NEUNTES KAPITEL

 

Der Tag dämmerte mit einem gallenartigen, blau geäderten Gelb, wie ein verdorbener Käse. Der Jetstream hatte sich verlagert, und das Hoch war endlich in Bewegung gekommen. Jane und Alex fuhren mit Charlie über den Highway Nr. 40 zum Ort des Geschehens. Jane hatte keine Ahnung, warum Jerry ihr an diesem kritischen Tag ausgerechnet Alex als Jagdgefährten zugeteilt hatte. Vielleicht um ihr eine Lektion hinsichtlich der unvermeidlichen Auswirkungen einer arroganten guten Tat zu erteilen.

Eigentlich hatte sie erwartet, daß es zwischen ihr und ihrem Bruder zu einer gehässigen Machtprobe kommen würde, aber Alex war ungewöhnlich zahm. Er wirkte wirklich krank - vielleicht stand er aber auch nur unter Drogen. Das hätte Alex ähnlich gesehen, sich nach Oklahoma City zu stehlen und sich irgendein Teufelszeug zu besorgen.

Er tat jedoch, was sie ihm sagte. Er befolgte ihre Anweisungen, versuchte, die Kameras zu bedienen, verfolgte die Jagdberichte aus dem Camp, lud Karten herunter und machte sich Notizen. Vielleicht war er nicht gerade mit Begeisterung bei der Sache, aber er war aufmerksam und umsichtig, und er machte keine Fehler. Eigentlich war Alex kein schlechterer Fahrtbegleiter als jeder andere Trouper auch. Trotz alledem hatte er es tatsächlich geschafft. Ihr Bruder war ein richtiger Trouper geworden.

Das Seil hatte er dabei. Er schleppte es jetzt ständig mit sich herum und trug es wie einen abgerissenen Marionettenfaden über der mageren Schulter. Seine Spielzeug-Cowboyklamotten hatte er allerdings wieder weggepackt und trug jetzt einen einfachen Papieranzug, frisch von der Rolle. Und er hatte sich mit dem Schwamm gewaschen, rasiert und sich sogar gekämmt.

Diesmal hatte Alex auf die Atemmaske verzichtet. Fast wäre es ihr lieber gewesen, wenn er sie getragen hätte. Mit seiner bleichen Schnauze, den gestreiften Wangen, der wächsernen Haut und dem allzu ordentlichen Haar wirkte er wie der halbfertige Kunde eines Leichenbestatters.

Kilometerweit fuhren sie westlich von Oklahoma in tiefem Schweigen dahin, das nur von den Meldungen des Aerodromtrucks und des Radarbusses unterbrochen wurde.

»Wieso trägst du jetzt den Papieranzug, Alex?«

»Weiß nicht. Die anderen Klamotten haben mir einfach nicht mehr gepaßt.«

»Ich weiß, was du meinst.«

Erneutes Schweigen.

»Mach das Verdeck runter«, sagte Alex.

»Es ist ziemlich staubig draußen.«

»Mach's trotzdem runter.«

Jane machte es runter. Das Wageninnere füllte sich mit feinem, wirbelndem Staub. In Bodenhöhe wehte eine unangenehme, heiße Brise, eine Brise, die von Westen den Gestank von Asche und Mumifizierung mit sich führte.

Alex verrenkte sich den schmalen Hals und blickte zum Zenit empor. »Siehst du das Zeug dort oben, Janey?«

»Was denn?«

»Sieht so aus, als würde der Himmel auseinanderbrechen.«

Überall war ein niedriger, gelblicher Dunst, ein Dunstnebel wie der dünne Film auf einem Tierzahn, doch über dem Staub war es trocken und klarer. So klar, daß Jane irgendwo in der Stratosphäre eine kleine Zirruswolke bemerkte. Mehr als eine kleine Zirruswolke, wenn sie genau hinschaute. Eine höchst seltsame, spinnennetzartige Zirruswolke. Lange, dünne Filamente aus wattigem Nebel, die sich weit über den Himmel erstreckten, jedoch nicht in parallelen Wellen, wie man es von einer Zirruswolke hätte erwarten können, sondern kreuz und quer in seltsamen Winkeln angeordnet. Ein Gitternetz hoher, rasiermesserscharfer Eiswolken, wie ein in Sechsecke zerbrochener schmutziger Spiegel.

»Was ist das für ein Zeug, Janey?«

»Sieht aus wie eine Benard-Strömung«, antwortete Jane. Es war schon erstaunlich, um wie vieles besser schweres Wetter aussah, wenn man nur ein Schlagwort dafür hatte. Wenn man ein Schlagwort hatte, konnte man sich über das Wetter richtig unterhalten, und es war beinahe so, als könnte man etwas dagegen tun. »Diese Art Stratus bildet sich bei einer sehr langsamen, sanften allgemeinen Aufwärtsströmung. Wahrscheinlich ein Wärmeeffekt weit über dem Hoch.«

»Warum gibt es keine Wolkentürme?«

»Die Luftfeuchtigkeit ist zu niedrig.«

Auf der 283 North, unmittelbar östlich von Antelope Hills, begegneten sie einer Kaninchenhorde.

Obwohl sie im vergangenen Jahr streng schmeckende, scharfgewürzte Kaninchengerichte im Überfluß genossen hatte, hatte Jane den Kaninchen nie sonderlich große Beachtung geschenkt. In Westtexas waren Kaninchen ebenso allgegenwärtig wie der Staub. Kaninchen waren schnell wie der Wind und konnten mit Leichtigkeit über einen Wagen drüberspringen, aber ihrer Erfahrung nach rafften sie sich nie zu etwas derart Spektakulärem auf. Es gab nicht mehr viele Raubtiere, die Jagd auf Kaninchen machten. Daher fraßen die Kaninchen - eigentlich waren es Eselhasen, wenn man es ganz genau nahm -, vermehrten sich und starben an ihren zahllosen Parasiten und Krankheiten, genau wie die unbestrittenen Herren der Erde.

Eselhasen hatten ein grau-braun gesprenkeltes Fell, lächerlich lange, geäderte, an den Enden schwarze Ohren und die langen, grazilen Gliedmaßen eines Wüstentiers. Man sah sie häufig im Gebüsch umherhoppeln, und sie fraßen nahezu alles - Kakteen, Beifuß, Bierbüchsen, alte Reifen, vielleicht sogar verrosteten Stacheldrahtzaun. Eselhasen waren pittoreske Tiere mit dicken Hinterteilen, wenn auch ihre hervorquellenden gelben Nageraugen an Dummheit mit denen einer Eidechse wetteiferten. Bis jetzt hatte Jane noch keinen richtig aufgeregten Eselhasen gesehen.

Doch nun hoppelten hier Dutzende von Eselhasen wie ein Schwarm schlaksigen, schmutzfarbenen Ungeziefers über die Straße. Auf einmal waren es Hunderte. Dann Tausende, eine endlose, abgerissene, hoppelnde Ungezieferbrut. Charlie, vollständig verwirrt von einer Straße, die sich auf einmal in eine brodelnde, springende Flutwelle aus Fell verwandelt hatte, verlangsamte bis auf Schrittempo.

Die Hasen waren alles andere als pittoresk. Sie waren braun und ausgemergelt, sie zitterten und waren verzweifelt und unansehnlich, wie ausrangierte, schäbige Stofftiere, die man gewaltsam durch ein Astloch gedrückt hatte. Jane meinte sogar, die Eselhasen riechen zu können. Der heiße Geruch der Panik ging von ihnen aus, ein Gestank nach brennendem Dung.

Der Wagen fuhr an den Straßenrand und hielt an.

»Also, jetzt ist alles klar«, meinte Alex nachdenklich. »Selbst diese Viecher mit ihrem Hasenhirn haben mehr Verstand als wir. Wenn wir gescheit wären, würden wir auf der Stelle kehrtmachen und in die gleiche Richtung abhauen wie sie.«

»Ach Gott, Alex. Die ziehen doch bloß woanders hin. Das ist wegen der Dürre. Die armen Viecher haben Hunger.«

»Schon möglich, aber das ist nicht der Grund, warum sie weglaufen. Hast du in letzter Zeit hier irgendwelche Vögel gesehen? Rotschwänzige Falken? Truthahngeier? Scherenschwänze?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Jane, jedes wildlebende Tier, das von hier weg kann, haut so schnell wie möglich ab. Kapiert? Das ist kein Zufall.« Er hustete leicht und räusperte sich. »Ich hab mich ein bißchen erkundigt«, sagte er. »In dieser Gegend gibt es einige Orte mit einer Menge Unterschlupf. Richtig gute, solide Sturmbunker. Zum Beispiel in Woodward. Dieser Ort wurde vor zehn Jahren von einem F-4 plattgemacht, daher haben sie sich ein paar Diamantbohrer besorgt und riesige unterirdische Schutzräume angelegt. Großstadtbunker, mit ganzen Malls und auch einer Menge Privatunterkünften. Bis dahin sind es nur zwanzig Minuten.«

»Was du nicht sagst. Ist ja nett, daß du soviel Initiative zeigst.«

»Ich möchte ein Abkommen mit dir treffen«, sagte er. »Wenn es hier wirklich losgeht, dann möchte ich, daß du in einem Bunker bist.«

»Ich, Alex? Ich, nicht du?«

»Genau. Dadurch vergibst du dir nichts. Ich kann dir soviel

Daten beschaffen, wie du willst. Für dich würde ich den Kern von dem Ding anbohren, ich schwör's bei Gott. Das werd ich auch. Aber du mußt überleben, damit du hinterher alles zusammensetzen und auswerten kannst. Und auch, um es zu verkaufen. Hab ich recht? Wenn ich dabei draufgehe, ist das für niemanden ein großer Verlust. Aber, Janey, wenn du das nicht überlebst, dann war's das für deine Karriere.«

»Alex, es ist meine Karriere.«

»Wenn du nicht überlebst, hast du gar nichts. Das ist nur vernünftig, denk mal drüber nach.«

»Sehe ich etwa so aus, als hätte ich Angst? Glaubst du, ich wollte weglaufen und mich verstecken? Glaubst du, deine blöden Ideen gefielen mir?«

»Ich weiß, daß du richtig mutig bist, Janey. Das beeindruckt mich nicht. Ich habe auch keine Angst. Sehe ich etwa so aus, als hätte ich Angst?« Das tat er nicht. »Sehe ich vielleicht so aus, als war's mir nicht ernst?« Auch das war nicht der Fall. »Ich versuche bloß dir klarzumachen, daß es blödsinnig wäre, wenn wir beide umkämen. Beide Unger auf einmal? Was würde dann aus unserem Dad?«

»Ja, was wohl?«

»Na ja, mit unserem querido papa haben wir nicht gerade das große Los gezogen, aber er macht sich Sorgen! Ich meine, ein bißchen schon. Zumindest würde er seine Tochter nicht ins Verderben schicken, bloß um seine eigene Neugier zu befriedigen!« Alex redete immer schneller. »Ich glaube, Mulcahey macht sich schon was aus dir, wenn er dich bei seiner ganzen Mathematik überhaupt bemerkt, und eben deshalb hat Jerry uns zusammen eingeteilt, damit du's ein bißchen langsamer angehen läßt und keine Dummheiten machst. Stimmt's? Stimmt! Das sieht ihm ähnlich!«

Jane sah ihn sprachlos an.

»Dann macht sich Jerry also was aus dir, das gestehe ich ihm durchaus zu, aber er macht sich nicht genug aus dir! Es ist mir egal, womit er dich becirct und dazu gebracht hat, dieses Leben zu führen, aber wenn er dich so lieben würde, wie es sein sollte, dann hätte er dich nie im Leben hierhergeschickt! Das ist doch ein Selbstmordunternehmen! Du bist eine junge Frau, die eine Menge auf dem Kasten hat, und du solltest nicht als kaputte, zermatschte, blutige Puppe hier in dieser gottverfluchten Ödnis enden!« Er bekam einen Hustenanfall. »Sieh dir bloß mal diese Wolken an, Jane!« krächzte er. »So sollten Wolken einfach nicht aussehen! Wir werden hier draußen doch plattgewalzt, als wären wir auch bloß zwei von diesen Kaninchen.«

»Nimm's leicht! Du verlierst die Nerven.«

»Quatsch mir nicht die Ohren voll, guck lieber mal nach oben!«

Jane tat unwillkürlich wie geheißen. Der Staub hatte sich ausgedünnt, die Sonne stand jetzt höher, und die Zirruswolken wirkten absolut bizarr. Mittlerweile waren es Hunderte kleiner, wachsender Flecken. Geformt wie Frost auf einer Fensterscheibe, wie unregelmäßige, mutierende Schneeflocken. Die Wolken sahen aus wie eine Daunenfeder, nachdem man zehntausend Volt durch sie hindurchgejagt hatte.

Aber das war bei weitem noch nicht alles. Das verrückte dabei war, daß die kleinen Federwölkchen alle exakt die gleiche Form hatten. Gleichgroß waren sie nicht. Manche waren groß, andere winzig. Sie zeigten in verschiedene Richtungen. Allerdings nicht in sämtliche Richtungen - genau in sechs verschiedene Richtungen. Und teuflischerweise, unheimlicherweise waren die Wolken alle miteinander identisch. An einem Ende ein kleines Komma, ein geschwungenes Rückgrat mit einem Haken am Ende und Hunderte feiner, kleiner, elektrisierter Streifen, die beiderseits des Rückgrats entsprangen.

Das Ganze wirkte wie ein Kachelmuster. Wie Keramikfliesen. Der Himmel von Oklahoma war gekachelt wie ein Badezimmerboden.

»Die Benard-Strömung hat manchmal so eine Wirkung«, plapperte Jane drauflos. »Die Zellen haben sechs unterschiedliche Rotationsachsen, und diese Selbstähnlichkeit muß bedeuten, daß die Zellvektoren der Aufwärtsströmung alle… na ja…« Ihr fehlten die Worte. Auf einmal fehlten ihr die Worte, und zwar vollständig. Eine Art sprachlicher Software-Absturz. Worte - ja, selbst wissenschaftliche Worte… es gab Zeiten und unvorhergesehene Ereignisse, da die Wirklichkeit sich von den verbalen Symbolismen ablöste und ihre eigenen Wege ging. Und das war ein solcher Moment.

»Was ist das für ein großer See, der sich da in der Mitte bildet?« fragte Alex.

