die Absicht hatte, seinen Schnitzer wiedergutzumachen.
Sie presste die Lippen zusammen. Die Scham über den Affront durchströmte sie - von ihren brennenden Ohren bis hinunter in ihre Zehen.
Das war es, was ihr zu schaffen machte.
Nicht der dunkle Treppenaufgang des Turms.
Und auch nicht, dass die Männer, die noch an der erhöhten Tafel saßen, eine laute und belanglose Diskussion über die Anforderungen und Probleme effektiver Clanführung angefangen und nicht einmal bemerkt hatten, dass sie aufgestanden und gegangen war.
Nicht, um sich zu verkriechen und ihre Wunden zu lecken.
Oh nein.
Sie brauchte nur ein bisschen Zeit für sich, um ihre nächsten Schritte zu überdenken.
Es war nicht leicht, über die Verführung ihres Ehemannes nachzudenken, wenn zwanzig Männer um sie herumsaßen, die über die Disziplinierung fehlgeleiteter Clanangehöriger schwafelten oder darüber berieten, was zu tun war, wenn ein guter Freund und Verbündeter plötzlich ein paar wertvolle Rinder stahl.
Oder über die Vorteile der Vergrößerung des Landbesitzes durch Eroberung oder Vererbung sprachen, gefolgt von einer leidenschaftlichen Diskussion über die hohe Kunst des Führens von Fehden.
Oder wessen Barde die süßesten Harfenklänge hervorbrachte.
Gelis straffte die Schultern.
Harfenklänge! Sie hatte wichtigere, größere Probleme zu klären.
Mit der Absicht, genau das zu tun, zog sie am Ärmel der jungen Dienstmagd, die ihr voranging. Die Kleine verhielt abrupt den Schritt und zuckte zusammen, während sie Gelis aus großen Augen anstarrte, als hätte ein zweiköpfiger Wasserdrache sie gepackt.
Gelis dachte, dass sie noch nie ein solch furchtsames Geschöpf gesehen hatte.
»Anice«, begann sie und wünschte, ihre Unruhe würde sie nicht dazu bringen, die eine Frage zu stellen, die sie am brennendsten interessierte. »Bist du sicher, dass du mich in das Zimmer des Raben bringen sollst?«
Das Mädchen nickte. »Das war seine ausdrückliche Anweisung. Ich selbst habe das Zimmer hergerichtet, und Hector hat noch einen weiteren Korb mit Torf für das Kaminfeuer hinaufgebracht.«
Als Anice sie jedoch kurz darauf von der Turmtreppe bis zu der schweren Eichentür des Zimmers des Rabens führte, empfing sie dahinter nur noch mehr Kälte und Dunkelheit.
Das große und recht beeindruckende Schlafzimmer war alles andere als hergerichtet.
Auch von Körben mit Torfstücken war nichts zu sehen. Weder ein Stückchen Holz noch ein paar Zweige oder ein Bündel getrockneter Farne waren in der Kammer zu finden. Der Kamin war sauber ausgefegt, und nur ein wenig übrig gebliebene Asche erinnerte daran, dass hier überhaupt schon einmal ein Feuer gebrannt hatte.
Gelis spähte in die Düsternis und errötete bis unter die Haarwurzeln über diesen weiteren Affront. Die Fensterläden waren weit geöffnet und ließen kalte, feuchte Luft herein, während das fahle Licht des Mondes die furchtbare Unordnung des Raums beschien.
»Heilige Maria Mutter Gottes!« Anice stand wie erstarrt, eine Hand noch an der Türklinke, die andere an ihre Brust gepresst. »Das Zimmer war perfekter hergerichtet, das schwöre ich!«
Kopfschüttelnd starrte sie auf die am Boden verstreut liegenden Kleider und das zerknitterte und zerwühlte Bettzeug. »Wir hatten sogar einen Badezuber heraufgebracht«, sagte sie mit einem panischen Blick auf Gelis. »Speisen und Wein. Süßigkeiten ...«
»Mach dir nichts daraus«, unterbrach Gelis das Gejammer und betrat das Zimmer. »Irgendjemand ...«, und sie war überzeugt zu wissen, wer, »muss vergessen haben, die Fensterläden zu schließen, und der Wind hat dieses Durcheinander angerichtet.«
»Ach nein, das glaube ich nicht«, sagte Anice zweifelnd. »Der Wind ...«
»Es war nur der Wind«, wiederholte Gelis mit einem Blick auf den Regen, der schräg an den Fenstern vorbeitrieb. »Ein scharfer, kalter und im Moment sehr nasser Wind.«
Anice biss sich auf die Lippen und sah alles andere als überzeugt aus.
»Ich gebe zu, dass es ein ungewöhnlich starker Wind gewesen sein muss«, räumte Gelis ein. Ein böser Verdacht färbte ihre Wangen noch dunkler, als sie ein paar Schritte weiter in das Zimmer ging.
