DRITTES KAPITEL

 

Alex arbeitete sich über fünf Ebenen eines komplizierten Alptraums empor und stellte fest, daß ihn jemand in die Rippen knuffte. Er blickte eine Weile völlig benommen in die sich verjüngende Spitze des Wigwams hinauf, dann faßte er eine schlaksige junge Frau ins Auge, die neben seinem Schlafsack stand.

»Hey, Pillenfreak«, sagte sie. Sie hatte eine schmale Nase und leuchtende Augen und war mit einer ärmellosen Jacke mit vielen Taschen und Jeans bekleidet.

»Ja«, krächzte Alex. »Hi.«

»Ich bin Martha, erinnerst du dich? Du bist unserem Jagdteam zugeteilt. Steh auf, Mann!«

»Stimmt«, murmelte er. »Wo ist hier die Sauna?«

Martha lächelte schwach. Sie streckte den langen Arm aus - die Fingerspitzen waren schwarz lackiert. »Die Latrinen sind dort drüben.« Der Arm schwenkte herum, wie eine Kompaßnadel. »Der Laster wird noch von der Solaranlage aufgeladen. Du hast zehn Minuten Zeit.« Sie ging hinaus und ließ die Eingangsklappe des Wigwams offen, so daß boshafter Sonnenschein hereindrang.

Alex setzte sich auf. Er hatte die ganze Nacht nackt in einem gepolsterten Stoffsack auf einer großen, runden BubblepakMatte geschlafen. Der Schlafsack war alt, staubig und zerrissen, und Alex war sich ziemlich sicher, daß zwei Personen von zweifelhafter Sauberkeit ausgiebig darin gevögelt hatten. Was den Bubblepak anging, so genoß er bei den Storm Troupern offenbar geradezu religiöse Verehrung. Nach allem, was er bislang gesehen hatte, verbrachten die Trouper ihr halbes Leben liegend, sitzend und schlafend auf teppichbedecktem Bubblepak aus kondomdünner, aber lederartig zäher, luftgefüllter Transparentfolie. Bubblepak war eines der wesentlichen Elemente ihres Nomadenkosmos: Bubblepak, Papier und Stangen; Chips, Kabel & Daten; Wind, Wolken & Staub. Soeben hatte er die Nacht in einem Zeltkegel aus polymerisiertem, recyceltem Zeitungspapier verbracht, ein Gebilde aus Papier, Stangen und Schnur, wie die Sachen, die Kinder mit Schere und Karton bastelten.

Alex stand langsam auf. Seine Knie zitterten, und Arme und Rücken taten ihm weh; das Rückgrat kam ihm vor, als bestünde es aus aufeinandergestapelten hölzernen Serviettenringen. Am Kopf hatte er eine kleinere Beule. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wo er sie abbekommen hatte.

Die Lunge fühlte sich jedoch gut an. Seine Lunge fühlte sich sogar sehr gut an, erstaunlich gut. Er atmete. Und nur darauf kam es an. Zum ersten Mal seit mindestens einem Jahr hatte er eine ganze Nacht ohne Hustenanfall überstanden.

Woraus das üble Zeug, das man ihm in die Lunge gespritzt hatte, auch bestehen mochte, und ganz gleich, welche irregeleiteten Quacksalber dem Personal der clínica auch angehören mochten, die Behandlung hatte zweifelsfrei angeschlagen. Die Gerüchte, von denen er sich hatte leiten lassen, stimmten also; die Hurensöhne in Nuevo Laredo hatten etwas Praktikables vorzuweisen. Er war nicht geheilt - er wußte sehr wohl, daß er nicht geheilt war, er spürte die tief in seinen Knochen lauernden, nur vorübergehend gedämpften Krankheitsreservoirs -, aber es ging ihm jetzt erheblich besser. Man hatte ihn zusammengeflickt, wieder hochgepäppelt und auf die Beine gestellt. Seine Schwester hatte ihn gerade zur rechten Zeit entführt.

Alex lachte laut heraus. Er hatte neue Kräfte gesammelt; er war wieder auf dem Damm. Das war ihm nur recht; aber es war auch sehr seltsam.

Alex hatte auch schon früher Anfälle von Gesundheit gehabt. Der längste hatte volle zehn Monate gedauert. Damals war er siebzehn gewesen, seine Lebensweise war für eine Weile vollständig umgekrempelt worden, und er hatte sogar erwogen, zu studieren. Dieser kleine Traum war jedoch zerplatzt wie eine Blutblase, als der Fluch der Krankheit wieder seine Fischhaken in ihn senkte und ihn japsend in seine gewohnte Welt der Untersuchungen, Injektionen und Biopsien und aufs Krankenlager zurückwarf.

Die letzte Krankheitsperiode war mit Abstand die schlimmste gewesen, jedenfalls seit er dem Säuglingsalter entwachsen war. Mit achtzehn Monaten wäre er bei einem Hustenanfall beinahe erstickt. Alex konnte sich daran natürlich nicht erinnern, aber seine Eltern hatten ihn während der Krise vierundzwanzig Stunden am Tag mittels Video überwacht. Alex hatte die Bänder später entdeckt und sie eingehend betrachtet.

Im grellen, gnadenlosen Licht des texanischen Morgens stand Alex nackt neben seinem zerknautschten Schlafsack und betrachtete sich mit so großer Sorgfalt und Klarheit wie schon lange nicht mehr.

Er war mehr als mager; er war ausgezehrt, eine Drahtpuppe, nichts als Haut und Knochen. Er war so gut wie hinüber. Er war nachlässig und leichtsinnig gewesen.

Leichtsinnig - weil er nicht mehr daran geglaubt hatte, daß er je wieder aus dem Schattenreich auftauchen werde. Diesmal nicht. Die clínica war seine letzte Hoffnung gewesen, und ihretwegen hatte er alle Bande zur Familie und deren Vermittlern durchtrennt. Er war mit aller Entschlossenheit, die er hatte aufbringen können, in den Untergrund gegangen - so tief in den Untergrund, daß er keine Augen mehr gebraucht hatte, in die Art von stockfinsterem Untergrund, der gleichbedeutend war mit einem Grab. Der Versuch mit der clínica war lediglich eine Pflichtübung gewesen. In Wahrheit hatte er die letzten paar Wochen, die seinem verbrauchten Körper vor dem Gnadenschuß noch gegeben waren, in aller Stille herumbringen wollen.