»Keine Ahnung. Richte die Kameras drauf.«

Alex setzte die Kamerabrille auf und richtete die Kameras auf der Lafette nach oben. »Wow.«

»Das muß der Jetstream sein«, sagte Jane. »Der kräftigere, polare Jetstream, der die ganze Zeit im Norden festgesessen hat. Jetzt bewegt er sich endlich.«

»Janey, ich weiß nicht viel über den Jetstream, bloß soviel, daß er nicht in einem solchen Winkel abknickt.«

»Also, wahrscheinlich ist das gar kein richtiger Knick; das sieht aus diesem Blickwinkel bloß so aus.«

»Ist es doch, verdammt noch mal. Janey, ich habe durch die Kameras eine erheblich bessere Sicht als du, und was immer das sein mag, es kommt genau auf uns zu. Es kommt geradewegs zu uns herunter, es wird den Boden berühren.«

»Toll! Zeichne weiter auf!«

»Ich glaube, wir sollten besser von hier verschwinden«, krächzte Alex.

»Kommt gar nicht in Frage! Das ist sie! Natürlich! Natürlich, danach hat Jerry die ganze Zeit gesucht - nach einer dauerhaften Energiequelle für den F-6, und der Jetstream bedeutet permanente Energie! Er umspannt die ganze Erdkugel und ist sieben Kilometer dick, hat eine Temperatur von dreißig Grad unter Null und macht zweihundert Stundenkilometer. Mein Gott, der Jetstream, wenn der Jetstream aus der Stratosphäre runterkommt, dann fügt sich alles zusammen!« Sie griff nach dem Kopfhörer.

»Janey, dieses Ding wird uns umbringen. Wir werden hier sterben.«

»Halt den Mund und zeichne auf.« Auf einmal raste ein bemerkenswert dummer Robottruck an ihnen vorbei, wobei er Dutzende von Eselhasen zermanschte und verstümmelte, die blutig und zappelnd liegenblieben. Die übrigen Hasen spritzten nach allen Seiten auseinander, wie Fliegen auf einem heißen Teller.

»Jane in Charlie!« rief Jane. »Wir haben hier einen gewaltigen Ausbruch! Die Koordinaten lauten…«

Mit erhobener Stimme las sie die Koordinaten ab.

Eine Sturzflut eiskalter Luft fiel vom Himmel. Die Stratosphäre lag in zehn Kilometern Höhe. Selbst mit zweihundert Stundenkilometern benötigte der Jetstream mehr als vier Minuten, um den Erdboden zu erreichen.

Zunächst barst der Himmel entlang eines langen, pelzartigen, gezackten Saumes entzwei. Dann, etwa neunzig Sekunden später, traf der mächtige, dicke Luftschwall auf eine warme Schicht in der oberen Atmosphäre. Gefrierende, eisweiße Wolkenfetzen wurden in alle Richtungen davongewirbelt. Die Wolken erreichten die Sonne, und im nächsten Moment wurde es auch schon dunkel.

Der Jetstream pflügte durch die auseinanderspritzenden Wolken wie ein Geschoß durch einen Apfel und traf auf eine zweite thermische Zwischenschicht. Es kam zu einer weiteren, unglaublich machtvollen Explosion. Am Boden war von Wind noch immer nichts zu spüren, doch dann erreichte das Geräusch der ersten Explosion den Erdboden, ein kataklystisches Donnergrollen, das sich weder veränderte noch aufhörte. Ein Kapokbaum am Straßenrand erzitterte heftig, ohne sichtbaren Grund, so heftig, daß er all seine Blätter verlor.

Von der zweiten Explosion schossen Wirbel in alle Himmelsrichtungen davon, regelrechte Wirbelstürme aus sich teilender, gefrierender, brodelnder Luft, Luftwirbel, die so groß wie Städte waren.

Jane warf einen letzten Blick durchs Zentrum des herabstürzenden Jetstreams empor. Er war klar, kalt, weit und tödlich. Sie sah durch ihn hindurch die Sterne.

Dann traf der Jetstream die Erdoberfläche, in etwa drei Kilometern Entfernung. Die gequälte Erde reagierte, und Dutzende riesige Kobras aus Staub und Dreck sprangen augenblicklich himmelwärts. Jane rammte sich den geräuschdämmenden Kopfhörer auf den Kopf, damit sie nicht taub wurde, doch das Geräusch des F-6 war weit machtvoller als das der Schleppe. Es war eine Schallwaffe, die sich in ihren Körper bohrte und sie inwendig zermanschte. Es war mehr als ein Geräusch, es war ein furchtbarer, unerträglicher, grauenvoller Schock.

Dann kämpfte sie mit dem Wagen und bemühte sich, Charlie zum Umkehren zu veranlassen. Nichts geschah; der Wagen rührte sich nicht vom Fleck, als stünde er unter Schock. Aus den emporschießenden Staubsäulen brachen Blitze hervor, Blitze, wie Jane noch keine gesehen hatte. Es waren Staubblitze, Steinblitze. Dick, gebogen und horizontal, und sie sahen aus wie fliegende, rotierende Hakenkreuze. Ein gewaltiger, gebogener Blitz flog unmittelbar über sie hinweg und zerbrach vor ihren Augen in riesige, leuchtende, funkensprühende Brocken.

Der Wagen bewegte sich endlich. Sie machte kehrt und raste davon. Das Tageslicht war verschwunden. Sie befanden sich in einer schwarzen Hölle, in Gehenna. Ein Hurrikan aus Staub nahm den ganzen Himmel ein. Sie waren lebendig begraben unter einem gewaltigen, sich ausbreitenden Plateau aus brüllendem, knisterndem Dreck. Die Luft bestand zur Hälfte aus Staub. Die rasende Erde hatte vergessen, was den Unterschied zwischen Luft und Staub ausmachte. Staub und Luft würden von nun an ein und dasselbe sein. Das schwarze Windgemisch hing über ihnen und umgab sie von allen Seiten.

Und am äußersten Rand - am weitentfernten, sich ausdehnenden Rand, wo vom Horizont noch ein schwaches, breiiges, fahles Licht ausging: dort fielen Zacken herunter. Zacken, wohin sie auch sahen. Dutzende von Zacken. Eine Korona von Zacken, ein Halo von Zacken. F-1, F-2, F-3. Geknickte Zacken. Dicke Zacken. Zacken, so gedrungen wie Fußbälle. Zacken, die wie giftspritzende Mambas umherschnellten. Zacken, die der F-6 mit einer einzigen Bewegung ausgestreut hatte, Zacken, die er heraufbeschworen und in einem Augenblick zur Erde geschleudert hatte, tanzende Teufel am Rande seines Vernichtungstanzes.

Charlie flog so schnell dahin wie noch nie. Sie fuhren über eine dunkle Straße, und die komplexen Räder des Verfolgungsfahrzeugs berührten den Boden kaum. Jane warf Alex einen Blick zu. Er schaute immer noch durch die Kamera. Er zeichnete immer noch auf - soviel er konnte. Er hatte die Kameras nach hinten gerichtet und blickte hinter den Wagen.

Dann riß sich Alex auf einmal das Okular vom Gesicht, beugte sich heftig vor und legte die Arme um den Kopf. Einen Moment lang fragte sich Jane, was er wohl gesehen haben mochte, und dann hob der Wagen auch schon ab. Charlie flog tatsächlich. Keine Illusion. Keine Simulation. Keine Halluzination. Eine simple Tatsache.

Sie flogen durch die Luft. Etwa zehn Meter über der Straße. Sie flogen in einem arktischen, polaren, stratosphärischen Windschwall dahin, der den Wagen einfach gepackt und wie einen Pappbecher vom Boden gepflückt hatte, und nun riß er sie mit sich wie eine überschallschnelle Strömung aus schwarzem Eis.

Als sie immer weiterflogen und alle möglichen Gegenstände sanft und deutlich sichtbar an ihnen vorübertrieben, überkam Jane ein bodenloses Grauen. Gegenstände? Ja, alle möglichen Gegenstände. Straßenschilder. Büsche. Große, gewundene Baumteile. Halbgerupfte Hühner. Eine Kuh. Die Kuh lebte noch, das war das Seltsamste dabei. Die Kuh lebte und war unverletzt, und sie flog an ihnen vorbei. Jane sah eine fliegende Kuh. Eine Holsteiner. Eine große, plumpe, gutgepflegte Milchkuh, mit einem smarten Halsband um den Hals. Es sah so aus, als versuchte die Kuh zu schwimmen. Die Kuh ruderte mit den großen, ungeschlachten Beinen durch die eiskalte Luft, und dann hörte sie einen Moment lang auf und machte ein verdutztes Gesicht.

Und dann stieß die Kuh gegen einen Baum, wurde zerschmettert und blieb tot hinter ihnen zurück.

Und dann stieß auch Charlie gegen einen Baum. Und der Airbag explodierte Jane ins Gesicht.

Als sie zu sich kam, fuhr Alex oder versuchte es zumindest. Um sie herum war es stockdunkel. Mächtige Blitzvorhänge flackerten über den Himmel, und der geräuschdämmende Kopfhörer saß erstaunlicherweise immer noch auf ihrem Kopf. Sie war auf dem Beifahrersitz zusammengesackt und klatschnaß.

Sie befanden sich in einer kleinen Stadt. Die Stadt flammte periodisch um sie herum auf, im Licht gewaltiger Blitze, die den Himmel zu zerreißen schienen. Wegen des Getöses war es unter dem Kopfhörer still. Es war eine Geisterstadt, die unter lautlosem Artilleriefeuer lag. Die Stadt wurde einfach zusammengeschossen. Wände wurden zerschmettert, Dächer eingedrückt. Doch es war nicht allein der Wind. Der Wind hatte Freunde mitgebracht. Gegenstände - Projektile, Schrapnelle -, welche die Stadt wahllos in Trümmer legten, die alles zerschmetterten, was sich ihnen in den Weg stellte und Widerstand leistete, die vernichteten, sprengten und zersplitterten. Die alles kaputtmachten. Alte Telefonmasten aus der Zeit vor der drahtlosen Kommunikation wurden säuberlich abgeknickt, hochgehoben und durch die Wände mehrstöckiger Gebäude gerammt. Mit seltsamer Leichtigkeit, als ob jemand große Tofubrocken mit einem Zahnstocher durchbohrte.

Alles mögliche flog durch die Luft, als hätte man eine Kleinstadt zu einem dichten Brei verrührt. Wäsche. Ampeln. Fahrräder. Hundehütten. Wellblech, das sich bog und wellte wie große, glänzende Blätter Papier. Haufenweise Äste, Berge von Blättern. Satellitenschüsseln, verzweigte Radio- und Telefonantennen. Der Wasserturm der Stadt war eingestürzt und geborsten wie ein großes, metallenes Ei. Dreck. Überall Dreck. Plötzliche Staubböen wie von einem Sandstrahlgebläse. Dreck, der die Haut durchbohrte wie Tinte aus einer Tätowiernadel. Dreck und Hagel, und Wasser, das voller Dreck war, und Wassertropfen, die so hart auftrafen wie Hagelkörner.

Alex liefen zwei schwarze Rinnsale übers Gesicht, und Jane wurde undeutlich bewußt, daß er Nasenbluten hatte. Sie ebenfalls. Die Nase tat ihr weh; beim Zusammenstoß hatte sie sich tatsächlich die Nase verletzt… Alex fuhr über die Hauptstraße, ziemlich langsam und unbeholfen und voll gespannter Aufmerksamkeit. Überall lagen Autos auf dem Dach, als hätte ein Riesenkind haufenweise Schildkröten umgedreht.

Ein ziemlich großes Backsteingebäude gab anmutig den Geist auf, als sie daran vorüberkamen, und ergoß sich wie ein Sack Dominosteine in Kaskaden auf die Straße. Die darin befindlichen Gegenstände flogen wie freigelassene Tauben himmelwärts, und die gekappten Stromleitungen sprühten Funken.

Außerhalb der Stadt wurden sie wieder schneller. Jane bekam schlimme Kopfschmerzen und wurde schlagartig wieder klar im Kopf. Sie schaltete unverzüglich das Funkgerät ein, schirmte das Mikro mit beiden Händen ab, drückte es sich an die Lippen und schrie hinein. Hören konnte sie sich nicht, und das mochte auch für die anderen Trouper gelten. Bloß um Zeugnis abzulegen. Um über alles Zeugnis abzulegen, solange es ging.

Sie gelangten in eine Art Wald. Charlie hüpfte über umgestürzte Bäume hinweg, welche die Straße blockierten, und daran, wie die Räder auf dem Straßenbelag knirschten, merkte Jane, daß dies dem Wagen gar nicht gut tat. Charlie war schwer beschädigt. Wie schwer, ließ sich ohne weiteres nicht sagen.

Die Bäume am Straßenrand peitschten hin und her, als wären sie die Seelen der Verdammten und versuchten sie verzweifelt zum Anhalten zu bewegen. Ein weiterer himmelumspannender Blitz erhellte das Zenit wie ein Lichtbogen und beleuchtete zufällig auch einen F-1, der neben ihnen knietief durch den Wald watete, keine fünfzig Meter entfernt. Der Zacken wühlte dort einfach, rotierte wie ein schwarzer Kegel aus feuchtem Gummi und machte systematisch Kleinholz aus den Bäumen. Sie sah ihn noch dreimal von drei weiteren Blitzen aufleuchten, dann schlängelte er sich davon.

Am anderen Ende des Waldes traf sie eine so starke Bö, daß sie beinahe davongeweht worden wären. Charlie sprang in die Luft wie ein Fisch am Haken und machte eine Art Satz, neigte sich zur Seite und stemmte sich heftig gegen den Wind, ein seltsames Manöver, das er aus irgendeiner Subroutine hervorgekramt hatte und das sie noch nie beobachtet hatte. Jane sprach auch das ins Mikrofon, um überhaupt irgend etwas zu sagen, dann schaute sie auf ihr beleuchtetes Trouper-Armband.

Es war der 16. Juni, nachmittags um halb drei.

Dann wurde Charlie seitlich von einer noch stärkeren Bö getroffen, er überschlug sich und sprang wieder hoch. Und überschlug sich abermals und sprang wieder hoch, überschlug sich noch einmal und vollführte einen dritten Purzelbaum, tanzte unter der Wucht des Sturms wie ein Aikido-Meister. Bis Charlie auf einmal sehr hart landete und mit dem Fahrgestell gegen einen Baumstamm prallte. Und dann hörten alle Manöver auf.

Jane war nicht ohnmächtig geworden. Die Airbags waren wieder explodiert, jedoch nicht mit der gleichen Wucht wie beim erstenmal. Am scharfen Ozongeruch und dem stetigen Summen merkte sie, daß der Supraleiter geborsten war.

Alex packte sie bei der Schulter - von oben, denn sie hingen seitlich in den Sitzen, und der Wagen lehnte am Baum - und rief ihr etwas zu, das sie nicht mitbekam. Er schüttelte sie und rief wieder etwas und schüttelte seinen schmalen, regennassen Kopf, und dann kletterte er auf den Wagen und verschwand in der Dunkelheit.