Ihre Brust verkrampfte sich vor Ärger, aber sie schwieg, weil sie nicht mehr sagen wollte, ohne sich ganz sicher zu sein.
Obwohl sie das im Grunde bereits war.
Der Wind war nicht nur ungewöhnlich stark gewesen, sondern er hatte auch etwas klar zutage treten lassen:
Ihre eigenen Truhen und Reisetaschen waren unberührt geblieben. Ihre sorgfältig ausgesuchten Brautsachen starrten sie von der anderen Seite des Zimmers an, wo auch all ihre anderen Schätze ordentlich aufgestapelt in einer Ecke standen.
Das Durcheinander war ein männliches.
Nicht nur die achtlos auf den Boden geworfenen Tuniken und Plaids, sondern vor allem ein dicker Geldbeutel und ein lederner Weinschlauch, die zwischen ihnen herumlagen, waren der eindeutige Beweis dafür. Ein feines schwarzes Reisecape, das auf dem Bärenfell lag, das den Boden bedeckte, beseitigte ihre letzten Zweifel. Ebenso wie die übrigen Dinge, die auf einem glitzernden Haufen neben der Tür lagen: eine Kettenrüstung und ein Schwertgehenk samt Schwert.
Der Rabe war beim Packen gewesen und dabei offensichtlich unterbrochen worden.
Vermutlich hatte er sie und Anice die Turmtreppe heraufkommen gehört.
Gelis war versucht, einen der derbsten Flüche ihres Vaters auszustoßen, nahm sich aber zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. »War es dieser Tisch dort am Fenster«, wandte sie sich an Anice, »auf dem du das Essen angerichtet hast?«
Das Mädchen nickte bedrückt.
»Aye, Mylady.« Ihr Blick ging zu dem schweren Eichentisch. »Es war ein wahres Festessen. Hammelbraten, Lachspastetchen, Eier in Aspik und sogar ein Teller mit frischgebackenen Honigkuchen. Ein ganzer Berg davon, und dick bestreut mit Ingwer.«
»Ein Festmahl, in der Tat«, gab Gelis ihr recht.
Denn dass Anice die Wahrheit sagte, stand ihr im Gesicht geschrieben.
Ratlos bahnte sich Gelis einen Weg durch die am Boden liegenden Kleider und ging zu dem leeren Tisch. Kein Krümel beeinträchtigte den Glanz seiner blitzsauberen, vom Alter dunkel gewordenen Oberfläche.
Es hing allerdings tatsächlich noch der Geruch von Hammelbraten in der Luft.
Schwach nur, aber unverkennbar.
Gelis schnupperte und nahm nun auch einen Anflug des zarten Dufts von Ingwer wahr.
»Könnte es sein«, wandte sie sich erneut an Anice, »dass die Burghunde das Essen gestohlen haben?«
Gelis hatte die großen, struppigen Tiere gesehen, die bei ihrer Ankunft die Burgtreppe hinuntergestürmt waren, um sie zu begrüßen. Ihr Vater hielt sehr ähnliche Hunde, und sie waren bekannt dafür, dass sie weit größere Mengen an Essen verputzten, als Anice ihr beschrieben hatte. Wahre Meister im Stehlen, konnten sie einen üppig gedeckten Tisch leerfressen und wieder verschwunden sein, bevor das wachsamste Auge etwas bemerkte.
Aber Anice schüttelte den Kopf.
»Die Hunde können es nicht gewesen sein«, sagte sie, als wäre sie sich dessen völlig sicher. »Sie gehen nie in dieses Zimmer. Keiner von ihnen. Sie haben Angst ...«
»Vor dem Herrn?«, warf Gelis ein und zog die Augenbraue hoch. »Niemand könnte ihnen das verdenken«, sagte sie scharf, da sie sich diesmal nicht beherrschen konnte. »Ich habe nie einen kaltherzigeren, gefühlloseren Mann gekannt.«
»Denkt nicht zu schlecht von ihm, Mylady.« Das Mädchen wagte sich ein paar Schritte weit in das Zimmer. »Er hat Euch keinen sehr freundlichen Empfang bereitet, das gebe ich zu, aber er hatte seine Gründe.«
»Zweifellos«, stimmte Gelis zu und fuhr mit einem Finger über den glatten Rand des Tischs. »Ein Mann, der schon zweimal verheiratet war, hat immer Gründe. Entweder um sich eine neue Frau zu suchen oder einer weiteren Ehe aus dem Weg zu gehen.«
Des Raben eigene Worte über seine vorherigen Ehen drängten sich ungebeten in ihr Bewusstsein. Genauso kurz und knapp, wie er sie gesagt hatte, klangen sie ihr jetzt wieder in den Ohren.
Und sie dachte daran, wie verschlossen seine Miene gewirkt hatte, als er die Worte ausgesprochen hatte.