Doch nun schien es so, als werde er weiterleben. Irgendwie und wider alle Erwartung hatte er noch einmal einen Aufschub bekommen. Das war nichts, worauf man sich allzusehr verlassen konnte, aber es war alles, was er hatte; und wenn es eine Weile vorhielt, dann könnte er die Zeit jedenfalls nutzen.

Das Camp der Trouper würde ihm vielleicht gut tun. Die Luft der High Plains war dünn und trocken, irgendwie sauberer und leichter zu atmen.

Besonders begeistert war Alex vom Sauerstofftank der Truppe. Die meisten Ärzte, mit denen er zu tun gehabt hatte, hatten seine Gewohnheit, reinen Sauerstoff zu schnüffeln, mit Argwohn betrachtet. Die Trouper aber waren keine Ärzte, sondern ein Haufen fanatischer Hinterwäldler mit einem erfrischenden Mangel an Umgangsformen, und der Sauerstoff war wundervoll gewesen.

Alex stieg eilig in den weiten Papieranzug und schloß den Reißverschluß bis zum Hals. Sollte die Drahtpuppe ruhig in diesem großen, papierenen Puppenkostüm verschwinden. Die Trouper würden keine Lust haben, sich mit seinen Krankheiten zu beschäftigen. Sie machten keinen blutrünstigen oder sadistischen Eindruck auf ihn; ihnen fehlte die kriminelle, raubtierhafte Ausstrahlung, der er so oft bei Schwarzmarkthändlern begegnet war. Allerdings hatten die Trouper den steinernen Blick von Leuten, die an den Tod und ans Töten bis zum Überdruß gewöhnt waren; sie waren Jäger, Rancher, Schlächter. Leute, die einen Kick suchten. Euthanasie-Fans.

Alex zog die neuen Schuhe an - die Plastiksohlen waren die gleichen wie tags zuvor, bloß besser an seine Fußform angepaßt, mit einem verklebten Oberteil aus Papier, einer Papierzunge und mehreren verstärkten Löchern für die Schnürsenkel. Wenn man nicht allzu genau hinsah, waren Carol Coopers Erzeugnisse beinahe richtige Kleidungsstücke.

Alex wankte blinzelnd durchs Lager und spähte ins Latrinenzelt. Die sanitären Einrichtungen der Truppe hätten nicht einfacher sein können; zwei Meter tief in den steinigen Boden getriebene Löcher, darüber ein kleiner Campinghocker ohne Sitzfläche zum Draufsitzen. Nach längerem Bemühen stand Alex auf, rückte den Scheißhocker wieder zurecht und hielt Ausschau nach dem Aerodromtruck.

Bussards und Marthas Telepräsenz-Jagdlaster war ein langer, weißer, ausladender Hardtop, der mit allen möglichen Antennen gespickt war. Am Dach war eine Radarantenne befestigt, geschützt mit einer schneeweißen Plastikhaube. Bussard gab gerade den Batterien mit Strom aus den Solarzellen die letzte Portion; Martha Madronich hatte die Doppeltür am Heck geöffnet und verstaute einen zusammengefalteten Ornithopter in einem Wandregal.

»Gibt's hier irgendwo Wasser?« fragte Alex.

Martha kam aus dem Laster heraus und reichte Alex eine Feldflasche aus Plastik und einen Pappbecher. Martha humpelte leicht, und zum erstenmal bemerkte Alex, daß sie einen künstlichen Fuß hatte, eine weiche, fleischfarbene Prothese mit zierlichen kleinen Gelenken an Knöcheln und Zehen, die in einem schwarzen Ballettschuh steckte.

Sorgsam darauf bedacht, mit dem Pappbecher nicht gegen Marthas möglicherweise ansteckende Feldflasche zu stoßen, schenkte Alex sich Wasser ein und stürzte es gierig hinunter. »Nicht so viel«, ermahnte sie ihn.

Er reichte ihr die Feldflasche zurück, und sie gab ihm ein Gericht aus zerkleinertem Wildbret und Maismehl. »Frühstück.« Alex mampfte das Hackfleisch aus gebackenem Rehherz, Rehleber und Teig, wobei er langsam den Laster umkreiste. Vorne hatte der Laster zwei Schalensitze, vom Stoffdach baumelten mit Klettverschlüssen befestigte Kopfhörer und Schutzbrillen herunter, außerdem war am Armaturenbrett ein eindrucksvolles Arsenal von technischen Geräten festgeschraubt, darunter Funkgerät, Radar, ein Hochfrequenzempfänger und Telefon.

»Wo sitze ich?« fragte er.

Martha deutete auf ein winziges Plätzchen, das sie auf der Ladefläche freigeräumt hatte, ein höhlenartiger Winkel inmitten verstauter Ausrüstungsgegenstände: Matchbeutel, zwei Werkzeugkästen aus Plastik, drei Bündel festgezurrter Spieren.

»Ja, klar«, meinte Alex. »Richtig luxuriös.«

Martha schniefte und fuhr sich mit den mageren Händen durchs schwarzgefärbte Haar. »Wir geben dir eine Unterlage aus Bubblepak, du wirst schon klarkommen. Die harte Tour ist nicht unser Ding. Wir von der Telepräsenz halten uns lieber dicht beim Highway.«

»Wenn wir an dem Düppelbeutel ziehen, mußt du beiseiterücken«, warnte ihn Bussard.

Alex brummte etwas. Bussard rollte eine flache BubblepakUnterlage aus, schloß sie an eine faustgroße batteriebetriebene Luftpumpe an und blies sie, begleitet von Zischen und Knistern, auf.

Martha stopfte das Bubblepak fürsorglich in das Loch, dann kletterte sie rückwärts aus dem Wagen. Alex' billiges Uhrenarmband gab ein lautes Stundensignal von sich.

»Bist du denn nicht kalibriert?« fragte sie.

»Bedaure, nein.« Alex hob die Hand. »Ich wußte nicht, wie man die Uhr einstellt. Außerdem ist es ja sowieso kein richtiges Trouper-Armband wie eures, sondern der billige Ersatz eines Möchtegern-Troupers, den mir meine Schwester gegeben hat.«

Martha seufzte erschöpft. »Dann benutz eben die Uhr vom Laptop. Steig ein, Mann, die Zeit ist knapp.« Sie und Bussard kletterten vorne in den Wagen.