Jane nahm an, daß Alex zumindest eine vage Vorstellung davon hatte, was er da tat, aber sie fühlte sich zu schwach und müde und hatte keine Lust, das Fahrzeug zu verlassen. Jane hatte sich schon häufig vorgestellt, wie es wäre, in einem zerschmetterten Verfolgungsfahrzeug zu sterben, daher war ihr die Situation einigermaßen vertraut. Jedenfalls war es erheblich angenehmer, als bei einem heftigen Unwetter in den Wald zu laufen und nach einer anderen Todesursache Ausschau zu halten.

Sie redete weiter. Sie wischte sich frisches Blut von der Oberlippe und redete weiter. Niemand antwortete ihr, aber sie redete trotzdem. Als Charlies Supraleiter knisternd den letzten Rest Spannung versprühten, fielen sämtliche Instrumente aus. Das Funkgerät funktionierte allerdings noch. Es verfügte über eine eigene Batterie. Jane redete weiter.

Nach einer halben Stunde tauchte Alex wieder auf. Der Sturm ließ hin und wieder nach, jedesmal ein langer, gläserner Moment gespenstischer Ruhe inmitten des Tosens. Außerdem war es nicht mehr ganz so finster. Im Westen sah man einen grünlichen, fahlen Lichtstreifen - der F-6 wanderte nach Osten. Der F-6 zog an ihnen vorbei.

Und die Zivilisation war offenbar nicht so weit entfernt, wie es vom Sitz des umgekippten Wagens zunächst ausgesehen hatte, denn Alex hatte erstaunlicherweise einen Frotteemantel mit Kapuze dabei, ein Sechserpack Bier in biologisch abbaubaren Dosen und einen halben Laib Brot.

Sie versuchte mit Alex zu reden, schrie ihn durch das ständige Donnergrollen hindurch an, doch er schüttelte den Kopf und faßte sich ans Ohr. Er war völlig taub. Wahrscheinlich war er schon im ersten Moment taub geworden, als der F-6 zugeschlagen hatte. Vielleicht würde er für immer taub sein, dachte Jane bei sich. Schlimmer noch, er wirkte wie von Sinnen. Sein Gesicht war mit schwarzem Dreck verschmiert - nicht bloß Dreck auf der Haut, sondern eintätowierter Dreck; sein ganzes Gesicht war getüpfelt von Hochgeschwindigkeitsdreck.

Er bot ihr eine Dose Bier an. Sie hatte nicht den mindesten Appetit darauf - zumal es sich um billiges, bakteriell erzeugtes Oklahoma-Bier namens ›Okie Double-X‹ handelte -, aber vom Schock hatte sie eine trockene Kehle, daher trank sie ein paar Schluck. Dann wischte sie sich das blutige Gesicht mit dem Handtuch ab, was unerwartet weh tat.

Alex stahl sich abermals davon. Er machte in dem stockdunklen Baumdickicht Jagd auf irgend etwas. Wonach suchte er bloß? Nach einem Regenschirm? Nach Galoschen? Einer Kreditkarte, einem funktionierenden Faxgerät? Wonach?

Keine zwei Minuten später kam Leo Mulcahey und rettete sie.

 

Leo traf in einem betagten Spezialeinsatzfahrzeug der Texas Ranger ein, einem achträdrigen städtischen Brummi mit einem abblätternden Texas-Stern auf der schwarzen Keramikpanzerung. Was ein Fahrzeug der Texas Ranger außerhalb der texanischen Jurisdiktion verloren hatte, stellte Jane vor ein Rätsel, doch das Ding war schwierig zu steuern, und Leo saß auf einem kleinen Kommandosessel, blickte durch ein VR-Sichtgerät und trug einen Kopfhörer. Jane hockte weiter hinten zusammengesunken auf einem beengten kleinen Campinghocker und zitterte wie Espenlaub. Leo war vollständig aufs Fahren konzentriert.

Sie fuhren etwa zehn Kilometer weit, eine schwankende, furchtbare Fahrt mit einem halben Dutzend Unterbrechungen, als sie umgestürzten Bäumen entweder auswichen oder gewaltsam drüberfuhren. Dann steuerte Leo das Fahrzeug über eine feuchte Betonrampe in eine Tiefgarage. Hinter ihnen schloß sich ein Stahltor wie eine Luftschleuse, die Windgeräusche brachen unvermittelt ab, und flackernd schalteten sich Neonleuchten ein.

Sie befanden sich in einem Sturmbunker.

Ein Privatbunker, aber dennoch groß. Von der Garage gingen sie eine Treppe hinunter. Ein netter Ort, auf den ersten Blick ein richtiges unterirdisches Wohnhaus. Dicker Teppichboden, an den Wänden Ölgemälde, dazu Designerleuchten und irgendwo ein großer Supraleiter, der die Lampen mit Strom versorgte. Draußen war die Hölle los, aber sie hatten sich in einem großen, geldgefütterten Bunkergewölbe von Oklahoma in Sicherheit gebracht.

Leo betrat einen kleinen, gekachelten Raum mit einer Komposttoilette, öffnete einen Wandschrank und reichte ihr ein kanariengelbes Handtuch. Dann zog er sich Schaumstoffstöpsel aus den Ohren und fuhr sich durchs wirre Haar. »Nun, Juanita«, meinte er und lächelte sie an. »Endlich sind wir uns begegnet!«

Jane rieb sich Haar und Gesicht trocken. Schmutzig. Und sie hatte immer noch leichtes Nasenbluten. Es war wirklich eine Schande, ein so hübsches, dickes Handtuch blutig zu machen. »Wie hast du mich da draußen eigentlich gefunden?«

»Ich habe deinen Notruf aufgefangen! Erst habe ich mich nicht getraut, den Bunker zu verlassen, aber dann ließ der Wind etwas nach, und du warst ganz in der Nähe, und… na ja« - Leo lächelte -, »da sind wir nun, beide wohlbehalten und unversehrt, also hat sich das Risiko wohl gelohnt.«

»Mein Bruder ist noch da draußen.«

»Ja« - Leo nickte -, »das habe ich auch gehört. Schade, daß dein Bruder - Alex, nicht wahr? - nicht beim Fahrzeug geblieben ist. Wenn der Wind weiter nachläßt, suchen wir nach deinem kleinen Bruder. Was meinst du?«

»Warum retten wir ihn nicht jetzt gleich?«

»Jane, ich bin kein Meteorologe, aber ich kann die SESAME-Meldungen lesen. Da draußen ist die Hölle los. Es tut mir wirklich leid, aber solange es draußen von Tornados nur so wimmelt, durchkämme ich keinen Wald wegen irgendeines vermißten Jungen. Wir beide hatten wirklich Glück, daß wir es lebend bis hierher geschafft haben.«

»Dann fahre ich eben allein, ich kann das Ding steuern.«

»Jane, mach keinen Ärger. Das Fahrzeug gehört mir nicht.«

»Wem gehört es dann?«

»Es gehört der Gruppe. Ich bin hier nämlich nicht allein, weißt du. Ich habe Freunde! Freunde, die sehr dagegen sind, daß ich den Bunker überhaupt verlasse. Würdest du das bitte zur Kenntnis nehmen? Betrachte es mal aus meiner Perspektive.«

Jane verstummte. Doch lange zurückhalten konnte sie sich nicht: »Mein Bruder befindet sich in Lebensgefahr!«

»Mein Bruder auch«, sagte Leo ernst. »Weißt du, wie viele Menschen in diesem Grauen bereits umgekommen sind? Fünf Städte wurden bereits plattgemacht, und der F-6 wandert geradewegs auf Oklahoma City zu! Zehntausende werden sterben, nicht bloß eine Person, die du zufälligst kennst! Das ist eine Katastrophe, und ich habe nicht vor, blindlings ins Verderben zu rennen! Reiß dich endlich zusammen!« Er öffnete einen hohen Schrank. »Da hast du einen Bademantel. Zieh das nasse Papier aus, Jane, und versuch zur Besinnung zu kommen. Du befindest dich in einem Sturmbunker, und dort sollten sich vernünftige Leute während eines Sturm aufhalten. Wir bleiben jetzt hier! Wir fahren nicht wieder los!«

Er schloß hinter sich die Tür und ließ sie im Bad allein. Auf einmal begann sie heftig zu zittern. Sie schaute in den Spiegel. Vom Anblick ihres Gesichts bekam sie eine Gänsehaut. Sie sah furchtbar aus: eine Wahnsinnige, ein blutverschmierter Drachen.

Sie probierte den Wasserhahn; ein dünnes Rinnsal übelriechenden Wassers kam heraus. Stark gechlort. Wenn man zu den Reichen von Oklahoma gehörte, konnte man ein Loch in die Erde buddeln und ein Haus hineinsetzen, aber dann hatte man immer noch kein ordentliches Wasser. Sie tat den Stöpsel in den Abfluß und wusch sich rasch das Gesicht. Dann schöpfte sie sich eine Handvoll Wasser übers Haar. Etwa ein Kilo rostfarbenen Oklahoma-Staubs tröpfelte aus ihrem Haar ins Waschbecken. Auch der Papieranzug war mit feuchtem Dreck verschmiert.

Sie stieg aus dem Anzug, legte ihn ins Waschbecken, ließ etwas Wasser darüberlaufen und wusch sich Hände und Unterarme. Dann holte sie den Papieranzug wieder heraus und trocknete ihn ab. Der Anzug war wieder leidlich sauber und im Nu trocken. Gutes, altes Papier. Sie zog ihn wieder an und schloß den Reißverschluß.

Dann öffnete sie die Tür. In der Ferne eines gewundenen Korridors vernahm sie Stimmen. Jane stapfte in ihren Geländestiefeln den Korridor entlang. »Leo?«

»Ja?« Er reichte ihr eine Tasse mit etwas Heißem. Milchkaffee. Er schmeckte ausgezeichnet. Und tat richtig gut.

»Leo, was in aller Welt machst du eigentlich hier?«

»Ich bin natürlich nicht zufällig hier.«

»Das hab ich mir schon gedacht.«

»Auch am schwärzesten Horizont gibt es einen Silberstreif«, meinte Leo lächelnd. Er geleitete sie in einen Wohnraum mit gewölbter, bombensicherer Decke. In einer Vertiefung gab es eine Sitzecke mit niedrigen, schwungvoll geformten Ledersofas. Die Wände waren aus stuckverzierter Keramik, und das Dach war eine dicke, einsturzsichere, gleichfalls stuckverzierte Keramikkuppel, unter der man sich wie in einem Roch-Ei vorkam. An einer Kette hing von der Mitte der Kuppel ein Kronleuchter aus Messing herunter. Der Leuchter pendelte sachte hin und her.

Es gab ein Mediencenter mit zwei Fernsehgeräten, die ohne Ton liefen, eine alte Hausbar aus Rosenholz und mehrere Sitzkissen aus Messing mit braun-weiß geschecktem Rindslederbezug. Zwei Skulpturen von Remington standen im Raum, die schnurrbärtige Viehtreiber beim Zureiten darstellten, und an der Wand waren zwei furchterregende Flinten mit achteckigen Läufen aufgehängt.

Und es befanden sich acht Leute im Bunker, Leo mitgerechnet. Zwei Frauen, sechs Männer. Zwei der Männer spielten an der gegenüberliegenden Seite der Sitzmulde mit mexikanischen Figuren Schach. Ein dritter hantierte behutsam an einem kreischenden Breitbandscanner, der an ein Antennenkabel angeschlossen war. Die übrigen vier spielten auf einem Couchtisch irgendein verwirrendes Kartenspiel, Binokel oder Poker vielleicht, und bedienten sich von einem Lacktablett mit in der Mikrowelle zubereiteten Appetithappen.

»Also, das ist sie«, verkündete Leo. »Darf ich vorstellen, Jane Unger.«

Die Anwesenden sahen mit verhaltener Neugier auf. Niemand sagte etwas. Jane nippte am warmen Kaffee und hielt die Tasse dabei mit beiden Händen fest.

»Entschuldige, daß ich keine Namen nenne«, sagte Leo.

»Weißt du, was eine wirklich gute Idee wäre, Leo?« meinte einer der Schachspieler in freundlichem Ton, über seine randlose Brille hinwegblickend. »Es wäre eine wirklich gute Idee, Ms. Unger wieder vor die Tür zu setzen.«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte Leo. Er wandte sich den stummen Fernsehern zu. »Ach, sieh dir bloß mal dieses Chaos an«, meinte er. Seine Stimme war so tonlos, daß es Jane völlig überraschte. Sie stellte die Kaffeetasse ab. Leo schaute sie an. Sie nahm die Tasse wieder hoch.

»El Reno ist so ziemlich platt«, bemerkte der andere Schachspieler vergnügt. »Verdammt gute Ausbeute.«

»Wurde der Sendemast bei Woodward plattgemacht?« fragte Leo.

»Yeah. Kam vor drei Minuten runter. Gute Arbeit, Leo. Wirklich gute Arbeit. Professionell.«

»Das ist prima«, sagte Leo. »Ausgezeichnet. So, Jane. Was hättest du gern? Ein paar Frühlingsrollen mit heißem Senf? Du magst doch thailändisches Essen, oder? Wir müßten eigentlich noch was im Kühlschrank haben.« Er faßte sie beim Ellbogen und geleitete sie zur Kochnische.