Ist es so schwer zu glauben, dass ich keine dritte Ehe will?
Gelis straffte die Schultern, bevor der Gedanke an seine früheren Ehefrauen ihr die Stimmung noch mehr verdarben. Schon jetzt dachte sie immerzu an die glücklichen Abende, die er mit ihnen in seinem Schlafzimmer verbracht hatte. Intime Abendessen bei Kerzenlicht an ebendiesem Tisch, an dem sie stand. Endlose Stunden purer, hemmungsloser Sinnlichkeit unter dem Baldachin des breiten Bettes auf der anderen Seite des Zimmers.
Vielleicht auch das eine oder andere Schäferstündchen auf einem der drei weichen Bärenfelle, die den Boden schmückten.
Eine leidenschaftliche Balgerei vor dem Kaminfeuer, nackt und mit sinnlichen, heißen Küssen und lustvollen Seufzern.
Die Art von Fleischeslust und Sinnenfreude, die sie wahrscheinlich nie erfahren würde.
Jedenfalls nicht mit diesem Mann, der sie so offensichtlich verschmähte.
Aber sie würde diese Zurückweisung nicht einfach so hinnehmen, beschloss Gelis erbost, nachdem ihr bewusst geworden war, in welche Richtung ihre Gedanken gingen.
Sie war heraufgekommen, um den Raben zu verführen, aber nicht, um in einem kalten, unaufgeräumten Zimmer herumzustehen und von sinnloser Eifersucht auf zwei gesichtslose, längst in ihrem Grab ruhende Frauen gequält zu werden, die nur Gebete und Mitgefühl verdienten.
»Macht nicht so ein niedergeschlagenes Gesicht, Mylady.« Anice trat noch ein paar Schritte weiter in den Raum.
Sehr mutige Schritte für ein so furchtsames junges Mädchen.
Wie zum Beweis dafür verschränkte sie ihre Finger so fest ineinander, dass ihre Knöchel im Halbdunkel des Zimmers weiß schimmerten.
»Der Rabe ist in letzter Zeit nicht mehr er selbst«, sagte sie zu Gelis, ohne sie dabei anzusehen. Stattdessen schaute sie durch eines der hohen Bogenfenster hinaus in die regnerische Nacht. Ihr Blick verweilte noch ein paar Momente dort, bevor sie sich über die Schulter nach der Tür umsah.
»Seine Kälte hat nichts mit Euch zu tun«, erklärte sie. »Er hat ein gutes Herz, das kann ich Euch versichern. Wenn Ihr ihn erst einmal besser kennt, werdet Ihr sehen ...«
»Ich habe schon mehr gesehen, als du ahnst.« Gelis schnippte ein Stäubchen von ihrem Ärmel. »Die Wahrheit ist, dass ich genug gesehen habe, um ihn besser zu kennen, als er sich selber kennt.«
Anice machte große Augen und schien noch etwas sagen zu wollen, bevor sie jedoch dazu kam, fuhr ein scharfer Wind herein durch die offenen Fensterläden. Ein kalter Regenguss fiel prasselnd auf den Tisch und nässte Gelis Gesicht und Kleid.
»Die Läden müssen geschlossen werden«, sagte sie und beugte sich über den Tisch, um daranzukommen, doch kaum hatten ihre Finger sich um das kalte Eisen der Riegel geschlossen, verschwanden die Fensterläden wie durch Zauberhand.
»Aiii!« Erschrocken presste Gelis eine Hand an ihre Brust und sprang zurück, während das Rauschen des Windes zu einem schrillen Summen in ihren Ohren wurde und das hohe Fenster größer und größer wurde, bis Gelis ganz und gar von der Dunkelheit der Nacht umgeben war.
Von irgendwo aus der Ferne hörte sie einen gellenden Schrei und dann ein leises Stöhnen. Sie sank gegen den Tisch - oder irgendetwas anderes, das hart und fest war -, und das kalte Eisen des Fensterscharniers bewegte sich unter ihrer Hand und verwandelte sich in einen der nassen, von Napfschnecken verkrusteten Steine, wie sie am Strand von Eilean Creag lagen.
Mit wild klopfendem Herzen hielt Gelis ihn fest umklammert, als ihre Finger an dem nassen Seetang daran abzurutschen drohten. Das Summen in ihren Ohren wurde fast unerträglich, aber dann brach es plötzlich ab, und absolute Stille trat ein. Die Dunkelheit um sie herum begann sich zu bewegen, hellte sich langsam zu einem silbernen Schimmern auf.
Zu einem glänzenden, transparenten Vorhang, durch den Gelis Eilean Creags massive Burgmauern und das rückwärtige Tor sehen konnte, die glänzenden Gewässer des Loch Duich und ihre geliebten Gipfel von Kintail, die sich dahinter erhoben.
Und er war auch dort.