Der Truck wandte sich bergab, erreichte den Highway und schlug die Richtung nach Norden ein. Er fuhr von allein und war sehr leise. Abgesehen vom Wispern der Räder auf dem Asphalt war das lauteste Geräusch im Wagen das Knistern von Alex' Bubblepak und das Rascheln seines Papieranzugs, als er mit den Ellbogen Beutel beiseitestieß und sich niederließ.

»He, Pillenfreak!« sagte Bussard auf einmal. »Hat dir der Ultralight gefallen?«

»Phantastisch!« versicherte Alex. »Als ich dir und deiner Maschine begegnet bin, hab ich erst angefangen zu leben, Boswell.«

Bussard kicherte. »Ich hab doch gewußt, daß es dir gefallen würde, Mann.«

Alex entdeckte einen grauen Laptop unter Boswells Fahrersitz und zog ihn hervor. Er klappte ihn auf und plazierte die Zeitanzeige in der Ecke: 12. Mai 2031, 9:11:46 AM. Dann machte er sich daran, den Inhalt der Festplatte zu durchforsten. »He, Bussard, da ist ja die Kongreßbibliothek drauf«, sagte er. »Nettes Maschinchen!«

»Das ist die Kongreßbibliothek von 2015«, meinte Bussard stolz.

»Tatsächlich?«

»Yeah, die Fassung, die unmittelbar nach der Datenverstaatlichung rauskam«, sagte Bussard. »Das ganze Online- Material! Der vollständige Datensatz, alles unverschlüsselt und ungekürzt! Nach den Einsprüchen hat man versucht, für einen Großteil von dem Zeug das Copyright zu erneuern, weißt du.«

»Yeah, als ob die Regierung es danach wieder hätte zurückkriegen können!« bemerkte Alex schniefend.

»Du würdest dich wundern, wie viele Hänger die Daten daraufhin zurückgegeben haben!« meinte Bussard vielsagend. »Die haben Cops losgeschickt, um das Zeug von Universitäten und so wieder einzutreiben… Mann, meine Kongreßbibliothek geb ich erst dann wieder her, wenn man sie irgendwann meinen steifen Fingern entreißt!«

»Wie ich sehe, hast du auch die Ausgabe von 2029.«

»Yeah, das meiste davon hab ich… In der 29er-Ausgabe gibt's 'ne Menge gute neue Sachen, aber an die klassische Ausgabe von 2015 kommt sie nicht heran. Ich weiß nicht, man kann über die Notstandsregierung sagen, was man will, aber was Public Domain anging, lag sie gar nicht so verkehrt.«

Alex öffnete die Bibliothek von 2015, aktivierte eine bildliche Darstellung der Datenbestände, klickte sich in der Cyberspace-Architektur wahllos durch drei fraktale Bedeutungsebenen und wählte aus purem Zufall einen kleinen cremefarbenen Würfel aus. Das Ding entfaltete sich wie eine Origami-Blume, und vor sich erblickte er die digitale True-Color-Replik eines illustrierten französischen Manuskripts aus dem zwölften Jahrhundert.

So war es eigentlich immer, wenn man mit der Bibliothek herumspielte. Er hatte sich schon häufiger mit der Bibliothek beschäftigt, damals, als er die Nase vom Kabelfernsehen gestrichen voll gehabt hatte, aber seiner Ansicht nach wurde dieser große, elektronische Buchstabenhaufen irgendwie überschätzt. Es gab arme Irre, deren gesamte Habseligkeiten in einer Papiertüte Platz fanden, aber sie besaßen einen billigen Laptop und einen größeren Brocken von der Bibliothek, und damit hockten sie in irgendeinem Loch, klickten darin herum und hoben ab und lasen irgendwelches Zeug und machten sich Anmerkungen dazu und Hypertext, und dann kamen sie mit einer pathetischen, wirren, verschrobenen, beknackten, paranoiden Theorie über ihr eigenes Schicksal und das der Welt wieder zum Vorschein… Die Bibliothek konnte es durchaus mit so manchen Drogen aufnehmen, wenn es darum ging, gescheite Leute in menschliche Wracks zu verwandeln.

Alex schaute gelangweilt vom Bildschirm hoch. »Und worauf stehst du so, Martha?«

»Ich stehe auf Drachen«, antwortete sie. »Auf Ballons, Düppel, Ultralights, Fallschirmdrachen… Aber Fallschirmspringen mache ich am liebsten. Ich steh auf Gebäudespringen.«

»Du stehst auf Gebäudesprengen, Martha?«

Sie fuhr auf dem Vordersitz herum und funkelte Alex an. »Keine Anschläge auf Gebäude, du Idiot! Gebäudesprünge! Ich jage nichts in die Luft! Ich klettere bloß irgendwo rauf, wenn der Wind günstig steht, und springe mit dem Fallschirm davon ab.«

»Oh. Hab's kapiert. Tut mir leid.« Alex dachte darüber nach. »Und wo springst du so runter, Martha?«

»Brücken sind schon gut«, meinte sie und entspannte sich ein wenig. »Berge sind klasse. Wolkenkratzer sind megacool, aber da hat man's mit dem privaten Sicherheitsdienst, blöden Stadtbullen und vorschriftshörigen Normalos und so zu tun… Am coolsten sind richtig hohe Sendemasten.«

»Ach, ja?«

»Ja, ich mag die richtig großen, alten, die ohne Stützdiamant.« Sie zögerte. »Dabei habe ich meinen Fuß verloren.«

»Oh. Ach ja. Okay.« Alex nickte mehrmals hintereinander. »Und wie bist du Storm Trouper geworden?«

Martha schüttelte den Kopf. »Ich gebe dir einen Rat, Kleiner. Das solltest du nie jemanden fragen.«

Kein Problem. Alex wandte sich wieder dem LaptopBildschirm zu.

Sie fuhren weiter. Etwa alle zehn Minuten hielten Bussard und Martha an und tauschten mit dem Basislager lakonische Meldungen aus, besprachen sich mit Greg und Carol im Strandbuggy oder übermittelten Peter und Joanne, die mit dem Radarbus unterwegs waren, eine kurze Bemerkung. Der ganze Funkverkehr spielte sich in Kürzeln, Insider-Witzen und Fachausdrücken ab. Hin und wieder kritzelte Martha etwas mit Wachsstift auf die Windschutzscheibe. Als Alex' Armbanduhr abermals piepste, nahm sie sie ihm ab, stellte sie energisch um und gab sie ihm zurück.