Jane machte sich los. »Was, zum Teufel, treibt ihr hier eigentlich?«

Leo lächelte. »Kurze Erklärung oder lange Erklärung?«

»Kurz. Und mach schnell.«

»Also«, meinte Leo, »kurz gesagt, interessieren meine Freunde und ich uns für tote Winkel. Das hier ist ein großer toter Winkel, und deshalb sind wir hier. Wir haben mit voller Absicht hier Stellung bezogen, genau wie du und deine Truppe. Weil wir nämlich wußten, daß dies das Epizentrum der Verwüstungen durch den F-6 sein würde.«

»Leo, das muß man deinem Bruder lassen!« rief der zweite Schachspieler. »Ich persönlich hatte die größten Zweifel, was den sogenannten F-6-Tornado anging, ich dachte, das wäre zu weit hergeholt, ein Schuß in den Ofen, aber Leo, ich muß zugeben, ich habe mich geirrt.« Er richtete sich vom Schachbrett auf und hob einen Finger. »Dein Bruder hat wirklich Wort gehalten. Ich meine, guck dir bloß mal die Ausbeute an!« Er deutete zum Fernseher. »Diese Katastrophe ist Spitze!«

»Danke«, sagte Leo. »Weißt du, Jane, es gibt viele Orte in Amerika, an denen Menschen nicht mehr leben können, aber für die Kommunikationstechnologien gilt das nicht. Die Geräte sind praktisch überall. In den USA - sogar in Alaska! - gibt es keinen Quadratmeter Boden mehr, der nicht im Erfassungsbereich eines Satelliten oder innerhalb eines Navigationsdreiecks läge, der nicht über Handy, über Netzrelais oder kabelloses Kabelfernsehen erreichbar wäre… ›Kabelloses Kabelfernsehen‹, das ist ein häßliches kleines Oxymoron, hab ich recht?« Leo schüttelte den Kopf. »Eine Gesellschaft muß schon ganz schön auf den Hund gekommen sein, um so einen Begriff zu prägen…«

Einen Moment lang schien er den Faden zu verlieren, dann faßte er sich wieder. »Bloß hier und jetzt nicht, Jane! Für einen leuchtenden Moment gilt das nicht für diesen einen Ort! Weil wir uns nämlich innerhalb des F-6 befinden! Am Ort der intensivsten, gründlichsten, weiträumigsten Zerstörung von nationaler Kommunikations-Infrastruktur, die es je gegeben hat. Vollständiger als bei einem Hurrikan. Gründlicher als bei einem Erdbeben. Weitaus effektiver als Brandstiftung und Sabotage, denn Brandstiftung und Sabotage wären in diesem großen Maßstab viel zu riskant und aufwendig. Und dennoch sitzen wir hier, verstehst du? Inmitten der Stille! Und niemand kann uns belauschen! Niemand kann uns überwachen! Kein Mensch.«

»Deshalb habt ihr mich im Wagen also gehört? Meinen Notruf? Weil ihr den Funkverkehr so intensiv abhört?«

»Genau. Wir hören das ganze Spektrum ab. In der Hoffnung auf die vollkommene Stille. Zum Glück verfügen wir über die erforderlichen Mittel, dem Projekt ein wenig nachzuhelfen - um ein paar essentielle Relais, besonders widerstandsfähige Sendemasten und so plattzumachen. Denn, bei Gott, die verfluchten Reparaturteams werden früh genug wieder an Ort und Stelle sein! Mit ihren Notfalltelefonanlagen und den provisorischen Funkrelais, und dann sind da noch diese beknackten Amateure, die ihre Dienstleistungen in Privatschuppen und selbst Badezimmerschränken betreiben, Gott sei uns gnädig! Aber für diesen kurzen Moment herrscht leuchtende, vollkommene Stille, und alles ist möglich! Alles ist möglich! Selbst Freiheit.«

Irgend jemand applaudierte lustlos.

Jane nahm einen Schluck Kaffee. »Warum braucht ihr soviel Stille?«

»Weißt du, was ›elektronische Haftverschonung‹ bedeutet?«

»Klar. Wenn beispielsweise Gefangene von der Regierung ein Armband verpaßt bekommen. Mit eingebautem Ortungsrelais. Wie bei meinem Trouper-Armband.« Sie hielt den Arm hoch.

»Genau. Wir haben hier alle ganz ähnliche Geräte.«

Jane war verblüfft. »Ihr seid auf Bewährung?«

»Nicht in der üblichen Bedeutung des Wortes. Es ist etwas Besonderes, Komplizierteres. Treffender wäre es, zu sagen, daß wir alle gebunden sind. Wir haben uns mit unserem Wort gebunden. Wir sind auch eine Art Truppe. Eine Truppe von Leuten in Knechtschaft.«

»Entschuldigung«, sagte der Mann am Breitbandscanner. Er war groß, stämmig, in mittleren Jahren und hatte einen kurzen Bürstenschnitt. »Dürfte ich das Gerät bitte mal sehen?«

»Mein Trouper-Armband?«

»Ja. Ma'am.«

Jane schnallte es ab und reichte es ihm.

»Danke.« Der Mann erhob sich, untersuchte Janes Armband sorgfältig, dann ging er in die Küche. Er legte das Armband neben die Spüle, öffnete eine Schublade, holte rasch einen Fleischklopfer heraus und schlug damit wiederholt auf Janes Armband ein.

»Was machen Sie denn da?« rief Jane.

»Die Welt ist groß«, sagte Leo zwischen den präzisen Hammerschlägen seines Freundes. »Die Welt ist alt, ein trauriger und böser Ort… Wir befinden uns in diesem Raum, wir sind unbestreitbar von dieser Welt, Jane. Wir sind ein ausgesprochen weltlicher Haufen!« Der Funker ließ Wasser über Janes kaputtes Armband laufen.

»Wir haben zu unserer Zeit mitgeholfen, die Bestimmung der Welt zu erfüllen«, sagte Leo. »Aber diese Art Macht erlangt man nicht ohne Verantwortung. Macht geht stets mit Verpflichtung einher, man muß dafür bezahlen. Die Menschen, die uns diese Armbänder anlegen - man könnte allerdings einwenden, daß wir sie uns einander eigentlich eher freiwillig anlegen -, diese Armbänder sind Ehrenabzeichen. Wir hielten sie für Auszeichnungen. Für narrensicher, für eine Art moralischer Rückversicherung. Für Talismane der Sicherheit! Aber im Laufe der Jahre… Es hört niemals auf, Jane, die Zeit schreitet fort, die Konsequenzen summieren sich.« Er hob den Arm und blickte auf seine Uhr. Sie sah aus wie jede andere Uhr. Leos Uhr hatte nichts Besonderes. Die gewöhnliche Uhr eines Geschäftsmannes mit Metallarmband. Abgesehen davon, daß die Haut unter der Uhr sehr weiß war.

»Wir sind hierhergekommen, um aufzuhören, das zu sein, was wir waren«, sagte Leo. »Man kann sich dem Spiel und dem Code der Stille nicht entziehen. Daher haben wir jetzt eine Stille entdeckt, die gleichbedeutend ist mit einem elektronischen, virtuellen Tod. Wir sind dabei, unsere Fesseln abzustreifen. Wir werden in der Welt der Netzwerke sterben und werden andere Menschen werden. Wir werden uns ihnen ein für allemal entziehen und aus ihnen verschwinden.«

»Wie die Evakuierungsfreaks?«

Einer der Pokerspieler lachte schallend heraus. »He! Das war gut! Das ist Spitze. Evakuierungsfreaks. Meinst du etwa diese verrückten Poseure ohne ID, die sich in den Lagern rumtreiben? Das trifft haargenau ins Schwarze.«

»Leo, was habt ihr Furchtbares getan? Warum müßt ihr etwas dermaßen Verrücktes und Abgehobenes tun?« Sie sah ihm in die Augen. Seine Augen waren nicht grausam. Sie waren wie Jerrys Augen. Sie blickten nur sehr gequält. »Leo, warum kommst du nicht zu uns ins Truppen-Camp? Wir haben unsere Leute, wir kennen Mittel und Wege, um jemanden aus Schwierigkeiten rauszuholen. Ich kann mit Jerry drüber reden, vielleicht kriegen wir das schon irgendwie hin.«

»Das ist sehr lieb von dir, Jane. Das ist wirklich nett von dir. Ich bedaure, daß wir uns nicht näher kennengelernt haben.« Er wandte sich mit erhobener Stimme an die anderen. »Habt ihr das gehört? Was sie mir eben angeboten hat? Ich habe mich doch richtig verhalten.« Er blickte ihr ins Gesicht. »Aber was soll's. Nach dieser Begegnung wirst du mich sowieso nie wiedersehen.«

»Wieso das?«

Er deutete zur Decke - zum Unwetter hoch, das über dem Bunkergewölbe tobte. »Weil wir uns jetzt tief unterhalb der Katastrophe befinden. Wir sind bloß noch leere Namen in der langen Liste der vom F-6 Getöteten und Vermißten. Die du hier siehst - wir sind alle im F-6 umgekommen. Wir sind verschwunden, ausgelöscht. Du wirst mich nie wiedersehen; auch Jerry wird mich nie wiedersehen. Wir kappen alle Verbindungen, löschen unsere Identitäten aus, und Jane, damit kennen wir uns aus, darin sind wir gut. Und so muß es auch sein. Was ich geworden bin, läßt sich nicht mehr ungeschehen machen, es sei denn, ich würde aufhören zu sein, was ich bin. Für immer.«

»Was in aller Welt hast du gemacht?«

»Das läßt sich unmöglich sagen, wirklich«, bemerkte eine der Frauen. »Das macht ja gerade die Schönheit des Plans aus.«

»Vielleicht verstehst du es so am besten«, sagte Leo. »Als deine Freundin und Kollegin April Logan die Trouper fragte, wann die Menschheit die Kontrolle über ihr Schicksal verloren habe…«

»Leo, das weißt du? Du warst doch gar nicht da.«

»Oh«, machte Leo überrascht. Er lächelte. »Ich bin in die Truppensysteme eingedrungen. Ich war von Anfang an drin. Niemand hat was gemerkt, aber - na ja, ich bin drin. Tut mir leid.«

»Oh.«

»Mein Bruder ist Akademiker, und Akademiker machen sich nicht viel aus Datenschutz.«

»Das will ich meinen«, warf einer der Bunkerleute ein, der zum erstenmal das Wort ergriff. Er war groß und dunkel und trug einen pechschwarzen Maßanzug, und Jane fiel jetzt erst auf, wie jung er war. Noch keine zwanzig. Vielleicht gerade erst siebzehn. Wie kam dieser Junge…? Und dann sah sie ihn an. Er war sehr jung, aber seine Augen war völlig leblos. Er hatte den unheimlichen Blick eines professionellen Giftmörders.

»Weißt du«, sagte Leo, »die Menschheit hat immer noch eine Menge Einfluß auf ihr Schicksal. Die Lage ist bei weitem nicht so hoffnungslos chaotisch, wie manche Leute meinen. Die Regierungen sind machtlos, und unser Leben verläuft sehr anarchisch, aber das bedeutet bloß, daß die Aufgaben auf Vigilanten abgewälzt werden. Es gibt gewisse Dinge, gewisse Aktivitäten, die offenbar getan werden müssen. Außerdem gibt es Leute, die die Notwendigkeit, sie zu tun, einsehen und die sogar bereit dazu sind. Die einzige Herausforderung besteht dabei darin, daß diese notwendigen Dinge unglaublich schrecklich und widerwärtig sind.«

»Leo«, sagte der erste Schachspieler mit mühsam unterdrückter Wut, »warum, zum Teufel, läßt du vor dieser Frau die Hosen runter?«

Eine der Frauen ergriff das Wort. »Na los, Leo, sag's ihr schon. Mir macht das Spaß. Es kommt nicht mehr drauf an. Wir sind jetzt frei. Wir befinden uns innerhalb der großen Stille. Wir können offen reden.«

»Das sieht dir ähnlich, Rosina«, meinte der Schachspieler angewidert. »Mich kotzt dieser Mist an! Es kotzt mich an, mitansehen zu müssen, wie jemand alle Vorsicht in den Wind schießen läßt und wie ein halbwüchsiger Einbrecher, der sich in irgendeiner Bar hat vollaufen lassen, sein Innerstes nach außen kehrt. Wir sind Profis, Herrgott noch mal, und das ist bloß irgend so eine Proletin. Hast du denn gar keinen Stolz?«

»Das ist nicht irgend jemand«, widersprach Leo. »Sie gehört zur Familie. Das ist meine Schwägerin.«

»Nein, bin ich nicht«, sagte Jane. »Ich bin nicht mit ihm verheiratet, Leo.«

»Nebensächlichkeiten.« Leo zuckte verärgert die Achseln. »Jerry wird dich heiraten. Ich nehme an, das ist dir noch nicht klar, aber er wird es mit Sicherheit tun. Er wird dich niemals gehen lassen, weil er jetzt schon zuviel von dir in sich aufgenommen hat. Aber das ist gut, das ist gut, mir gefällt diese Vorstellung; du würdest Jerry doch niemals weh tun, oder? Nein, das sehe ich. Natürlich nicht. Das ist gut; wirklich gut.«

»Du bist ein Idiot«, sagte der Schachspieler.

»Jetzt hör mal«, fauchte Leo ihn an, »wenn ich weiter beim Großen Spiel mitmachen wollte, meinst du, ich wäre dann so weit gegangen? Kennst du sonst noch jemanden, der dir dein verdammtes Armband abnehmen könnte? Dann halt die Klappe und hör zu. Das ist das letzte Mal, daß du je von mir hören wirst.«

»Wie du willst«, unterbrach ihn der Schachspieler mit ruhigem, feindseligem Blick. »Jane Unger, hören Sie mir zu. Wie ich sehe, sind Sie eine sehr aufmerksame Person. Hören Sie auf, mich so aufmerksam anzuschauen. Das kann ich nicht haben. Es ist langweilig und plump, Menschen zu drohen, aber ich drohe Ihnen, also hören Sie zu.« Er nahm seine manikürten Hände vom Schachbrett und legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich kann innerhalb von drei Sekunden etwas anstellen, wonach Sie achtzehn Monate lang eine klinische Schizophrene sind. Sie werden Stimmen in Ihrem Kopf hören, Sie werden über Intrigen, Verschwörungen und Feinde phantasieren, Sie werden sich mit Ihrer eigenen Scheiße beschmieren, und das alles läßt sich innerhalb von drei Sekunden mit weniger als dreihundert Mikrogramm bewirken. Manchmal erzählen mir tatsächlich Tote Geschichten… aber verrückte Frauen erzählen nichts als pathetische Lügen, und niemand schenkt einer Verrückten jemals Glauben, ganz gleich, was sie sagt. Habe ich mich klar ausgedrückt? Ja? Gut.« Er zog einen Läufer.