Hoch über dem See trugen ihn seine großen Schwingen durch die Luft, als er seine Kreise drehte und aus seinen scharfen schwarzen Augen zu ihr herunterblickte. Vor Aufregung verlor sie den Halt in dem glitschigen Felstümpel, fiel auf die Knie und sah nur noch, wie der Rabe aus der Luft verschwand, hörte sie, wie ihre eigenen Worte zu ihr zurückkamen.
Ich habe genug gesehen, um ihn zu kennen ...
Und dann sah sie ihn wirklich.
Aber diesmal war es der Mann, der aus den Nebelschleiern heraustrat, sein glänzendes schwarzes Haar zerzaust vom Wind, mit einem Schwert an der Seite und einem goldenen Reif um seinen Hals, dessen Glanz Gelis' Aufmerksamkeit gefangen nahm.
Ich habe genug gesehen ... Die Worte wollten ihr nicht mehr aus dem Kopf und hämmerten in ihren Ohren.
Über den Strand kam er auf sie zu und blieb dicht vor ihr stehen, ein leidenschaftlicher, heißblütiger Mann, dessen dunkle Augen sprühten.
Er beugte sich zu ihr herunter, packte sie am Arm und zog sie unsanft auf die Füße. »Ihr habt gesehen, was ich Euch sehen lassen wollte. Ihr wisst überhaupt nichts von mir.«
Gelis schwankte, und ihr drehte sich alles vor Augen. »Ich ...«
»Seid froh, dass es so ist!« Er zog sie jäh an seine Brust und küsste sie, heiß und fordernd - um den Kuss genauso schnell wieder zu beenden, sodass sein Griff um ihre Schultern das Einzige war, was sie noch aufrecht hielt.
Schwer atmend schaute er sie an, sein Blick durchdringender denn je. »Gebe Gott, dass du die Wahrheit nie erfährst.«
Damit verschwand er und Eilean Creags schmaler Strand und die Gewässer des Loch Duich mit ihm.
Nur der nasse, glitschige Fels blieb, an dem Gelis sich festklammerte, bis sich der Nebel verzog und auch die Steine mitnahm. Der von Seetang überzogene Fels war wieder der kalte Fensterriegel und der leere, regennasse Tisch vor Ronan MacRuaris Schlafzimmerfenster.
»Ooooh, mein Gott!« Anice' Stimme vertrieb die letzten Schimmer der Vision. »Ihr seid ja kreidebleich«, rief sie und ergriff beunruhigt Gelis' Arm. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Soll ich die Kräuterfrau holen? Der Rabe ...«
»Nicht nötig. Mir geht es gut.« Die Hand noch am Fensterriegel, richtete sich Gelis auf. »Es war nur ein anstrengender Tag. Zuerst die lange Reise und nun auch noch dieses Zimmer hier«, versuchte sie eine halbwegs glaubwürdige Erklärung zu suchen, die nicht ans Licht bringen würde, wie sehr sie Ronan brauchte.
Und er sie.
Überzeugter denn je, dass es so war, hielt Gelis die Fensterläden fest und schaute hinaus in die undurchdringlich schwarze Nacht mit den tief am Himmel dahinjagenden Wolken. Hinter den Burgmauern erhoben sich die schottischen Kiefern, die Glen Dare bewachten, in tiefster Finsternis, aber der scharfe Wind hatte sich gelegt, und es fiel nur noch ein dünner Nieselregen. Die Art von weichem, dunstigem Regen, den alle Highlander liebten. Dankbar für seine beruhigende Vertrautheit beugte sie sich weiter vor und atmete in großen Zügen die kühle Nachtluft ein.
Ihr Herz begann schneller zu klopfen, und die Kehle wurde ihr eng. Glen Dare war schön, sein Ruf, verwünscht und verflucht zu sein, war nichts weiter als eine falsche Vorstellung, die sie richtigstellen konnte.
Sie glaubte zu fühlen, dass Castle Dare selbst sie darum bat, und ließ den Blick darüberhin schweifen. Sie sah nicht die unwirtliche Düsternis der Festung, sondern stellte sich deren Herz und deren Seele vor, die nach ihr riefen ...
... und ihr den stolzen, wunderbaren Ort zeigten, der sie sein könnte.
Auf den Zinnen der gegenüberliegenden Mauer, die den Burghof umschloss, patrouillierten noch immer zahlreiche Wachen, deren hochgewachsene, schwer bewaffnete Gestalten immer dann zu erkennen waren, wenn sie an einer Wandfackel vorbeigingen.
Auch tief unten auf dem Burghof waren Wachen postiert worden. Einige wurden von den Nebelschwaden umhüllt, doch die meisten standen an dem von Fackeln erhellten Eingang zu dem tunnelähnlichen Torhaus. Andere wiederum schritten die Innenmauern ab und behielten auch die Ställe und Außengebäude im Auge.