Nach einer guten Stunde holte Bussard einen langen Streifen Dörrfleisch hervor und nagte eifrig daran herum. Martha machte sich über ein kleines Säckchen mit gesalzenen Sonnenblumenkernen her und spuckte die ausgekauten Hülsen durchs halboffene Fenster. Alex hatte einen starken Magen - er konnte während der Fahrt Text von einem Laptop ablesen, ohne daß er Kopfschmerzen bekam oder daß ihm übel wurde -, doch als er das mitansehen mußte, schlug er Laptop und Augen zu und versuchte, ein wenig zu schlafen.

Eine Weile döste er, dann fiel er unerwartet rasch und heftig in einen tiefen, heilsamen Schlaf. Auf einmal entstieg den Tiefen seines Kreislaufs soviel REM-Schlaf, wie sonst während eines ganzen Monats unter Narkose nicht, und übernahm die Kontrolle über seine Lungenlappen. Glitzerndes Traumlametta wirbelte vor seinem inneren Auge vorbei, hyperaktive Visionen von Licht und Luft und Schwerelosigkeit…

Alex erwachte jäh und bemerkte, daß der Wagen angehalten hatte.

Er setzte sich langsam in seiner Bubblepak-Koje auf, dann kletterte er durch die offene Hecktür in den flirrenden, blendenden vormittäglichen Sonnenschein hinaus. Die Trouper waren vom Highway abgebogen und hatten sich über eine wenig befahrene Sandpiste bis zur Kuppe eines flachen Hügels vorgearbeitet. Der Hügel bestand aus Kalkstein, wie es für diese Gegend typisch war; ein buschbewachsener Höcker in der Landschaft, der vergeblich versucht hatte, ein Tafelberg zu werden.

Jedenfalls gab es auf dem Hügel einen Sendemast von beträchtlicher Höhe, mit eigenen keramikverankerten Solarzellen zur Stromversorgung und eines kleinen, fensterlosen Gebäudes, einer Art Schutzhütte, ebenfalls aus Keramik. Bussard und Martha hatten am Dach des Wagens ein Tuch aus blauem Stoff befestigt. Das andere Ende spannten sie als Sonnenschutz über zwei Stöcke.

»Was gibt's?« fragte Alex.

Bussard hatte sich eine lange, spitz zulaufende schwarze Kappe auf die kahl werdende Birne gesetzt; der Schirm der Kappe ruhte auf dem überdimensionalen Nasensteg einer insektenhaften Sonnenbrille. »Nun«, meinte er herablassend, »wir machen mit Geduld und Spucke einen Relaisdrachen klar, booten das Datenrelais und versuchen damit diesen Node anzuzapfen… und wenn alles klappt, starten wir ein paar Ornithopter.«

»Du kannst weiterschlafen, wenn du möchtest«, sagte Martha.

»Nein, ist schon okay«, antwortete Alex und rieb sich die Augen. Er beneidete Bussard um die Sonnenbrille. Hier draußen war sie überlebensnotwendig.

Alex schüttelte die Steifheit aus seinem Rücken, beschattete die Augen mit der rechten Hand und betrachtete die Landschaft. Früher war es wohl mal Weideland gewesen; nicht sonderlich üppig, aber eine Gegend, die ein karges Auskommen bot, wenn man genug davon besaß. Man sah noch das Muster der verrosteten und irgendwann zusammengebrochenen Stacheldrahtzäune, alte, wie mit dem Skalpell gezogene Schnitte durch die grüne Weite aus wild wuchernder Grannenhirse, Moskitogras, Gramagras und Unkraut. Seit den Massenevakuierungen und dem Wegsterben des Viehs wuchs auf einem Großteil des aufgegebenen Weidelands Mesquit.

Hier wirkte der Mesquit jedoch eigenartig tot: die Bäume waren braun, blattlos und verkrümmt, und von den dünnen Zweigen schälte sich verrottete graue Rinde. Seltsamer noch: durch den toten Mesquit-Wald führte eine breite Schneise, eine Reihe geschwungener Bögen wie von einem gewaltigen Hufeisen. Der leblose Wald war von ausgefransten, überlappenden großen Cs verunstaltet, manche davon einen halben Kilometer im Durchmesser. Es sah aus, als hätte jemand einen Robotbulldozer auf der Weide abgesetzt, um das tote Holz beiseitezuräumen, und als seien beim Bulldozer ein paar größere Softwarefehler aufgetreten.

»Wieso sind die Mesquitbäume hier eigentlich alle abgestorben?« fragte er. »Sieht aus wie Herbizid.«

Martha schüttelte den Kopf. »Falsch, Mann. Die Dürre.«

»Wie trocken muß es eigentlich sein, bis Mesquit eingeht?«

»Also, wenn es länger als ein Jahr überhaupt nicht regnet, dann geht alles ein. Der Mesquit, Kakteen, alles. Hier ist vor fünfzehn Jahren alles abgestorben.«

»Schwere Wetter«, meinte Bussard düster.

Martha nickte. »Im Moment sieht es hier ganz gut aus, aber das kommt daher, daß der Grassamen und dieses ganze Zeugs wieder gekeimt hat und daß die Gegend in letzter Zeit eine Menge Regen abbekommen hat. Aber, Mann, das ist der Grund, warum hier draußen niemand mehr leben kann. Es gibt kein Grundwasser mehr, die unterirdischen Wasseradern sind ausgetrocknet, und daher schlägt die Dürre jedesmal voll zu. Man kann die Tiere nicht tränken, daher verdurstet das Vieh und man geht pleite, einfach so.« Martha schnippte mit den Fingern. »Und irgendwas anbauen geht auch nicht, weil es keine Bewässerung gibt. Das neuartige genmanipulierte Getreide mit dem verbesserten Chlorophyll benötigt ständig eine Menge Wasser, um diese gewaltigen Wachstumsraten zu erreichen.«

»Ich verstehe«, sagte Alex. Er ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen. »Aber jetzt wächst da draußen jede Menge Gras. Man könnte doch immer noch Geld damit verdienen, daß man das Vieh auf dem Weideland hin und her treibt, anstatt es auf einer Ranch zu halten.«

Martha lachte. »Klar, Mann. Wenn man dich ließe, könntest du das Vieh den alten Chisold-Trail entlangtreiben und in Topeka schlachten lassen, genau wie früher. Du bist nicht der erste, der diese Idee hatte. Aber das ganze Land gehört immer noch dem weißen Mann, okay? Der Grenzkrieg ist vorbei, und die große Zeit der Komantschen auch.«

»Aber so hat doch keiner was vom Land«, wandte Alex ein.