Jane nahm mit weichen Knien auf einem der Rindsledersitzkissen Platz. »Leo, was hast du hier verloren? Wie bist du da hineingeraten?«

»Es ging nicht um uns. Es ging niemals um uns. Es war für die Zukunft.«

Die Frau ergriff wieder das Wort. »Das Tolle am Großen Spiel - ich meine, das wirklich Clevere und Innovative daran - ist, daß wir nicht einmal wissen, was wir getan haben! Das beruht alles auf elektronischen Tarnvorrichtungen, geheimen Zellen, Sicherheitsvorkehrungen, speziellem Knowhow, digitaler Anonymität und Verschlüsselung. Eine Zelle denkt sich beispielsweise fünf mögliche direkte Aktionen aus. Dann wählt eine andere Zelle eine dieser fünf Aktionen aus und zerlegt sie in voneinander unabhängige Teile. Und dann verteilen wiederum andere Zellen diese Arbeit auf kleine, voneinander unabhängige Aktionen, die bis zur Bedeutungslosigkeit fragmentiert sind. Als ob bedrucktes Papier und Geld noch immer etwas bedeuteten.«

»Genau«, sagte der zweite Schachspieler und nickte. »Irgendwann meint zum Beispiel irgendein Theoretiker, es wäre doch ganz nützlich, irgendein übervölkertes Höllenloch von einer Stadt mit der bengalischen Cholera zu dezimieren. Und acht Monate später sieht jemand, wie sich kleine Papiersegelboote in einem Staubecken auflösen.«

Jane war fassungslos. »Warum sollte jemand so etwas tun?«

»Aus den besten Gründen«, antwortete Leo. »Um des Überlebens willen. Um des Überlebens der Menschheit und Millionen gefährdeter Spezies willen. Damit die Menschheit die Chance bekommt, sich aus dem schweren Wetter wieder zu wirklichem Sonnenschein und blauem Himmel emporzuarbeiten. Wir hatten viele Gelegenheiten, Maßnahmen zur Rettung der Erde zu ergreifen, und wir haben sie alle verschenkt, Jane. Alle ohne Ausnahme. Wir waren gierig und dumm und kurzsichtig, und wir haben sämtliche Chancen vertan. Nicht du persönlich, nicht ich persönlich, keiner von uns persönlich, unsere Vorfahren eben. Niemand, dem man so ohne weiteres die Schuld geben könnte. Aber du und ich und diese Leute hier, wir alle sind mit dem schweren Wetter großgeworden, und wir hatten unter den Konsequenzen zu leiden und mußten damit fertigwerden. Und die einzige echte Möglichkeit, damit fertigzuwerden, ist häßlich, einfach bloß unerträglich häßlich.«

»Aber, Leo, warum?«

»Weil wir Bescheid wissen! Weil wir die Möglichkeiten haben! Um der Überlebenden willen, nehme ich an.« Er zuckte die Achseln. »Es gibt keine globale Regierung. Es gibt keine formale, bewußte Kontrolle über den Lauf der Ereignisse, nirgendwo. Die Institutionen haben aufgegeben. Die Regierungen haben aufgegeben. Die Konzerne haben aufgegeben. Aber die Leute hier in diesem Raum und viele andere, die sind wie wir und die auf unserer Seite stehen, wir haben niemals aufgegeben. Wir kommen einer funktionierenden planetarischen Regierung am nächsten.«

Jane blickte sich im Zimmer um. Die anderen waren seiner Meinung. Das war kein Scherz. Er hatte die Wahrheit ausgesprochen, die sie alle anerkannten.

»Einige von uns, die meisten, sind sogar in der Regierung. Bloß gibt es keine Regierung auf der Welt, die sich kaltblütig hinstellen und öffentlich sagen könnte, daß von den acht Milliarden Menschen auf diesem kollabierenden Planeten mindestens vier Milliarden zuviel sind. Jane, jedes Jahr werden auf der Welt so viele Kinder geboren, wie ganz Mexiko Einwohner hat. Das ist Wahnsinn, und so geht es jetzt schon achtzig Jahre lang. Die Situation ist so katastrophal, daß der Versuch, etwas daran zu ändern, dem Beitritt zu einem Entschärfungskommando gleichkommt. Alljährlich geht eine Bombe hoch, und diese Bombe besteht aus menschlichem Fleisch, und jeder einzelne Bombensplitter bedeutet mehr ausgerottete Arten, mehr Kohlendioxid, mehr Toxine, Methan und Pestizide, mehr Abholzung, Müll und weiteren Niedergang. Früher mal gab es mehrere Auswege aus dem Dilemma, doch heute gibt es keine Alternativen mehr. Bloß noch Menschen, die wahrscheinlich überleben, und solche, die wahrscheinlich umkommen werden.«

»Leo neigt ein bißchen zum Dramatisieren, aber das macht halt seinen Charme aus«, sagte Rosina und lächelte ihn zärtlich an. Rosina sah aus wie eine Lehrerin - wie eine Lehrerin mit einer Vorliebe für Platinschmuck und teure Gesichtschirurgie. »Das Große Spiel ist weniger romantisch, als man meinen möchte. Im Grunde handelt es sich dabei auch bloß wieder um eine Art amerikanische Geheimregierung, und die sind alle zwar nichts Besonderes, aber sie bestehen nicht lange. Wir ähneln stark dem Widerstand im Süden während der Rekonstruktion. Genau wie das Unsichtbare Imperium - der Ku-Klux-Klan. Etwa zehn Jahre lang war der Ku-Klux-Klan eine richtige Untergrundregierung! Wo alle abwechselnd für einen Moment das Seil in der Hand hielten. Damit niemand die Verantwortung dafür trug, daß der arme Schwarze gelyncht wurde. Den Neger hat's halt irgendwie erwischt.«

Sie lächelte. Während Jane das Blut in den Adern gefror, lächelte sie, denn sie fand das lustig. »Und dann gingen die Beteiligten zurück an ihre Arbeit als County-Richter, Polizist, Anwalt und Ladenbesitzer. Und in der folgenden Woche ritten sie mit ihren Kapuzen und Masken wieder los und töteten jemand. Bei uns ist es genau das gleiche, Jane. Es ist wirklich möglich. Das hat es alles schon gegeben, hier in den Vereinigten Staaten. So was gab es hier schon, lange bevor es Netzwerke, Codierungsverfahren und all die anderen leicht zugänglichen, sicheren, bequemen Mittel gab, die große Verschwörungen so leicht machen. Es ist ganz einfach, wenn man ernsthaft daran arbeitet, und es ist sehr real, so real wie dieser Tisch.« Sie schlug mit der flachen Hand darauf.

»Bloß weil wir uns aus dem Spiel zurückziehen, heißt das noch lange nicht, daß das Große Spiel aufhört«, meinte ein anderer Pokerspieler. Er hatte leicht asiatische Züge und einen Westküstenakzent. Unter den Anwesenden waren keine Schwarze. Auch keine Hispanics. Jane hatte den Eindruck, daß ethnische Ausgewogenheit bei ihrer Nachwuchsbeschaffung keinen hohen Stellenwert genoß, wie immer diese vonstatten gehen mochte. Vielleicht indem sie in irgendwelchen Winkeln der Netzwerke Intelligenztests in Umlauf brachten, mit denen sie Nietzsches Übermenschen suchten. Durch reizvolle intellektuelle Rätsel, die nur Leute einer bestimmten Denkungsart zu lösen vermochten. Mit kleinen Anziehungspunkten im Netz, durch die man in den Untergrund abtauchen konnte, um niemals wieder rauszukommen… »Zum Beispiel Aids. Dieses Virus ist ein Geschenk des Schicksals, wir hätten längst ein Gegenmittel finden können, aber es gibt tapfere, entschlossene, kluge Leute, die die letzte Aids-Variante wie den Heiligen Gral behüten werden… Ein Virus, das sexuell nachlässige Menschen umbringt! Und das gleichzeitig die Immunabwehr schwächt, so daß die Infizierten zu einem riesigen, natürlichen Reservoir für Epidemien werden. Es ist hauptsächlich Aids zu verdanken, daß die neuen Methoden zur Behandlung von Tuberkulose so schnell wirkungslos werden… Wenn es Aids nicht schon gäbe, hätten wir es erfinden müssen. Ohne Aids hätten wir jetzt zehn Milliarden Menschen und nicht bloß acht.«

»Meine Freundin hat dich mit dieser alten KKK-Analogie etwas in die Irre geführt«, meinte Leo sanft. »Wir sind gewiß keine Rassisten, wir sind im Gegenteil ausgesprochen multikulturell; wir zielen niemals darauf ab, eine bestimmte ethnische Gruppe auszulöschen, wir arbeiten lediglich konsequent daran, die globale Geburtenrate zu senken und die globale Sterblichkeit zu erhöhen. Im Grunde haben unsere Aktivitäten ebensowenig mit dem Lynchen zu tun wie der F-6. Wie beim F-6 ist auch bei uns der Tod von ferne auf menschliches Handeln zurückzuführen, aber Schritte zur Erhöhung der globalen Sterblichkeitsrate zu unternehmen, macht aus dem einzelnen Todesfall noch lange keinen Mord. Eine Epidemie ist kein Genozid, sondern eben bloß eine Epidemie unter vielen. Der überwiegende Teil unserer Aktionen ist jedenfalls vollkommen legal und über alle Zweifel erhaben, und niemand hätte einen zweiten Blick dafür übrig. Zum Beispiel… wenn wir einem Medizinstudenten ein Stipendium anbieten.«

Er schenkte sich Kaffee nach und gab geschäumte Milch dazu. »Warum sollte man diesen Arzt nicht dazu ausbilden, komplizierte, kostspielige Verfahren wie neuronale Gehirnscans anzuwenden, anstatt tausende schädlicher Menschenleben durch sauberes Wasser und Kanalisation zu retten? Für gewöhnlich bilden ein paar sehr einsame, sehr hingebungsvolle Menschen das Rückgrat eines nationalen Gesundheitssystems. Sie sind leicht zu finden, und ihre Organisation läßt sich auf sehr subtile Weise torpedieren. Man braucht diese selbstlosen Neurotiker gar nicht über den Haufen zu knallen oder von Rassisten lynchen zu lassen, Gott bewahre. Meistens reichen schon ein paar freundliche Worte und ein wenig sanfte Ablenkung.«

»Hier ein bißchen, da ein bißchen«, sagte der Asiate, »eine kurze Verzögerung bei der Anreise zu einer schweren Hungersnot, oder ein Skandal irgendeiner Berühmtheit, um die Medien vom Ausbruch einer tödlichen Epidemie abzulenken… Die gegenwärtige verworrene, halblegale Situation bei den Drogen zum Beispiel, das war schon ein genialer Coup… Eine großartige Finanzierungsquelle für alle möglichen Arten von Untergrund, außerdem sind die Leute, die sich Heroin spritzen, extrem leichtsinnig und leichtgläubig. Solange sie nur den richtigen Kick bringen, werden Straßendrogen kaum jemals auf Zusatzstoffe getestet. Es gibt Narko-Verhütungsmittel - ein Schuß läßt eine Frau auf Dauer allergisch auf ihre eigene Uterusschleimhaut reagieren, wovon die Frau gar nichts bemerkt, bloß daß sich niemals ein befruchtetes Ei in ihrem Uterus einnisten wird.« Er nickte verständig. »Auch bei Massenimpfungen funktioniert das gut, falls man es schafft, die Impfmittel zu kontaminieren… Man könnte dagegen einwenden, daß die Methode recht sexistisch ist, aber wir haben es bereits mit verdeckter Sterilisation der Männer probiert, und die Statistik zeigt nun mal, daß die Gruppe der fruchtbaren Frauen die eigentliche Ursache für das Bevölkerungswachstum ist; es dreht sich alles um die Gebärmutter, so funktioniert die menschliche Fortpflanzung nun mal… Menschen, die intravenöse Drogen zu sich nehmen, liebäugeln bereits mit dem Selbstmord; ist es dann so falsch, ihnen dabei zu helfen?«

»Ganz zu schweigen von der Legalisierung der Euthanasie auf Verlangen«, meinte die zweite Frau gereizt. »Und zumindest diese Form des Selbstmords scheint bei Männern weit verbreitet zu sein.«

»Die ganze terroristische Militärtaktik hat darauf abgezielt, die feindliche Infrastruktur zu zerstören - anstatt daß es peinliche Opfer auf dem Schlachtfeld gab, starb die feindliche Bevölkerung an scheinbar natürlichen Ursachen.« Diesmal hatte der Funker gesprochen, der so aufrecht vor dem Scanner saß, als hätte er einen Ladestock verschluckt. »Das war Luddismus in großem Maßstab - zum erstenmal wurde der Luddismus bewußt in nationale Politik umgemünzt. Daß die Praxis des Terrorismus rasch Eingang in die amerikanische Zivilbevölkerung fand, zeigt nur, auf welch breite Unterstützung diese Praxis stößt… Ganz ähnlich wie die Sache mit der CIA und dem LSD, wenn ich mal meine Lieblingsanalogie anbringen darf.«

Leo nippte am Kaffee. »Ihr werdet mir alle fehlen«, gestand er.

»Ich hab dir ja gesagt, er ist sentimental«, sagte Rosina. »Es ist wirklich eine furchtbare Schande, daß die Talente einer solchen Gruppe auf vollkommen geheime Unternehmungen verschwendet werden. Daß man die Verantwortung niemals euch zuschreiben wird. Ihr hättet es alle besser verdient.«

»Ach, wir sind auch nicht schlechter dran als Alan Turing{i}«, wandte der zweite Schachspieler ein. »Wir sind bloß noch geheimere, dunkle, digitale Gespenster.«

»Eines Tages wird irgend jemand alles aufdröseln«, meinte Rosina tröstend zu Leo. »Wir kennen das ganze Ausmaß der Spielaktivitäten ja selbst nicht einmal, aber es muß zahllose verborgene Spuren geben… Irgend jemand in der Zukunft, vielleicht im nächsten Jahrhundert, mit genügend Zeit und ausreichend Mitteln für eine umfangreiche Datenbankrecherche, könnte alles wieder ausgraben und die Einzelteile zusammenfügen.« Sie lächelte. »Und uns in Bausch und Bogen verdammen.«

»Das ist ihr Privileg. Ein Privileg, das wir der Zukunft gewähren. Zwei große Privilegien - Überleben und Unschuld.«

»Deshalb sind wir jetzt tote Leute«, erklärte Rosina. »Weißt du, was wir sind, Jane? Wir sind Rettungsbootkannibalen. Wir haben etwas Furchtbares getan, das getan werden mußte, und nun sitzen wir auf diesen Sofas vor dir und lecken uns die Lippen von den letzten Fleischfetzen am Schenkelknochen eines toten Babies. Wir sind gemeine, bleiche, gruselige Wesen, die tief unter der Erde hausen, und von Rechts wegen gehören wir zu den anonymen Toten.« Sie wandte sich an den Mann am Scanner. »Wie schaut's aus, Red?«

»Sieht ziemlich gut aus«, antwortete Red. »Völlig ruhig.«

»Dann bin ich die erste. Los, jemand muß mir das Scheißding abnehmen.« Sie hob den linken Arm. Niemand rührte sich.

Rosina hob die Stimme. »Ich sagte, ich will die erste sein! Ich melde mich freiwillig! Also, wer schneidet mir das ab?«

Der junge Mann im Anzug erhob sich. »Weißt du, was wirklich beschissen daran ist?« meinte er zu Jane, und seine dunklen Augen waren wie zwei Austern aus einer Konservendose. »Es ist beschissen, sich fünf Jahre lang den Arsch aufzureißen, nur um ein paar wirklich exzellente Netzwerktypen zu finden, und dann stellt sich heraus, daß es sich um einen Haufen alter Politiker und Rechtsanwälte handelt! Um Leute, die viel zuviel akademischen, politischen, philosophischen Scheiß posten, der nichts bedeutet, und wenn's dann endlich ernst wird, ist immer jemand anders schuld, dann heuern sie am Ende einen korrupten mexikanischen Cop an, der die Sache für sie erledigt. Allmächtiger!« Er seufzte. »Gib mir mal das Ding da, Mann.«

Der zweite Schachspieler griff unter die Ledercouch und reichte dem jungen Mann einen pneumatischen Bolzenschneider mit Diamantschneide. »Willst du eine Schutzbrille?«

»Seh ich etwa so aus, als ob ich 'ne Scheißschutzbrille wollte? Schwächling!« Er nahm den Bolzenschneider und wandte sich an Rosina. »Los, auf die Treppe.«

Sie gingen hinaus.