Ein kaltes Frösteln lief Gelis plötzlich kalt über den Rücken. Ihre romantischen Betrachtungen waren vergessen, als ihr MacKenzie-Blut sich regte und sie dazu drängte, sich die Wehrgänge genauer anzusehen.
Überall standen Wachen, aber nicht nur die, die sie zuerst bemerkt hatte, sondern auch noch andere, die reglos in den Schatten verharrten und mit der Dunkelheit verschmolzen.
Sie runzelte die Stirn. Ihr Vater schickte nie so viele Männer auf Nachtwache, sofern die Burg nicht mit einer ernsthaften Belagerung zu rechnen hatte.
Gelis wollte gerade eine Bemerkung darüber machen, doch alle Gedanken an Belagerungen und nächtliche Patrouillen waren vergessen, als sie auf den Hof hinunterblickte.
»Na also!« Gelis verzog das Gesicht und beugte sich noch weiter aus dem Fenster. »Da haben wir ja die Wahrheit über den Wind und das verschwundene Essen!«
Anice sah sie an, als wären ihr Hörner gewachsen. »Die Wahrheit über den Wind?«
Nein, die Wahrheit über einen gewissen schwarzhaarigen, dunkeläugigen Teufel, der ein Festmahl aus dem Fenster wirft, hätte Gelis fast erwidert. Stattdessen aber griff sie nach dem Arm der jungen Frau und zog sie an ihre Seite.
»Da unten«, sagte Gelis und wartete, bis Anice in den Burghof hinunterblickte. »Sieh selbst.«
»Ach du meine Güte!« Anice trat erschrocken vom Fenster zurück. »Der Nebel muss ...«
»Der Nebel ist genauso unschuldig wie der Wind.« Gelis strich sich eine feuchte Locke aus der Stirn. »Ich bin die Letzte, die die Nase über Highlandmagie rümpft, aber von Nebeln oder Winden, die gute, unverdorbene Speisen aus dem Fenster werfen, habe ich noch nie etwas gehört.«
Nur jemand, der eine Hochzeitsnacht verderben wollte, würde so etwas tun.
Eine Hochzeitsnacht, der ein heidnisches Ritual vorangegangen war.
Gelis wurde plötzlich von dem fast nicht zu beherrschenden Drang erfasst, zu lachen. Aber würde sie erst einmal damit anfangen, könnte sie vermutlich nicht mehr aufhören, und sie wollte Anice nicht erschrecken. Deshalb strich sie sich nur eine weitere lose Haarsträhne aus der Stirn und tat so, als betrachtete sie die Schweinerei dort unten.
Denn anders konnte man es nicht nennen.
Wenn sie sich nicht irrte, lagen zwischen all dem Durcheinander auch die zersplitterten Dauben eines Badezubers.
Ganz zu schweigen von den Überresten eines kleinen, aber opulenten Festessens. Liebevoll zubereitete Köstlichkeiten, die in wildem Durcheinander auf dem feucht glitzernden Kopfsteinpflaster lagen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte Gelis in den dichten Nebel um den Turm. Ihre Bemühungen wurden belohnt, als sie zerbrochene Weinkaraffen und zwei juwelenbesetzte Weinkelche entdeckte.
Schätze, die so gründlich zerstört worden waren, dass sie nicht mehr zu reparieren waren.
Nach einem weiteren tiefen Atemzug schob Gelis das Kinn vor und vergaß die Kelche.
Denn auch ihre Verbindung mit dem Raben war ein Schatz.
Ein weit größerer Schatz als all diese Dinge dort unten.
Egal, wie oft er ihr Schlafzimmer verwüsten oder das Abendessen aus dem Fenster werfen mochte.
Davon würde sie sich nicht kleinkriegen lassen.
Und sie würde auch nicht von hier fortgehen.
Etwa um die gleiche Zeit lag Ronan in einer verborgenen Nische der dunkelsten Ecke der großen Halle auf einem dünnen Lager aus Heidekraut und Farnen. Der klumpige, feucht riechende Sack wirkte auf Ronan noch widerlicher, als er zu spüren glaubte, dass etwas Kleines, Vierfüßiges in der spärlichen Füllung seiner Lagerstatt herumkrabbelte.
Trotzdem hätte er es in seinem Versteck, vor neugierigen Blicken geschützten und fest in sein warmes Plaid gewickelt, ausreichend bequem gehabt, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Eine dringend benötigte, wenn auch nur kurze Atempause von seinen Sorgen.
Stattdessen aber lag er hellwach da und starrte mit finsterer Miene hinauf an die rußgeschwärzte Decke.
Nichts war so gelaufen, wie er es geplant hatte.
Torcaills unheilvolle Worte gingen ihm durch den Kopf und raubten ihm die Nachtruhe, während ein beharrliches Zwicken in seinem Magen ihn daran erinnerte, wie ungeheuer töricht es gewesen war, ein üppiges Brautmahl in sein Schlafzimmer bringen zu lassen.