»Es ist immer noch in Privatbesitz. Die Schürf- und Förderrechte bringen immer noch ein bißchen Geld ein. Manchmal kommen Biomasse-Firmen hier raus, ernten die Büsche ab und verarbeiten sie zu Gasohol, Futter und so Zeug. Das ist alles in Staatsbesitz oder gehört irgendwelchen Erben aus der Stadt, ein fürchterliches Durcheinander.«

»Was wir hier tun, ist unbefugtes Betreten von Privatbesitz«, verkündete Bussard. »Juristisch betrachtet. Deshalb beschäftigt die Truppe einen eigenen Rechtsanwalt.«

»Joe Brasseur ist für 'nen Anwalt gar nicht so übel«, räumte Martha großzügig ein. »Er hat Freunde in Austin.«

»Okay«, sagte Alex. »Das mit dem juristischen Aspekt kapier ich. Aber was war dann mit dem Bulldozer dort unten? Wollte jemand das Weideland freiräumen?«

Martha und Bussard schauten sich an, dann brachen sie in

Gelächter aus.

»Ein Bulldozer«, kicherte Bussard. »Was für ein Typ. Ein Bulldozer. Dieser Typ ist das größte Greenhorn aller Zeiten!« Er faßte sich unter der von schwarzer Baumwolle umhüllten Taille an die bebenden Seiten.

Martha klopfte Bussard mit der flachen Hand auf den Rücken. »Tut mir leid«, sagte sie und verkniff sich ein Grinsen. »Aber manchmal überkommt's ihn eben… Alex, versuch dir mal einen starken Sturm vorzustellen, okay? Einen richtig starken Sturm.«

»Willst du damit etwa sagen, das sei die Spur eines Tornados?«

»Allerdings. Etwa fünf Jahre alt.«

Alex starrte hinunter. »Ich hab immer gedacht, Tornados würden bloß alles plattwalzen, was ihnen in die Quere kommt.«

»Ja, auf einen F-4 oder F-5 trifft das sicherlich zu, aber das war ein kleiner, höchstens F-2. Diese Kurven sind ganz charakteristisch. Man nennt sie Sogflecken, verursacht von einem kleinen Wirbel innerhalb des großen, aber die Sogflecken kriegen immer den meisten Druck ab.«

Alex blickte durch den abgestorbenen Mesquitwald zu der Spur der Verwüstung hinunter. Jetzt war ihm alles klar; die überlappenden, C-förmigen Kerben waren von einem schmalen Energiezacken verursacht worden, von einer in den Rand eines größeren Rades eingelagerten Sichel, die beim Vorrücken des Trichters wieder und wieder auf die Bäume eingeschlagen hatte. Der Tornado hatte die abgestorbenen Bäume gezaust, bis nur noch die Reste des zermanschten, zerfetzten Gezweigs an ihnen herunterhingen, aber der tödliche Sogfleck hatte alles zerfetzt, was ihm in die Quere gekommen war, hatte Baumstämme in Bodenhöhe abgekniffen, die Wurzeln herausgerissen, die Fetzen über den Boden verteilt und die Äste als einen Häcksel aus Spänen und Splittern wieder ausgespuckt.

Alex leckte sich die trockenen Lippen. »Hab's kapiert. Echt geil… Habt ihr das mitangesehen? Habt ihr den damals gejagt?«

Martha schüttelte den Kopf. »Wir können sie nicht alle jagen, Mann. Wir sind hinter den großen her.«

Bussard hob die Sonnenbrille an, wischte sich Lachtränen ab und rückte sich die Kappe auf dem schwitzenden Schädel zurecht. »Hinter dem F-6«, sagte er, allmählich wieder ernst werdend. »Wir wollen den F-6, Pillenfreak.«

»Und werden wir heute einen F-6 finden?« fragte Alex.

»Heute nicht«, meinte Bussard. »Aber wenn mal einer kommt, dann wird Jerry ihn bestimmt finden.« Er kletterte hinten in den Wagen.

Alex betrachtete nachdenklich die Spur der Verwüstung, die der Tornado hinterlassen hatte. Martha rückte näher an ihn heran und senkte die Stimme. »Du hast es jetzt doch nicht etwa mit der Angst bekommen?«

»Nein, Martha«, antwortete er bedächtig. »Ich habe keine Angst.«

Sie glaubte ihm. »Das habe ich gleich gemerkt, als du deinen Kunstflug im Ultralight absolviert hast. Du bist wie deine Schwester, bloß nicht so… ich weiß nicht… nicht immer so beschissen erstklassig und perfekt.«

»Also, ich hätte es anders ausgedrückt«, meinte Alex.

»Und was den F-6 angeht«, vertraute Martha ihm rasch an und blickte sich über die Schulter um, »das Ding ist sozusagen virtuell. In der realexistierenden Atmosphäre hat es so was noch nicht gegeben. Der F-6 existiert bloß in Jerrys mathematischen Simulationen. Aber wenn der F-6 zuschlägt, wird die Truppe zur Stelle sein. Und wir werden ihn dokumentieren.«

Bussard kletterte mit einem Bündel langer Stäbe, Stoff und einer dicken Spule Drachenschnur wieder aus dem Wagen. Er und Martha machten sich an die Arbeit. Der Drachen bestand aus einem höchst ungewöhnlichen Stoff und erinnerte an befeuchtete blaue Seide mit in den Stoff eingeschmolzenen Plastiklatten. In das Plastik eingelassen war ein Gitternetz aus haardünnen Drähten.

Die beiden Trouper setzten den Kastendrachen mit geradezu rührendem Stolz zusammen. Alex verspürte das vage Bedürfnis, sie zu fotografieren, als gehörten sie einem exotischen Volksstamm an und führten einen komplizierten Tanz auf.