Dreißig Sekunden lang sagte niemand etwas. Sie spielten Karten, sie studierten das Schachbrett, Leo heuchelte Interesse am Breitbandscanner. Sie hatten Angst.

Rosina kam ohne Armband zurück. Ein breites Lächeln im Gesicht. Wie eine Frau auf Kokain.

»Es klappt!« keuchte der zweite Schachspieler. »Ich bin der nächste!«

Der junge Mann mit dem Bolzenschneider kam zurück. Unter den Armen war sein Anzug völlig durchgeschwitzt.

»Nimm mich als nächsten!« sagte der zweite Schachspieler.

»Bist du verrückt?« meinte der junge Mann. »Ich kenne die Statistik. Diesmal soll's mal jemand anders probieren.«

»Ich mach's«, sagte Leo zum Schachspieler. »Wenn du dir

anschließend mich vornimmst.«

»Abgemacht, Leo.« Der Schachspieler blinzelte dankbar. »Du bist ein ehrliches Haus, Leo. Ich werd dich auch vermissen, Mann.«

Sie gingen hinaus. Eine Minute verstrich. Sie kamen wieder zurück.

»Wir haben wirklich Glück«, spottete der junge Mann, »oder sie sind doch nicht so gut, wie wir dachten. Was habt ihr mit den toten Armbändern gemacht?«

»Liegen in der Diele.«

»Wir sollten sie später besser sprengen. Möchte nicht, daß jemand die Schaltungen aufdröselt.«

»Ist gut«, sagte Leo mit einem Seitenblick zu Jane. »Jetzt siehst du, warum sich der Scharlachrote Rächer so gut in unsere Gruppe integriert hat! Gerade erst neunzehn Jahre alt - aber von dieser Sorte Gauner gibt's in jedem Netz einen; so was kommt sogar in der besten Gesellschaft vor.«

»Wieso bist du hier?« fragte Jane den Scharlachroten Rächer.

»Ich mache jetzt fünf Jahre beim Großen Spiel mit«, murmelte der Scharlachrote Rächer. »Wird allmählich öde.« Seine Miene umwölkte sich. »Außerdem, wenn ich nicht endlich aus der Stadt verschwinde, muß ich meine dämlichen Eltern umbringen! Mit 'ner Schrotflinte!«

Zwei der Pokerspieler erhoben sich - der asiatische Typ und die zweite Frau. Sie wechselten einen bedeutungsvollen Blick, dann nahm der Mann den Bolzenschneider, und sie gingen hinaus.

Fünfzehn Sekunden später ertönte eine laute Explosion. Dann hörte man Schreien.

Alle wurden kalkweiß im Gesicht. Das Schreien ging in ein gequältes, atemloses Schluchzen über.

Der Scharlachrote Rächer holte einen stumpfnasigen Keramikrevolver aus dem Jackett und ging steifbeinig zur Tür. Er riß sie auf und ließ sie hinter sich offen. Kurzzeitig vernahm man unverständliches Geheul, dann einen Schuß. Dann noch einen Schuß. Dann war Stille. Und schließlich einen letzten Schuß.

Der Scharlachrote Rächer kam zurück. Die Hosenbeine seines schwarz-grauen Anzugs waren mit kleinen Blutstropfen bespritzt. Er hatte den Bolzenschneider dabei - die Diamantschneide des Geräts hatte sich bei der Explosion schwarz gefärbt. »Ihres ist detoniert«, sagte er. »Seins können wir uns jetzt sparen. Er ist ebenfalls tot.«

»Ich hab's mir anders überlegt«, sagte der erste Schachspieler.

Ohne eine Miene zu verziehen, senkte der Scharlachrote Rächer den Revolver und zielte auf den Brillensteg des Schachspielers. »Okay, Mann.«

»Schon gut, ich geh ja schon.« Er schaute zu Red, dem Funker. »Bringen wir's hinter uns.«

»Ich gehe mit«, sagte der Scharlachrote Rächer.

»Warum?« fragte der Schachspieler.

»Weil ich überzählig bin und du mich als letzten losmachen wirst. Und weil du von mir eine Kugel in den Kopf kriegst, wenn du schlappmachst und mit dem Armband wegzulaufen versuchst.« Er schniefte und hustete. »Mann, für 'nen Typ mit drei akademischen Graden, Mann, bist du aber verflucht langsam!«

Sie gingen hinaus. Und kamen lebend zurück.

»Ich finde, eine Sterblichkeitsrate von fünfundzwanzig Prozent ist außergewöhnlich gut unter den gegebenen Umständen«, sagte Leo.

»In Anbetracht der extremen Vorsichtsmaßnahmen, die uns davon abhalten sollten… ja, durchaus akzeptabel«, meinte der andere Schachspieler.

Der Fernseher, auf dem bislang Schneetreiben geherrscht hatte, erwachte flackernd zum Leben.

»Seht mal, jetzt trifft es Oklahoma City«, sagte der erste Schachspieler. Er drehte die Lautstärke etwas hoch, und die sechs überlebenden Spieler setzten sich aufs Sofa und schauten gespannt zu.

»Guckt euch bloß mal an, wie sie die städtischen Überwachungskameras vernetzt haben, um die erste Schadenswelle aufzunehmen«, sagte Red. »Und nicht nur das, sie sind auch als erste auf Sendung! Die Mannschaft von Kanal 005 ist technisch wirklich Spitze.«

»Bleib auf 005«, sagte der zweite Schachspieler. »Das ist das reaktionsschnellste Sturmteam im ganzen Land.«

»Du sagst es.« Red nickte. »Abgesehen davon, daß wir gar keine Alternative hätten. Ich glaube, die anderen sind noch nicht so weit.« Er probierte am zweiten Gerät die Kanäle durch.

»Wow«, meinte Leo. »Seht euch mal die Satellitenaufnahme von SESAME an… Das ist aber sehr seltsam, Leute. Oklahoma City scheint unter einem riesigen Doughnut zu liegen.«

Rosina kicherte.

»Das ist wirklich eine seltsame Form, findest du nicht, Jane? Was hat das zu bedeuten?«

Jane räusperte sich. »Das bedeutet… das bedeutet, daß Jerry recht hatte. Ich kenne die Form nämlich schon von seinen Simulationen her. Das ist kein Zacken, das ist… also, das ist ein gewaltiger Torus-Wirbel am Boden. Ich meine, stell dir einen Tornado vor… und kipp ihn dann auf die Seite und verbinde die Spitze mit dem Oberteil, als würde sich eine Schlange in den eigenen Schwanz beißen… Dann bekommt man einen großen Ring, einen Torus. Und der saugt von unten und von außerhalb des Rings Luft an und stößt sie oben und an den Seiten wieder aus, und er ist stabil. Und er wird solange größer, bis sich die Wärme und die Feuchtigkeit vollständig abgebaut haben.«

»Was bedeutet das nun genau?«

Tränen strömten Jane über die Wangen. »Ich glaube, das bedeutet, daß meine Freunde alle tot sind.«

»Und daß Oklahoma City endgültig im Eimer ist«, setzte Rosina hinzu.

»Mega«, meinte der Scharlachrote Rächer.

Oklahoma City zeichnete ihren Untergang systematisch auf. Jane wußte sogleich, daß auf dem Bildschirm Geschichte geschrieben wurde, eine seltsame und intensive Art von Geschichte. So als rezitierte ein alter, römischer Poet seine eigene Autobiographie, während er sich im Bad die Pulsadern aufschlitzte.

Beim Zusammentreffen mit dem inzwischen zu voller Wucht erstarkten F-6 explodierte Oklahoma City über Fernsehen, Straßenzug um Straßenzug. Es wurde aufgesaugt, auseinanderklaubt und zerschmettert. Verstärkte Hochhäuser wurden als Ganzes aus dem Boden gezogen, als pflückte jemand Mohrrüben aus dem Erdboden. Es waren sehr harte und starke Gebäude, und wenn sie umkippten und umherzurollen begannen, ergoß sich ihr Inhalt in einem Gemenge aus Glas, Müll und Nebel durch die Fenster. Die umkippenden Hochhäuser rissen große Straßenstücke mit sich, und wenn der Wind unter die Straße gelangte, schossen alle möglichen Sachen empor. Unter der Erde von Oklahoma City war eine Menge Platz, eine Menge Platz mit vielen Menschen darin, und wenn der Wind in diese langgestreckten Schutzräume geriet, blies er hinein wie in eine Flöte. Kanaldeckel wehten durch die Straßen, und aus dem Pflaster schossen Walfontänen aus Dampf, und dann schien ein ganzer Walrumpf unter der Straße aufzutauchen, denn ein weiteres Hochhaus kippte langsam um, und das riß die Straße mitsamt seinen Internetverbindungen und unzerstörbaren Wasserleitungen aus Keramik und den Fußgängerunterführungen aus Beton auf.

Und irgend jemand setzte seine Vision zusammen, montierte sie mit Bedacht. Irgend jemand hatte den Bildschirm in facettenartige Minibildschirme unterteilt: Verkehrsüberwachungskameras und Gebäudeüberwachungskameras und Minibankkameras und all die anderen modernen städtischen Sicherheitskameras, die jetzt aber auch nicht mehr die geringste Sicherheit boten. Und wenn die Kameras dunkel wurden, wenn sie zerschmettert und zerfetzt wurden, explodierten und blind wurden, ersetzte sie irgend jemand durch andere Blickwinkel.

Einer zeigte auf einmal die Truppe. Jerry war zu sehen, wie er den Rücken halb der Kamera zuwandte und sich dem tosenden Wind entgegenstemmte. Er schrie etwas und winkte. Es war das Truppen-Camp, und sämtliche Papierjurten waren zerrissen und zerfetzt und flatterten im Wind. Jerry wandte sich auf einmal der Kamera zu und hielt einen Ornithopter mit kaputten Flügeln hoch, und sein Gesicht leuchtete vor Begreifen und Entsetzen.

Und dann verschwand er.

Es wirkte nicht so, als ob ein Gerät die Blickwinkel auswählte, vielmehr hatte Jane den Eindruck, irgend jemand erledigte das von Hand. Daß menschliche Arroganz dies zusammensetzte, daß irgendwelche Angestellten all dies vorsätzlich, rasch und energisch mit ihren geschäftigen Fingerspitzen zusammenstellten. Im vollen Bewußtsein, daß sie im Dienst sterben würden.

Auf einmal überwältigte sie der Jammer und das Leid dieser gewaltigen Katastrophe, bohrte sich durch das geschäftige Dickicht des Interfaces unmittelbar in ihr Innerstes. Sie spürte, wie der Schmerz in ihr explodierte. Und mit größerer Klarheit als je zuvor dachte sie, daß sie, falls sie jemals diesem Bunker und diesen Menschen des Abgrunds entkommen sollte, lernen würde, etwas anderes zu lieben. Etwas Neues. Etwas, dessen rotierender Kern nicht nach Katastrophe, Zerstörung und Verzweiflung stank.

Dann verblaßte das Bild.

»Übertragung wieder abgebrochen«, sagte Red. »Ich wette, diesmal hat es die Hauptmasten an der Britton Road erwischt - wer hält dagegen?«

»Das war großartig«, meinte Rosina anerkennend. »Ich kann's gar nicht erwarten, bis das Material endgültig bearbeitet wird und als CD rauskommt.«

Red durchkämmte die Kanäle. »SESAME ist immer noch auf Sendung.«

»Yeah, die Bundesregierung hat die Wetterverbindungen in alten Raketensilos untergebracht«, sagte der eine Schachspieler. »Praktisch unzerstörbar.«

»Wo sind wir eigentlich?« fragte der Scharlachrote Rächer, auf die SESAME-Karte blickend. Red zeigte mit dem Finger darauf. »Also«, sagte der Rächer, »ich kann über uns keine Bewölkung erkennen. Ich glaube, es ist klar.«

Auf einmal vernahm man vor der Tür mehrere heftige Explosionen - eigentlich Explosionen innerhalb des Bunkers. Leo zuckte zusammen, dann grinste er plötzlich. »Habt ihr das gehört, Leute! Das waren unsere Detonationssignale!«

»Knapp«, meinte der Schachspieler und zupfte an der Unterlippe. Er war ziemlich blaß geworden. »Verdammt knapp.«

»Wie haben die bloß das Signal durchgebracht?« fragte der andere Schachspieler.

»Mit einer automatisch gestarteten Flugdrohne, möchte ich wetten«, überlegte Red. »Haben wahrscheinlich die ganze Gegend plattgemacht. Wenn eine Drohne unbehelligt über uns drüberfliegen kann, dann müßte das eigentlich bedeuten, daß wir hier sicher rauskönnen.«

»Scheiß auf die Theorie, ich probier's aus«, erklärte der Scharlachrote Rächer. Er ging hinaus.

Als er kurz darauf zurückkam, hinterließen seine eleganten Lederschuhe frische Blutflecken auf dem dicken Teppich des Bunkers. »Die Sonne scheint!«

»Du machst Witze.«

»Keineswegs, Mann! Es ist naß draußen, und alles ist vollkommen plattgemacht, aber der Himmel ist blau, und die Sonne scheint, und der Himmel ist wolkenlos, und ich hau ab, Leute.« Er ging in die Küche und zog einen glänzenden Reisekoffer aus Keramik vom Kühlschrank herunter.

»Weit wirst du zu Fuß nicht kommen«, sagte der Schachspieler.

Der Scharlachrote Rächer funkelte ihn an. »Für wie blöd hältst du mich eigentlich, Gramps? Ich hab's nicht weit. Ich weiß genau, wo ich hin will und was ich tue, und du kommst nicht vor in meinen Plänen. Macht's gut, Leute. Auf Nimmerwiedersehen.« Er öffnete die Tür, stolzierte hinaus und ließ die Tür hinter sich weit offen.

»Recht hat er«, meinte Leo. »Es ist eine gute Idee, daß wir uns so rasch wie möglich aufteilen.«

»Bringst du uns mit dem Personentransporter raus?«

»Nein«, sagte Leo. »Es ist besser, nach Plan A vorzugehen. Ihr geht zu Fuß, und ich demoliere die Anlage. Die Wagen, den Panzer, die Räder, den Bunker, alles.«

»Die Leichen«, bemerkte Rosina.