Töricht, weil nichts Gutes dabei herauskommen würde, dass er nicht zu diesem intimen Mahl gegangen war. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, holte tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus. Ein Erklärungsversuch, warum er sich sowohl von dem Essen als auch vom Bett seiner reizenden Braut ferngehalten hatte, schien ihm ebenso unklug wie unangenehm zu sein.
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Eher würde er nackt durch einen Dornengebüsch laufen.
Er würde das und selbst Schlimmeres auf sich nehmen, könnte er sich dadurch die Lachsalven seines Großvaters ersparen. Denn trotz der späten Stunde schallte Valdars brüllendes Lachen noch immer vom anderen Ende des Saals zu ihm herüber.
Er hörte auch Duncan MacKenzies Stimme, die tief und freundlich klang, auch wenn die Worte fast nicht zu verstehen waren. Nicht, dass Ronan sie verstehen müsste, um zu erraten, dass jetzt, da die beiden alten Freunde offenbar allein zusammensaßen, die Feindseligkeit des Schwarzen Hirschen nachgelassen hatte.
Es gab nur wenige Männer, die Valdars ungezwungenem Charme widerstehen konnten.
Und noch weniger, die Lady Gelis widerstehen konnten.
Ronan verschränkte die Arme hinter dem Kopf und hielt den Blick auf einen Riss in der Decke gerichtet. Er musste schlafen. Er konnte und wollte nicht den Rest der Nacht hier liegen und an sie denken. Und so verbannte er jeden Gedanken aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf den kalten Wind, der an der schmalen Pfeilscharte in der Wand seines Verstecks vorbeiblies, und auf den Regen, der gegen das Gemäuer und auf das Kopfsteinpflaster des Burghofs prasselte.
Es waren Geräusche, die eine einlullende Wirkung hatten und ihn dem Schlaf allmählich näher brachten.
Müde drehte er sich auf die Seite, und ihm fielen die Augen zu, aber was ihn nun überkam, war mehr als gewöhnlicher Schlaf.
Etwas Seltsames geschah.
Mit dem Schlaf stahl sich eine ungewohnte Wärme in die muffige kleine Ecke, in der sich Ronan sein Lager bereitet hatte; es war eine Empfindung, die sich bei jedem Lachen seines Großvaters noch zu verstärken schien.
Wie die Wärme eines hellen Frühlingstags, wenn Ginster die Hügel mit einem goldenen Teppich bedeckte und die Highlandluft weicher und süßer als der feinste Wein war.
Tage, wie sie Glen Dare seit seiner frühesten Kindheit nicht mehr gesehen hatte und die am besten auch vergessen blieben.
Auch wenn er geschworen hätte, genau diese Wärme jetzt verspüren zu können.
Und den Duft der wilden schottischen Rosen riechen zu können, die in so üppiger Fülle am Gitterwerk der Laube seiner Mutter wuchsen und ihre ganz persönliche Herausforderung an Castle Dares Dämonen gewesen waren: ein winziger, aber gut gepflegter Garten an der fernen Burghofmauer.
Ein Zufluchtsort aus seiner Kindheit, der wie alles andere Helle und Schöne aus Castle Dare verschwunden war.
Von dem Garten, auf den seine Mutter einst so stolz gewesen war, waren nur dornige Wurzelstümpfe und ein Haufen moosbewachsener Steine geblieben.
Die Erinnerung - und dieses seltsame Gefühl von Wärme - weckten Ronan, und er drehte sich auf die andere Seite. Der Wind schien jetzt durch die Pfeilscharten direkt zu ihm hereinzuwehen, denn seine Kälte brannte ihm in den Augen.
Ronan biss die Zähne zusammen und starrte wieder ärgerlich zu dem Riss in der Decke über ihm. Und nahm sich vor, nichts anderes mehr zu tun, bis all dieser Hokuspokus seinen Kopf verlassen hatte.
Er hatte kein Recht, an Frühlingstage mit Vogelgezwitscher zu denken. Oder an eine kurze Zeit vor ein paar Jahren, als Heiterkeit und Lachen nichts Ungewöhnliches in Dares großem Saal gewesen waren.
Oder an den Schmerz seines Großvaters, wenn dessen Fröhlichkeit wieder zu Tränen wurde.
Solche Überlegungen nützten nichts.
Aber Ronan spürte die Wärme.
Und nahm bei jedem Atemzug den Duft von Rosen wahr.
Das Merkwürdigste jedoch war, dass der Riss in der Decke plötzlich verschwunden war und er sie stattdessen sah.
Es war nur ein Traum, das war ihm klar, aber trotzdem war sie da.