Als sie die verschiedenen Stäbe und Querstreben des Kastendrachens eingesteckt und verkeilt hatten, maß dieser zwei Meter in der Breite. Martha mußte ihn mit beiden Händen festhalten - nicht wegen seines Gewichts, das vernachlässigbar war, sondern weil er so leicht Wind fing.

Bussard wickelte nun die Schnur ab. Die Drachenschnur ähnelte stark der Zuleitung eines altmodischen Kabelfernsehers. Bussard befestigte die beiden Führungsdrähte des Drachens an einer speziellen Kupplung am Kabelende, dann schraubte er den Kabelstecker sorgsam in einen Gewindeknopf, der mitten auf einem der Hohlstäbe saß.

Auf einmal erwachte der Drachen zu gespenstischem Leben und schüttelte sich wie ein in Panik geratener Flugsaurier. »He!« schrie Bussard. »Hast du etwa vergessen, mit diesem Scheißding 'ne Diagnose durchzuführen?«

»Falsch gebootet, Mann!« gab Martha zurück, die mit den Pantoffeln über den Boden rutschte, während sie den Drachen zu bändigen versuchte. »Strom aus!«

Bussard sprang hinten in den Wagen und hämmerte auf den Laptop des Drachen ein. Der Drachen beruhigte sich wieder.

»Smarter Stoff«, erklärte Martha und schüttelte den Drachen mit einer Mischung aus Stolz und Verärgerung. »Smart genug, um einem manchmal ganz schön auf die Nüsse zu gehen, aber er ist unglaublich tragfähig.«

»Ist ein prima Gerät«, meinte Bussard zurückhaltend, bootete den Drachen neu und wartete geduldig, bis das Startprogramm auf dem Bildschirm erschien. »Wenn er gut aufgelegt ist, reicht ihm die Thermik über 'nem Campingkocher schon völlig aus.«

Der Drachen erwachte unvermittelt wieder zum Leben und vibrierte wie ein Trommelfell. »Das gefällt mir schon besser«, sagte Martha. Sie trug den Drachen in die vorherrschende leichte Brise hinaus.

Bussard befestigte die Spule mit Drachenschnur an der hinteren Stoßstange des Wagens und schaute zu, wie Martha den großen Drachen mit einem Überhandwurf in die Luft schleuderte, worauf er lautlos in den Himmel emporstieg.

Der Drachen zog mit energischen kleinen, genau kalkulierten Rucken Schnur nach, bis er auf eine kräftigere Luftströmung traf. Dann gewann er rasch an Höhe und schwang sich gewandt mit einer Reihe anmutiger halber Parabeln immer weiter empor.

»Smarter Stoff«, sagte Alex, unwillkürlich beeindruckt.

»Tolle Sache… Wie viele Megabytes stecken da eigentlich drin?«

»Ach, bloß ein paar hundert«, meinte Bussard bescheiden. »Es braucht nicht viel, einen Drachen zu steuern.«

Martha übernahm es, die kleine Keramikschutzhütte des Sendemasts zu knacken. Das abweisende, fensterlose Gebäude wirkte so gut wie unzerstörbar, eine praktische Notwendigkeit in nahezu menschenleerem Gebiet. Alex hatte noch keine Ödland-Vandalen gesehen; es ging das Gerücht, die größeren Gangs seien von einem Aufgebot der Texas Ranger aufgespürt und gnadenlos abgeknallt worden. Man hatte ihm jedoch versichert, daß sich immer noch ein paar Vandalen herumtreiben würden; Plünderer, Abräumer, Einbrecher, HobbyVerrückte aus der Stadt. Für gewöhnlich reisten sie in Gruppen.

Martha stellte fest, daß der Relaismast zu einer Kette gehörte; es handelte sich um eine Übertragungsanlage für elektronisches Geld. Die Tatsache, daß die Einheit mitten im Niemandsland stand, ließ darauf schließen, daß die transferierten Beträge nicht unbedingt staatlich sanktioniert waren. Martha begann den langwierigen, allerdings größtenteils automatisierten Prozeß, herauszufinden, wie man sie umsonst benutzen konnte. Die meisten Netzwerke, zumal die öffentlich zugänglichen, besaßen eine Kennung, um miteinander kommunizieren zu können. Wenn man unter dem Deckmantel einer geeigneten Netzwerkidentität die richtige Anfragesequenz wählte, erhielt man mehr oder weniger kostenlose Online-Zeit.

Währenddessen packte Bussard die Ornithopter aus. Dabei handelte es sich um Flugdrohnen in Hohlbauweise, mit raffinierten Gelenken aus Schaummetall und einer Verkleidung aus einzelnen schwarzen Plastik-›Federn‹. Aus der Ferne konnte man die drei Ornithopter leicht mit echten Bussarden verwechseln. Allerdings nur unter der Voraussetzung, daß einem die dünnen, ausfahrbaren Antennen und die kahlen Metallköpfe entgingen, die mit Videokameras von der Kapazität menschlicher Augen ausgerüstet waren.

Die geflügelten Apparate in der Luft zu halten, erforderte einen großen Rechenaufwand. Wie die meisten Raubvögel brachten die Ornithopter den Großteil der Zeit mit ausgebreiteten Schwingen im passiven Schwebeflug zu, wobei die Rechenchips in ihren verdrahteten Bäuchen auf halbe Leistung heruntergefahren wurden, so daß der Stromverbrauch minimiert war. Nur wenn sie auf Turbulenzen stießen, flogen die Ornithopter annähernd wie richtige Vögel weiter. Obwohl die Maschinen für militärische Zwecke entwickelt worden waren, wirkten sie empfindlich und zerbrechlich.

Mit der Routine, die langer Übung entsprang, hakte Bussard das Brustbein des ersten Ornithopters am Ende eines langen Wurfstocks ein. Er bog die gefiederten Schwingen des Geräts zurück, dann rannte er mit den langen, federnden Schritten eines Speerwerfers über die Hügelkuppe vor und schleuderte die Maschine beidhändig in die Luft.

Der Ornithopter stabilisierte sich in freiem Flug mit einem schwach vernehmbaren Schlagen der Schwingen, legte sich mit Computerpräzision auf die Seite und begann zu steigen.