»Ja, klar, ich werde sie in den Panzer legen, bevor ich ihn in die Luft jage.«

»Ich helfe dir, Leo«, sagte der zweite Schachspieler. »Soviel bin ich dir nach alledem schuldig.«

»Ist gut. Die Zeit ist knapp, Leute, also fangen wir an.«

Leo und seine fünf verbliebenen Freund gingen in die Diele. Die Frau und der Asiate lagen tot auf dem schräg abfallenden Boden, der Teppich war blutgetränkt. Die Wände waren von den Schrapnellsplittern der acht detonierten Armbänder wie mit Pockennarben übersät. Es stank nach verschmortem Plastik. Rosina, der eine Schachspieler und Red, der Funker, zwängten sich umständlich an den Leichen vorbei, ohne sie anzuschauen.

Jane hielt sich im Hintergrund. Der Anblick der Toten machte ihr gar nicht soviel aus. Sie hatte schon schlimmer zugerichtete Leichen gesehen. Eher widerten sie die Lebenden an.

»Eine schmierige Angelegenheit«, meinte der andere Schachspieler betrübt.

Leo zögerte. »Ich glaube, wir sollten dafür besser Gummihandschuhe und medizinisches Papier verwenden. Da ist eine Menge Körperflüssigkeit ausgetreten.«

»Dafür haben wir keine Zeit, Leo. Außerdem waren das zwei von uns; die sind sauber!«

»Ich weiß nicht. Bei Ruby bin ich mir da nicht so sicher«, meinte Leo nachdenklich. »Ruby ist genau der Typ, der auf Retroviren steht.«

Jane durchquerte die Diele. Sie zwängte sich an den beiden vorbei. Ihre Schritte schmatzten auf dem feuchten Teppich. Sie zitterte.

»Jane!« rief Leo.

Sie begann zu laufen.

»Jane!«

Sie rannte aus dem Garagentor. Es war windstill. Die Sonne schien. Die Welt roch wie frischgepflügter Boden. Der Himmel war wolkenlos. Sie lief um ihr Leben.

 

Alex hockte in einem Baum und knabberte an einem Laib Brot. Das Brot war nicht mehr frisch, denn das zerstörte Haus, aus dem er es hatte, war seit mindestens zwei Tagen verlassen gewesen. In dem Haus hatten ein Mann und seine Frau, die Mutter, des Mannes und die beiden Kinder der Eheleute gewohnt, beide mit einem Pferdegebiß. Zusammen mit einem Haufen religiösen Krams; Devotionaliendrucke in Goldrahmen, fromme Literatur, ein völlig zerschmetterter Farmtruck, auf dessen Stoßstangen stand: DIE EWIGKEIT - WANN IST ES SOWEIT? und NACH DEM TOD - WAS DANN?

Offenbar war es mal eine hübsche, kleine Farm gewesen, immerhin mit eigener Zisterne und einem Hühnerstall, aber jetzt war alles zerstört, und als Christen waren die ehemaligen Bewohner womöglich richtig dankbar dafür. Zu seiner Verblüffung hatte Alex sogar einen großen Stapel Papiercomics entdeckt, christlich-biblische Comics, ganz nach alter Art und sogar in Englisch, mit handgezeichneten Illustrationen, gedruckt mit Druckerschwärze und geheftet mit metallenen Heftklammern. Schade, daß sie alle zerfleddert und naß vom Regen waren.

In der Ferne, in nördlicher Richtung, ertönte eine gewaltige Explosion, dann schoß eine schmutzige Rauchsäule gen Himmel. Es war mittlerweile so windstill, und der Himmel war so wundervoll blau, daß die Rauchsäule gerade emporstieg und sich stolz zur Schau stellte. Es sah so aus wie eine heftige Bombenexplosion und hatte sich auch so angehört, aber vielleicht irrte er sich. Ebensogut hätte es ein explodierender Gastank sein können oder eine geborstene Propangasleitung. So was kam vor. Nicht jedes Unglück in der Welt war auf menschliche Einwirkung zurückzuführen.

Alex kaute noch ein wenig Brot und trank etwas Karottensaft. Die christliche Familie hatte auf organischen Vollwertsäften gestanden. Mit Ausnahme des Dads wahrscheinlich, der sein wirklich ungenießbares Okie Double X unter der Spüle versteckt hatte.

Alex' Baum war eine hohe und wohlriechende Zeder, die entwurzelt worden und umgekippt war. Ein Großteil der Äste war abgerissen; ein vorbeiziehender F-2 hatte das rote, wundervoll riechende Kernholz zu Tage treten lassen. Alex war auf den umgekippten Baum geklettert und lag nun in vier Metern Höhe auf dem sonnenwarmen Stamm, mit dem Rücken gegen einen der dickeren Äste gestützt. Der graurindige Stamm unter seinem papierumhüllten Hintern war so stabil wie eine Sitzbank. Das Wrack des Verfolgungsfahrzeugs Charlie lag in Sichtweite.

Juanita war weg, und den Spuren im feuchten Boden nach zu schließen, war sie mit einem Retter in Zivilschuhen verschwunden, der mit einer Art Militärlaster hergekommen war. Das waren gute Nachrichten für Alex, denn die letzten Stunden über war Juanitas Blick glasig gewesen, und sie hatte leicht verwirrt gewirkt. Alex war sicher, daß über kurz oder lang Juanita oder irgendein hilfreicher Trouper auftauchen würde. Sie würde bestimmt nach ihm suchen. Und selbst wenn sie es nicht unbedingt auf ihn abgesehen hätten, im Wagen waren noch viele Megabyte an Daten gespeichert.

Alex fühlte sich recht entspannt und mit sich im Frieden. Er war teilweise taub, das Gesicht tat ihm weh, außerdem die Lunge und die Augen, und am hinteren Gaumen schmeckte er Blut. Vom Rennen durchs Unterholz - überwiegend in heller Panik - hatte er viele häßliche Schrammen und ein paar schmerzhafte Blutergüsse zurückbehalten, außerdem war er mit Zedernsaft und Dreck verschmiert.

Aber er hatte den F-6 gesehen. Der F-6 hatte seine Erwartungen weit übertroffen. Es was schön, endlich einmal nicht enttäuscht zu werden. Er hatte das Gefühl, sich jetzt mit größerer Würde ins Sterben schicken zu können.

Er kaute noch etwas Brot. Das Brot war nicht gut, aber es war besser als die Nahrung im Camp. Ein graues Eichhörnchen flitzte auf dem Waldboden umher. Es trank aus einer Regenpfütze in den Wurzeln eines umgestürzten Baums. Wobei es völlig gelassen wirkte. Halt wie ein Eichhörnchen, das seiner Beschäftigung nachging.

Durch das hartnäckige Ohrensausen hindurch hörte Alex jemanden rufen. Jemand rief seinen Namen. Er richtete sich auf, setzte den Fuß in das smarte Seil, ließ sich vom Baumstamm auf den Boden hinab und legte sich das aufgerollte Seil eilends über die Schulter.

Er arbeitete sich durch das Labyrinth umgestürzter Bäume zum Unfallort vor.

Und als er seinen Retter erspähte, der sich im Umkreis des Unfallorts umsah, floh Alex. Er gelangte wieder zu der umgestürzten Zeder, warf das Seil hinauf und zog sich rasch wieder in den Baum hoch.

Er stellte sich auf den Stamm, winkte und rief: »Hier drüben!« Allzu laut rufen konnte er nicht, sonst bekam er Schmerzen im Brustkorb.

Leo Mulcahey kam herüber, indem er sich systematisch durch das Baumlabyrinth vorarbeitete. Er trug einen robusten Filzstetson und eine Safarijacke.

Auf einem kleinen Flecken kniehohen Unterholzes blieb er stehen und schaute zu Alex hoch. »Läßt du's dir gutgehen?« fragte er.

Alex faßte sich an die Ohren. »Was hast du gesagt, Leo? Komm näher. Ich bin irgendwie taub. Tut mir leid.«

Leo kam näher, lehnte sich an den Stamm und blickte wieder hoch. »Hätte ich mir denken können, daß du's dir gut gehen läßt!«

»Du brauchst nicht mehr zu schreien, es geht schon. Wo ist Juanita?«

»Dasselbe wollte ich eigentlich dich fragen. Obwohl's dir doch wurscht ist.«

Alex kniff die Augen zusammen. »Ich weiß, daß du sie abgeholt hast, also verarsch mich nicht. So blöd, ihr was anzutun, bist du doch nicht, oder, Leo? Es sei denn, du willst dich mit uns beiden anlegen.«

»Ich habe keinen Streit mit Jerry. Nicht mehr. Das ist jetzt alles Vergangenheit. Ich werde Jerry sogar helfen. Das ist die letzte Tat, mit der ich meinem Bruder wirklich helfen kann.« Er holte eine Keramikpistole aus der Jackentasche.

»Also, das ist ja toll«, höhnte Alex. »Du blödes Arschloch von einem Gespenst! Ich hatte letzte Woche zwei Bronchialblutungen, und da willst du mich erschießen und unter diesem Baum liegenlassen? Du hoffnungsloser Gringo-Idiot, ich habe den F-6 überlebt, ich brauche keinen beschissenen Mörder wie dich! Ich kann wunderbar auch allein sterben. Verschwinde, bevor ich die Geduld verliere!«

Leo lachte überrascht auf. »Das ist wirklich komisch! Soll ich dich gleich dort oben erschießen, wo es vielleicht schmerzhaft sein könnte, oder willst du lieber runterkommen, damit es effizienter und rascher vonstatten geht?«

»Ach«, meinte Alex geziert, »ich ziehe es vor, auf möglichst indirekte, unpersönliche und klinische Weise umgebracht zu werden, vielen Dank.«

»Oh, wenn's um uns beide geht, dann ist es schon persönlich«, versicherte ihm Leo. »Wegen dir konnte ich meinem Bruder nicht persönlich Lebewohl sagen. Ich hätte meinen Bruder wirklich liebend gern gesprochen, weil ich ein paar wichtige persönliche Angelegenheiten mit ihm zu bereden hatte, und ich hätte mühelos an seinem Gefolge vorbeikommen und ihn unter vier Augen sprechen können, aber das hast du verhindert. Und jetzt, bei der ganzen Hetze, ist es zu spät.« Leos Miene verdüsterte sich. »Ich nehme an, das ist kein ausreichender Grund, dich umzubringen; aber dann ist da noch das Geld. Juanita hat kein Geld mehr übrig; wenn du tot bist, bekommt sie deins und Jerry bekommt ihres. Dann wird dein Vermögen in die Umweltforschung investiert, anstatt daß es für den Medikamentenkonsum eines hinfälligen Schwächlings vergeudet wird. Dich zu töten, ist wirklich eine gute Tat. Dadurch wird die Welt ein kleines Bißchen besser.«

»Das ist wirklich wundervoll«, sagte Alex. »Ich fühle mich ja so geehrt, auf diese Weise zu deinem guten Gewissen beizutragen. Deiner scharfsichtigen Einschätzung meines moralischen und sozialen Werts kann ich nur beipflichten. Dürfte ich noch eine Bemerkung machen, bevor du mich exekutierst? Wäre es genau anders rum, und ich hätte vor, dich zu exekutieren, dann würde ich es ohne Scheißpredigt tun!«

Leo runzelte die Stirn.

»Was hast du, Leo? Ein alter Künstler wie du kann es nicht haben, daß der Verurteilte das letzte Wort behält?«

Leo hob die Pistole. Hinter seinem Kopf richtete sich lautlos eine dünne, schwarze Schlinge auf.

»Du solltest dich beeilen, Leo! Schieß schon!«

Leo zielte lächelnd.

»Zu spät!«

Das smarte Seil schnappte um seinen Hals zu und riß ihn in die Höhe. Das Genick knackte vernehmlich. Leo schnellte vom Waldboden empor wie eine Marionette an ihren Fäden. Dann, als sich das smarte Seil zischend um den Ast wickelte, roch es nach verbrannter Rinde, und der Körper zappelte heftig. Nach einer Weile kam er zur Ruhe.

 

Alex brauchte siebenundvierzig Stunden, um von dem zerstörten Wald in Oklahoma bis zum Penthouse seines Vaters in Houston zu gelangen. Rund ums Katastrophengebiet gab es eine Menge bürokratischer Schikanen, aber die Nationalgarde und die Cops konnten ihn nicht am Weitergehen hindern, und sein Geschick wendete sich, als er ein Motorrad fand. Er aß nicht viel. Er schlief kaum. Er hatte Fieber. In der Brust hatte er heftige Schmerzen, und der Tod war nah. Der Tod war nun in greifbare Nähe gerückt, kein romantischer Tod diesmal, nicht der süße, drogenumnebelte, transzendente Tod. Sondern der wirkliche Tod, der Tod von der kalten, altmodischen Art, ein Tod, wie es der Tod seiner Mutter gewesen war, eine Leere und ein Stillsein für immer. Er liebte den Tod nicht mehr. Er mochte den Tod nicht einmal mehr. Das Sterben war etwas, das er hinter sich bringen mußte.

Es war nicht leicht, in den Stadtteil seines Vaters hineinzugelangen. Die Cops von Houston waren schon immer zahlreich und hart gewesen, die Art Cops, die Zähne wie Dobermänner hatten, und das schwere Wetter hatte sie nicht milder gestimmt. Die Cops von Houston waren nett zu Leuten, wenn sie wie nette Leute aussahen; aber wenn Leute so aussahen wie er jetzt, dann waren die Cops des Jahres 2031 die Art Cops, die Landstreicher festnahmen und mit ihnen draußen in den Sümpfen furchtbare Sachen anstellten.

Aber Alex hatte seine Methoden. Er war nicht umsonst in Houston aufgewachsen, und er wußte, was es bedeutete, wenn einem jemand eine Gefälligkeit schuldig war. Er erreichte das Haus seines Vaters, ohne auch nur die Klamotten zu wechseln.

Und dann mußte er sich an den Leuten seines Vaters vorbeiarbeiten.

Er schaffte es, das Gebäude zu betreten. Er setzte sich beim

Aufzugcomputer durch. Der Portier an der Tür zum Penthouse-Stockwerk ließ ihn ein; er kannte den Portier. Und dann mußte er im marmornen Vorzimmer mit den riesigen aztekischen Mandalas, den Orang-Utan-Schädeln und den chinesischen Lampen warten.

Er saß in seinem schmutzigen Papieranzug hustend und zitternd auf der samtbezogenen Sitzbank, die Hände auf den Knien und mit schwindligem Kopf. Er wartete geduldig. So war es bei seinem Vater jedesmal. Wenn er lange genug gewartet hatte, tauchte irgendein Laufbursche auf und brachte ihm Kaffee und süße englische Kekse.

Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die bronzene Doppeltür am anderen Ende des Vorraums, und hindurch trat die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Sie war ein neunzehnjähriger Wildfang mit violetten Augen, mit einer reizenden schwarzen Ponyfrisur, kurzem Rock, aufgeknöpfter Bluse und hohen Absätzen.

Sie machte ein paar zögernde Schritte auf dem getäfelten Marmorboden, schaute Alex an und lächelte affektiert. »Bist du das?« fragte sie auf spanisch.

»Tut mir leid«, sagte Alex. »Ich glaube nicht.«

Sie wechselte ins Englische über, und ihre Augen weiteten sich. »Möchtest du… Shopping gehen?«

»Nein, danke, im Moment nicht.«

»Ich könnte dich herumfahren. Ich kenne viele nette Geschäfte in Houston.«

»Vielleicht ein andermal«, sagte Alex und nieste heftig. Sie betrachtete ihn nun mit tiefer Sorge, dann drehte sie sich um und ging hinaus, worauf sich die Türen mit einem dumpfen Laut hinter ihr schlossen.

Etwa sieben Minuten später tauchte ein Laufbursche mit dem Kaffee und den Keksen auf. Es war ein neuer Laufbursche - es war fast jedesmal ein neuer Laufbursche, der unterste Rang im Unger-Imperium -, aber die englischen Kekse waren wirklich gut, und der Kaffee stammte wie immer aus Costa Rica und war hervorragend. Alex hielt sich bei den Keksen zurück, nippte mehrmals vorsichtig am Kaffee und erholte sich so weit, daß er heftige Schmerzen bekam. Er bat den Laufburschen, ihm ein Aspirin oder besser noch ein Kodein zu bringen. Der Laufbursche kehrte nicht zurück.

Dann tauchte einer der Privatsekretäre auf. Es war einer der älteren Sekretäre, Senor Pabst, der Familie loyal ergeben, ein gepflegter alter Herr mit einem mexikanischen Anwaltspatent und einem gut kaschierten Alkoholproblem.

Pabst musterte ihn mit aufrichtigem Mitgefühl. Pabst stammte aus Matamoros. Die Unger-Familie hatte eine Menge Verbindungen in Matamoros. Alex wäre nicht so weit gegangen, zu sagen, daß er eine Beziehung zu Pabst hatte, aber ihr Verhältnis kam gegenseitigem Verständnis recht nahe.

»Ich glaube, du solltest dich besser gleich ins Bett legen, Alejandro.«

»Ich muß mit El Viejo sprechen.«

»Du bist nicht in der Verfassung, um mit El Viejo zu sprechen. Du wirst irgendwelche Dummheiten machen, die dir hinterher leid tun werden. Sprich morgen mit ihm. Das ist besser.«

»Also, will er mich nun empfangen oder nicht?«

»Er will dich empfangen«, gab Pabst zu. »Er will dich immer empfangen. Aber wohl kaum in diesem Zustand.«

»Mittlerweile dürfte ihn doch nichts mehr so leicht umhauen, oder? Bringen wir's hinter uns.«

Pabst brachte Alex zu seinem Vater.

Guillermo Unger war ein hochgewachsener, schlanker Mann Ende fünfzig, mit kunstvoll verwobenem, künstlichem blondem Haar von der Farbe von Molkereibutter allerbester Qualität. Er hatte blaue und sehr wässrige Augen, die hinter dicken Brillengläsern verborgen waren, das unselige Ergebnis eines längeren Herumexperimentierens mit computerunterstützter Wahrnehmung. Unter dem medizinischen PuderMake-up breitete sich wieder der Ausschlag von einer fehlgeschlagenen Hormonbehandlung aus. Er trug einen Tropenanzug aus Leinen. Offenbar war seine Stimmung - nein, nicht gut, das war eigentlich nie der Fall, aber positiv.

»Da bist du also wieder«, sagte er.

»Ich war mit Juanita zusammen.«

»Das habe ich gehört.«

»Ich glaube, sie ist tot, papa.«

»Sie ist nicht tot«, sagte sein Vater. »Tote lesen keine Email.« Er seufzte. »Sie lebt immer noch mit diesem dämlichen Mathematiker zusammen! Er hat sie mittlerweile nach Neumexiko gebracht. Ein gescheiterter Akademiker, großer Gott. Ein Wahnsinniger. Sie hat alles hingeschmissen, hat zugelassen, daß er ihre Karriere zerstört. Gott allein kann ihr jetzt noch helfen, Alejandro. Denn Gott weiß, daß ich es nicht vermag.«

Alex setzte sich. Er legte die Hände auf den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich bin froh, daß sie am Leben ist.«

»Alejandro, sieh mich an. Was soll der Papieranzug, warum läufst du herum wie ein Penner? Was soll der Dreck? Warum kommst du in einem solchen Aufzug in mein Büro, kannst du dich nicht wenigstens vorher waschen? Wir sind keine armen Leute, wir haben Bäder.«

»Papa, sauberer ging's nicht. Ich habe einen Tornado überlebt. Der Dreck sitzt tief in der Haut. Man kann ihn nicht rauswaschen, man muß warten, bis sich die Haut erneuert hat. Tut mir leid.«

»Du warst in Oklahoma City?« fragte sein Vater interessiert.

»Nein, Dad. Wir waren dort, wo der Sturm zuerst zugeschlagen hat. Wir haben ihn verfolgt, und wir haben gesehen, wie es losging.«

»Oklahoma City wurde ausführlich übertragen«, meinte sein Vater nachdenklich. »Das war ein ziemlich bedeutsames Ereignis.«

»Wir waren nicht in Oklahoma City. Dort sind jedenfalls alle umgekommen.«

»Nicht alle«, widersprach sein Vater. »Kaum mehr als die Hälfte.«

»Davon haben wir nichts mitbekommen. Wir haben nur die Entstehung des F-6 miterlebt. Wir - die Truppe - wollten den Sturm von Anfang an dokumentieren, aus wissenschaftlichen Gründen, um ihn zu begreifen.«

»Um ihn zu begreifen, wie? Höchst unwahrscheinlich! Wissen diese Leute, warum sich der Sturm unmittelbar hinter Oklahoma City so plötzlich gelegt hat?«

»Nein. Ich weiß nicht, ob sie das wissen. Ich bezweifle, daß sie es wissen.« Alex starrte seinen Vater an. Das führte zu nichts. Er wußte nicht, was er dem Mann sagen sollte. Er hatte ihm nichts mitzuteilen. Abgesehen von der unangenehmen Nachricht, daß er sterbenskrank war und daß jemand aus der Familie ihm beim Sterben würde zusehen müssen. Hauptsächlich aus formalen Gründen. Und er wollte nicht, daß Jane diejenige sein müßte. Sein Vater war der einzige, der sonst noch in Frage kam.

»Also«, sagte sein Vater, »ich habe mich schon gefragt, wann du zurückkommen und wieder Vernunft annehmen würdest.«

»Ich bin wieder da, papa.«

»Ich habe versucht, dich zu finden. Gelungen ist es mir nicht, schließlich hat deine Schwester dich vor mir versteckt.«

»Sie… äh... Na ja, ich kann sie nicht verteidigen, papa. Juanita ist sehr dickköpfig.«

»Ich hatte gute Neuigkeiten für dich, deshalb wollte ich mit dir sprechen. Sehr gute medizinische Neuigkeiten, Alex.«

Alex brummte etwas. Er lehnte sich zurück.

»Ich kann dir nichts Genaues sagen, aber seit einiger Zeit haben wir Dr. Kindscher verpflichtet, und als ich hörte, daß du da bist, habe ich ihn gleich herkommen lassen.« Er schwenkte die Hand über einer in den Schreibtisch eingelassenen Linse.

Dr. Kindscher betrat das Büro. Alex hatte den Eindruck, Dr. Kindscher habe bereits eine ganze Weile gewartet. Halt eine Frage der medizinischen Etikette, um klarzumachen, wessen Zeit wertvoller war.

»Hallo, Alex.«

»Hallo, Doktor.«

»Wir haben neue Ergebnisse aus der Schweiz, Ihren Genscan betreffend.«

»Ich dachte, das Projekt hätte man schon vor Jahren aufgegeben.«

Dr. Kindscher runzelte die Stirn. »Alex, es ist gar nicht so leicht, ein ganzes menschliches Genom bis auf die letzten paar Centimorgan zu analysieren. Bei einem einzelnen Individuum ist das eine äußerst komplizierte Angelegenheit.«

»Wir mußten uns für die Analyse Sublabors suchen«, sagte sein Vater, »und die Aufgaben in kleine Fitzelchen unterteilen.«

»Und wie Mr. Unger sagte, haben wir ein neues Fitzelchen entdeckt«, meinte Dr. Kindscher, strahlend vor Genugtuung. »Wirklich sehr ungewöhnlich!«

»Worum handelt es sich?«

»Um einen neuen Typ von Mucopolysaccharidose auf Chromosom 7-Q-22.«

»Könnte ich das verständlicher haben? Geben Sie mir eine Zusammenfassung«, krächzte Alex. »Sagen Sie mir, was dabei rausgekommen ist.«

»Nun, seit Ihrer Geburt blockiert der genetische Defekt, an dem Sie leiden, zeitweise das ordentliche Funktionieren Ihrer Lungenzellen, was die Absonderung von Flüssigkeiten betrifft. Ein sehr seltenes Syndrom. Auf der ganzen Welt sind nur vier solche Fälle bekannt. Einer in der Schweiz - ich finde, das war ein glücklicher Zufall - und zwei in Kalifornien. Sie sind der erste bekannte Fall in Texas.«

Alex blickte den Arzt an. Dann seinen Vater. Dann wieder den Arzt. Diesmal war es ernst. Diesmal fehlten die üblichen Rückversicherungen, das medizinische Kauderwelsch und die alternativen Prognosen. Sie glaubten wirklich, sie hätten die Ursache gefunden. Sie hatten sie gefunden. Sie hatten sie. Diesmal hatten sie den wahren Grund seiner Krankheit entdeckt.

»Warum?« krächzte er.

»Eine mutagene Schädigung der Eizelle«, sagte Dr. Kindscher. »Das kommt nur äußerst selten vor, aber bei allen bislang diagnostizierten Fällen war die Mutter einem industriellen Lösungsmittel ausgesetzt, einem ganz speziellen industriellen Lösungsmittel, das inzwischen nicht mehr verwendet wird.«

»Chipfertigung«, sagte sein Vater. »Lange, bevor du geboren wurdest, war deine Mutter in einer Grenzfabrik in der Chipfertigung beschäftigt.«

»Was? Das ist es also, mehr steckt nicht dahinter?«

»Damals war sie jung«, meinte sein Vater traurig. »Wir lebten an der Grenze, ich stand gerade erst am Anfang, und wir hatten nicht viel Geld.«

»Das ist es also, wie? Meine Mutter war in einer maquiladora-Fabrik einem Mutagen ausgesetzt. Und deshalb ging's mir die ganze Zeit über dreckig.«

»Ja, Alex.« Dr. Kindscher nickte. Er wirkte tief gerührt.

»Ich verstehe.«

»Die beste Neuigkeit aber lautet, es gibt eine Behandlungsmethode.«

»Das hätte ich wissen müssen.«

»In den USA ist sie illegal«, sagte sein Vater. »Und viel zu fortschrittlich für eine Grenz-clínica. Aber diesmal klappt es, mein Sohn. Diesmal werden sie das Problem bei der Wurzel packen.«

»Wir haben uns bereits an eine Klinik gewandt, und dort ist man bereit, dich aufzunehmen, Alex. Eine Genreparatur. Legal in Ägypten, im Libanon und auf Zypern.«

»Ach…«, meinte Alex. »Hoffentlich nicht Ägypten.«

»Nein, Zypern«, sagte sein Vater.

»Gut, ich hab nämlich gehört, in Ägypten gäbe es einen schlimmen Staphylokokkenstamm.« Alex erhob sich und trat unter Schmerzen neben den Arzt. »Also sind Sie sich diesmal wirklich sicher?«

»So sicher wie nur je zuvor in meiner Laufbahn. Diesmal können Sie sich darauf verlassen. Die Ursache liegt in Ihren Genen, deutlich sichtbar für jeden ausgebildeten Techniker, und nun, wo wir die genaue Position auf dem Chromosomenast ausgemacht haben, kann Ihnen das jedes beliebige Labor bestätigen. Ich habe das Ergebnis bereits zweimal bestätigen lassen!« Er strahlte. »Wir haben es endlich geschafft, Alex. Wir werden Sie heilen!«

»Ich danke Ihnen«, sagte Alex. »Sie Arschloch.« Er schlug Dr. Kindscher ins Gesicht.

Der Arzt taumelte und fiel hin. Er rappelte sich verblüfft hoch, hielt sich die Wange, dann machte er kehrt und rannte aus dem Büro.

»Das wird mich eine Stange Geld kosten«, bemerkte Alex' Vater.

»Tut mir leid«, sagte Alex. Er stützte sich zitternd auf den Tisch. »Wirklich.«

»Ist schon gut«, sagte sein Vater, »ein Schlag ist viel zuwenig für diese Nervensäge.«

Alex brach in Tränen aus.

»Ich möchte die Behandlungskosten übernehmen, Alejandro. Denn jetzt weiß ich, daß es nicht deine Schuld war, mein Junge. Du hast die Krankheit schon bei der Geburt mitbekommen.«

Alex wischte sich die Tränen ab. »Immer noch der Alte, papa«, krächzte er.

»Ich weiß nicht, ob alles beim alten bleiben wird, wenn die Mutation beseitigt ist«, erklärte sein Vater, »aber vielleicht wirst du dich verändern. Wer weiß? Ich bin dein Vater, mein Junge, ich glaube, diese Chance, gesund zu werden, bin ich dir schuldig.« Er runzelte die Stirn. »Aber diesmal keine Dummheiten mehr! Keine Skandale mehr wie diese schändliche Geschichte in Nuevo Laredo! Alejandro, diese Leute haben Anwälte auf mich angesetzt! Du fliegst nach Zypern, und zwar auf der Stelle, und dort bleibst du auch. Keine Gespräche, keine Anrufe, keine Kreditkarten, du tust einfach, was man dir sagt! Und keine Dummheiten mehr, besonders nicht seitens deiner verrückten Schwester.«

»Ist gut«, sagte Alex. Er ließ sich auf den Stuhl fallen. »Du hast gewonnen. Ich gebe auf. Ruf die Ambulanz.« Er begann zu kichern.

»Lach nicht, Alex. Gentherapie soll sehr schmerzhaft sein.«

»Schmerzhaft ist es immer«, meinte Alex lachend. »Alles tut weh. Solange man noch etwas spürt.«