Seine temperamentvolle Braut, die an einem schmalen, kiesbedeckten Strand stand, hinter sich die Silhouette einer beeindruckenden Burg. Lady Gelis war schön und überaus begehrenswert mit ihrem flammend roten Haar, das in der Sonne glänzte, ihren üppigen Brüsten und den wohlgeformten Hüften, als sie dastand und ihn beobachtete.
Strahlend wie das funkelnde Wasser des Sees zu ihren Füßen winkte sie ihm zu und zog ihn mit ihrem verführerischen Reiz noch tiefer in den Schlaf. Irgendwo tief in seinem Innersten drehte und wand sich etwas, zersprang und befreite ihn von seiner gewohnten Vorsicht.
Sehnsucht, Verlangen und eine ihm unerklärliche Ungeduld erfassten ihn. Dann spannte sich sein Körper an, und plötzlich fand Ronan sich am selben Strand wie sie wieder, nur eine Handbreit von ihr entfernt.
Zuerst zögerte er verblüfft, aber dann packte er Gelis an den Armen und zog sie zu einem harten, ungestümen Kuss an sich. Zu einem leidenschaftlichen, heißen Kuss, bei dem sie leise seufzend ihre Lippen teilte, um seiner Zunge Einlass in die warme Höhlung ihres Mundes zu gewähren.
Die Art von Kuss, nach dem er sich verzehrt hatte, seit er sie so kühn die Stufen zu Dare hatte hinaufsteigen sehen, mit diesem sündhaft verführerischen Smaragd an einer goldenen Kette zwischen ihren Schenkeln.
Ein Teil von ihm fragte sich, ob ihre Gabe es ihr möglich machte, in seinen Schlaf einzudringen, sein schlafendes Ich aber kümmerte es nicht, warum sie da war und ihn so verlockte.
Nur, dass sie es tat.
Aufstöhnend zog er sie noch fester an seine Brust, verstärkte den Druck seiner Finger um ihre Arme und küsste sie noch heißer, noch eindringlicher und fordernder. Sein Herz hämmerte, und fast verlor er die Kontrolle über sich, als sie mit ihrer Zunge verführerisch über die seine glitt.
Hitze durchströmte ihn, der Duft ihres Rosenöls hüllte ihn ein und betörte ihn.
Er schob eine Hand unter die seidige Mähne ihres Haars und vergrub seine Finger in den glänzenden Locken. Weiche, große Locken, die sich merkwürdig vertraut anfühlten.
Ein bisschen rauer vielleicht und nicht ganz so weich, wie er gedacht hatte, aber auf jeden Fall wie ... Wolle?
Ronan riss die Augen auf.
Der Traum, die Illusion oder was auch immer es gewesen war, verflog. Ronan stockte der Atem vor Enttäuschung, und er richtete sich auf die Ellbogen auf, um mit einem bösen Blick auf das zerknüllte Plaid in seiner Hand zu starren.
Sein eigenes Plaid, mit dem er noch immer zugedeckt war, nur dass er es bis unters Kinn gezogen hatte. Es kitzelte ihn an der Nase, und aus jeder Falte stieg der verführerische Duft nach Rosen auf, der ihn daran erinnerte, wie oft sie sich an der erhöhten Tafel zu ihm vorgebeugt hatte.
Wie viele Male sie mit voller Absicht mit ihren Brüsten seinen Arm gestreift hatte und wie ihr Rosenduft ihm nahezu zum Verhängnis geworden war.
Seine Brauen zogen sich zusammen. »Herrgott noch mal!«, fluchte er, riss sich das Plaid vom Leib und schleuderte es in eine Ecke.
Als er sich dann auf die Seite drehen wollte und merkte, dass er es nicht konnte, machte er eine weitere Entdeckung.
Die wunderbare Wärme, die er sich eingebildet hatte, war gar keine Einbildung gewesen.
Er war in Wärme eingehüllt.
Aber nicht, weil seine viel zu verführerische Braut mit ihrem aufreizenden Schmuck seine Küsse im Traum so leidenschaftlich erwidert hatte. Und auch nicht wegen der heiteren Anmutung der gedämpften Unterhaltung, die am Ende der hohen Tafel geführt wurde, oder des gelegentlichen fröhlichen Lachens seines Großvaters.
Nein, ihm war warm, weil sein Lieblingshund Buckie auf seinen Beinen lag!
Als spürte das große, zottelige Tier Ronans Ärger, öffnete es ein Auge und warf ihm einen langen Blick zu, bevor er es wieder schloss und weiterschnarchte.
Ronan unterdrückte einen Fluch. Nicht nur der Hund wärmte ihn. In seinen Lenden kribbelte und brannte es, als würde er vom Teufel und dessen Lakaien mit glühenden Nadeln gepiesackt.
Vielleicht würde er dieses Gefühl tagelang nicht loswerden, so stark war es.
Und Buckie fortzuschicken war auch keine Option.