Den Wurfstock über die Schultern gelegt und ihn mit seinen langen, schlaffen Händen festhaltend, stolzierte Bussard zurück zum Heck des Wagens. »Hol den anderen Vogel«, forderte er Alex auf.

Alex erhob sich von der Stoßstange und kletterte in den Laster. Er nahm den zweiten Ornithopter vom Wandhaken und trug ihn nach draußen.

»Was ist eigentlich das große Bündel neben dem Radkasten?« fragte Alex.

»Das ist der Paraglider«, antwortete Bussard. »Den brauchen wir heute nicht, aber wir nehmen ihn trotzdem gerne mit. Für den Fall, daß wir selber fliegen wollen, weißt du.«

»Ist das ein bemannter Paraglider?«

»Yeah.«

»Also, dann möchte ich damit fliegen.«

Bussard klemmte sich den Ornithopter unter den Arm und nahm die Sonnenbrille ab. »Jetzt hör mir mal zu, Kleiner. Wenn du damit fliegen willst, mußt du erst lernen, damit umzugehen. Das Ding hat keinen Motor. Das ist ein echter Gleiter, und wir müssen ihn mit dem Laster hochschleppen.«

»Also, ich hab Lust. Fangen wir an.«

»Das ist scharf«, sagte Bussard und bleckte seine gelben Zähne. »Aber das würde mir deine Schwester übelnehmen. Weil du nämlich vom Himmel runterplumpsen würdest und dann nur noch ein blutiger Fleischklumpen wärst.«

Alex ließ sich das durch den Kopf gehen. »Ich möchte, daß du's mir beibringst, Boswell.«

Bussard zuckte die Achseln. »Da verlangst du aber eine Menge, Pillenfreak. Was springt für mich dabei raus?«

Alex runzelte die Stirn. »Also, wie meinst du denn das? Ich hab Geld.«

»Shit«, sagte Bussard und blickte hügelaufwärts zu Martha hoch, die noch immer damit beschäftigt war, Zugang zum Relais zu bekommen. »Paß bloß auf, daß Martha das nicht hört. Sie findet es zum Kotzen, wenn jemand über Geld was zu reißen versucht. Wenn uns mal jemand Geld anbietet, dann entweder ein verrückter Kandidat oder ein dämlicher Tourist.« Bussard entfernte sich ein Stück, hakte den zweiten Vogel am Wurfstock ein und schleuderte ihn in die Luft.

Alex wartete, bis er zurückkam, dann reichte er ihm den dritten Flieger aus dem Wagen. »Warum muß Martha es denn erfahren?« beharrte er. »Können wir das nicht unter uns ausmachen? Ich möchte gern fliegen.«

»Weil sie dahinterkommen wird, Mann«, knurrte Bussard. »Sie ist schließlich nicht blöd! Jane hat anfangs mit Geld nur so um sich geschmissen, und rate mal, was passiert ist. Im ersten Monat flogen zwischen Janey und Martha die Fetzen.«

Alex riß die Augen auf. »Was?«

»Das war vielleicht 'ne Schlägerei, Mann! Die gingen mit Zähnen und Klauen aufeinander los. Schrien, boxten, warfen sich gegenseitig um - Mann, war das toll!« Bussard grinste. »So hab ich Janey noch nie schreien gehört! Außer vielleicht, wenn sie nach 'ner Jagd mit Jerry vögelt.«

»Heilige Scheiße«, sagte Alex bedächtig. Er mußte die Information erst verdauen. »Wer hat gewonnen?«

»Sagen wir mal, es ging unentschieden aus«, antwortete Bussard. »Wenn Martha zwei gesunde Füße gehabt hätte, dann hätte sie Janey klar eins auf den Deckel gegeben… Martha ist mager, aber sie ist stark, Mann, sie kann endlos Klimmzüge machen. Aber Janey ist groß und kräftig. Und wenn sie erst mal richtig in Fahrt kommt, rastet sie einfach aus. Das ist eine ganz wilde.«

»Und Jerry hat dabei zugesehen?« fragte Alex.

»Jerry war zur der Zeit nicht im Camp. Außerdem hat er Janey damals noch nicht gevögelt; sie hing einfach bloß bei der

Truppe herum und versuchte, sich mit Geld beliebt zu machen. Sie ging einem echt auf den Keks. Etwa so wie du im Moment.«

»Oh.«

»Mir fiel jedenfalls auf, daß Jerry Jane nach dem Kampf erheblich ernster nahm«, meinte Bussard nachdenklich. »Brachte sie dazu, Gewichtstrainig anzufangen und so Zeug… Hat Janey sozusagen in Form gebracht, schätze ich. Jetzt ist sie viel umgänglicher. Ich glaube, Martha würde ihr jetzt nicht mehr gern in die Quere kommen. Aber sie ist bestimmt kein großer Fan von Janey.«

Alex brummte etwas.

Bussard deutete zum Heck des Lasters. »Siehst du die beiden Liegestühle? Stell sie unter den Sonnenschirm.«

Alex zog zwei zusammenklappbare Liegestühle aus dem Laster. Nach längerem Studium der schlaffen Stoffbezüge und Holzscharniere gelang es ihm, sie richtig zusammenzusetzen.

Bussard startete den dritten Ornithopter, dann zog er sich ins Fahrerhaus des Lasters zurück. Als er wieder zum Vorschein kam, hatte er Brille, Kopfhörer, den Laptop und ein geripptes Paar Datenhandschuhe dabei.

Bussard ließ sich in einen der Liegestühle fallen, zog die Handschuhe an und setzte Brille und Kopfhörer auf. Er stützte die Ellbogen auf die Lehnen, streckte die behandschuhten Finger aus, krümmte sie und entschwand aus den dem normalen Menschenverstand zugänglichen Gefilden in die verborgenen Mysterien der Telepräsenz.

Martha kam zurück und ließ sich schweißüberströmt in den anderen Liegestuhl sinken. »Was für eine Mega-Scheiße, Mann, so ein paranoides Netz gibt's im ganzen Universum nur einmal. Ich hasse Ketten, Mann.« Sie warf Alex einen schmaläugigen, gereizten Blick zu. »Ich hasse sogar Outlaw-Ketten.«

»Bist du reingekommen?« erkundigte sich Alex.