Der alte Hund lahmte auf den Hinterbeinen und verdiente seine Ruhe noch mehr als Ronan. Außerdem würde er ohnehin nicht gehen, mochte Ronan ihn noch so böse anfunkeln und schelten. Im Gegensatz zu den anderen Burghunden war Buckie völlig unempfänglich für die düsteren Stimmungen seines Herrn.
Weit entfernt davon, das Weite zu suchen, wann immer dieser Ausdruck auf Ronans Gesicht erschien, kam Buckie im Gegenteil zu ihm getrottet und leckte ihm die Hand.
Das tat er schon, seit Ronan ihn in Glen Dare gefunden hatte, an einen Baum gebunden, abgemagert, halb verhungert und übersät von Narben. Ronan hatte damals nicht geglaubt, dass der junge Hund die Nacht überleben würde.
Aber er war am Leben geblieben und prächtig gediehen, und bis heute konnte Ronan kaum einen Schritt tun, ohne Buckie auf den Fersen zu haben.
Und wie es schien, würde er heute Nacht keinen ungestörten Schlaf mehr finden.
Seufzend legte er sich wieder hin, um es zumindest zu versuchen.
Doch kaum hatte er die Augen geschlossen und war in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen, als ihn das Geräusch von schnellen Schritten wieder weckte.
Er spürte, dass Buckie sich regte und sich langsam erhob.
Wieder versuchte Ronan, nicht zu fluchen, als er die Augen öffnete und in die rauchenden, zischenden Flammen einer kleinen Binsenfackel blickte.
Ein paar Funken fielen auf seine Brust, und er wischte sie mit einer gereizten Handbewegung weg.
Jetzt wusste er, was Buckie aufgestört hatte.
Ronan blinzelte und hob eine Hand, um den Rauch vor seinen Augen wegzuwedeln, wobei er sich fragte, ob er vielleicht in den Feuern der Hölle aufgewacht sein mochte.
Bevor er jedoch eine Antwort auf die Frage fand, bewegte sich die Fackel, und er sah, dass Anice, die Dienstmagd, mit großen Augen auf ihn heruntersah. In ihrer Kehle arbeitete es, und ihr schmales kleines Gesicht war kreidebleich.
»Oh, Sir!«, rief sie aufgeregt. »Ihr müsst sofort kommen! Sie haben Euer Schlafzimmer verwüstet und ...«
»Was?« Ronan blinzelte erneut, noch zu verschlafen, um klar zu denken. »Wer sie?«
Das Mädchen schüttelte so heftig den Kopf, dass einer ihrer dünnen schwarzen Zöpfe aus den Nadeln rutschte. »Das will ich gar nicht wissen, glaube ich«, erwiderte sie so angsterfüllt, dass Ronan sofort klar war, von wem sie sprach.
Er sprang auf. »Lady Gelis?«, fragte er, während er sein Plaid ergriff. »Ist ihr etwas zugestoßen?«
»Nein, Sir, sie regt sich nur über all das gute Essen auf, das jemand aus dem Fenster geworfen hat.«
Im Eingang zu der Nische ließ Buckie sich auf seinen Hinterbeinen nieder und winselte.
Ronans Augen weiteten sich. »Das Essen, das ich bestellt hatte, ist aus dem Fenster geworfen worden?«
Anice, die ihn nicht ansehen konnte, blickte auf die kleine Fackel in ihrer Hand. »Aye, so ist es, Mylord. Und Mylady denkt, dass Ihr das wart.«
Ronans Magen verkrampfte sich, als eisige Furcht wie eine kalte Hand über seinen Rücken strich.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, fuhr er herum, stürzte aus der kleinen Nische und rannte durch die dunkle Halle zu der Treppe. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte er die Wendeltreppe zum Turm hinauf und hielt sich nicht einmal mit einem Fluchen auf, als er bei einem falschen Tritt mit den nackten Zehen gegen einen der harten Steine stieß.
Ein scharfer Schmerz durchfuhr sein Bein und trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er runzelte nicht mal die Stirn.
Dafür blieb später noch Zeit genug.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Bewahrer des Steins so schnell handeln würden.
Und ich hätte auch nie erwartet, dass Lady Gelis' Sicherheit mir so wichtig sein würde, dachte er, als er mit Buckie hinter sich die Stufen hinauflief.
Irgendwie und irgendwo in der kurzen Zeit, seit sie ihn zum ersten Mal angelächelt und er geträumt hatte, er küsste sie an einem Strand, war sie zu mehr für ihn geworden als nur ein Mädchen, das er vor Unheil bewahren wollte.
Sie war ihm wichtig geworden.
Und das war eine größere Gefahr als die Bewahrer des Steins mitsamt ihrer unheimlichen Nebelgeister.
Eine viel größere Gefahr.
Und zudem eine, von der er nicht wusste, ob er sie bezwingen konnte.
Er wusste nur, dass es ihm gelingen musste.