»Yeah, ich bin drin - sonst würde ich nicht hier sitzen! Aber viel genützt hat's nicht, deshalb müssen wir uns auf den Relaisdrachen verlassen, sonst verteilen wir unsere Datenpakete über ganz Westtexas.« Sie runzelte die Stirn. »Jerry wird uns die Hölle heiß machen, wenn er merkt, wie weit wir die Batterien ausgelutscht haben.«

»Man sollte doch eigentlich meinen, daß sie einem ein bißchen Solarstrom abgeben würden«, sagte Alex. »Ist doch genug davon da.«

»Das Relais müßte schon verrückt sein, um auch nur ein Elektron zu verkaufen«, sagte Martha bitter.

Alex nickte und meinte einschmeichelnd: »Ich kann das Summen der Dinger bis hierher hören.«

Martha setzte sich auf. »Du hörst das Geräusch?«

»Klar«, sagte Alex.

»Ein richtig tiefes Brummen? Elektrisch? Ein pulsierendes Geräusch?«

»Ja, sicher.«

Martha knuffte den VR-blinden Bussard in die Rippen. Bussard zuckte wie vom Schlag getroffen zusammen und riß sich verärgert Brille und Kopfhörer herunter.

»Hey, Buss!« sagte Martha. »Der Pillenfreak hört das Brummen!«

»Wow!« meinte Bussard. Er stand auf. »Hier, übernimm mal.« Er half Martha, in seinen Liegestuhl überzuwechseln. Martha wischte den Kopfhörer mit einem mittels Klettband

daran befestigten antiseptischen Tuch ab.

Bussard hob Sonnenbrille und Kappe auf. »Laß uns ein Stück vom Laster weggehen, Mann. Komm mit.«

Alex folgte Bussard über den Feldweg den Westhang des Hügels hinunter. In der Ferne lugte eine unterbrochene Linie gedrungener, gräulicher Wolken hinter dem Horizont hervor. Die sich nähernde Sturmfront, wenn sie es denn war, wirkte erstaunlicherweise wenig imposant.

»Hörst du das Brummen immer noch?« fragte Bussard.

»Nein.«

»Hör genau hin.«

Alex spitzte eine Zeitlang die Ohren. Insektengezirpe, das leise Rauschen des Windes, in der Ferne ein paar Vogelrufe. »Vielleicht. Ganz leise.«

»Also, ich hör's«, meinte Bussard voller Genugtuung. »Die meisten Leute hören's nicht. Martha zum Beispiel. Aber das ist das Taos-Brummen.«

»Das was?«

»Ein sehr tiefes, irgendwie vibrierendes Geräusch… um die dreißig bis achtzig Hertz. Das menschliche Gehör reicht höchstens bis zwanzig Hertz.« Er breitete die Arme aus. »Ohne Ursprung, als wär's überall um einen herum, bis zum Horizont. Wie ein altmodischer Motor oder ein Verbrennungsgenerator. Man hört es nur, wenn es ganz still ist.«

»Ich dachte, das käme von den Solarzellen.«

»Solarzellen brummen nicht«, meinte Bussard. »Manchmal zischen sie ein bißchen…«

»Und was ist das?«

»Man nennt es das Taos-Brummen, weil die ersten Berichte darüber vor etwa fünfzig Jahren aus Neumexiko kamen«, sagte Bussard. »Das war, als sich die ersten Folgen des Treibhauseffekts bemerkbar machten… Taos, Santa Fe, Albuquerque… dann Teile von Florida. Jerry wurde in Los Alamos geboren, weißt du. Dort ist Jerry aufgewachsen. Der hört das Brummen.«

»Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, was das ist, Boswell.«

»Das weiß niemand«, erklärte Bussard kategorisch. »Jerry hat ein paar Theorien dazu. Aber das Brummen läßt sich nicht mit Instrumenten nachweisen. Man kann das Brummen mit keinem Mikrofon aufnehmen.«

Alex kratzte sich übers Stoppelkinn. »Woher weiß man dann, daß es real ist?«

Bussard zuckte die Achseln. »Was meinst du mit ›real‹? Das Brummen treibt manchmal die Leute zum Wahnsinn. Ist das real genug für dich? Vielleicht ist es gar kein richtiges Geräusch. Vielleicht handelt es sich um eine Hörstörung, um irgendein Resonanzphänomen in der Ionossphäre oder was weiß ich… Manche Leute behaupten, sie könnten das Nordlicht hören; sie hören eine Art Zischen und Knistern, wenn sich der Vorhang bewegt. Dafür gibt es auch keine Erklärung. Es gibt vieles, was wir am Wetter nicht verstehen.« Bussard umklammerte den Klumpen geschwärzten Metalls, den er an einem Lederriemen um den Hals trug. »Eine ganze Menge, Mann.«

Sie blickten lange Zeit schweigend zum westlichen Horizont. »Ich lasse die Ornithopter jetzt die Gewitterwolken untersuchen«, meinte Bussard. »Bis Mittag müßten sie die Kappe durchbrochen haben.«

»Du hast nicht zufällig eine Sonnenbrille übrig?« fragte Alex. »Die Helligkeit tut mir echt in den Augen weh.«

»Fehlanzeige«, sagte Bussard und wandte sich zum Laster um. »Aber ich hab noch eine VR-Brille. Ich kann dich auf die Ornithopter schalten. Gehen wir.«

Sie kehrten zum Laster zurück, wo Martha über Fernsteuerung im Fliegen begriffen war. Bussard wühlte in einer Werkzeugkiste und holte einen Tastzirkel hervor. Er maß die Entfernung zwischen Alex' Pupillen, dann gab er die Zahlen in den Laptop ein. Er zog eine überzählige VR-Brille samt Kopfhörer aus einem staubgeschützten Plastikbeutel und sterilisierte sie mit einem Lappen. »Mit VR-Ausrüstung kann man gar nicht vorsichtig genug sein«, meinte er. »Sonst kriegt man Bindehaut- oder Ohrenentzündung… in der Stadt kann man sich sogar Kopfläuse holen!«

»Ich habe keinen Stuhl«, erklärte Axel.

»Setz dich auf ein Stück Bubblepak.«

Alex holte die Bubblepak-Matte aus dem Wagen und nahm schwitzend darauf Platz. Aus Südwesten wehte eine schwache, warme Brise, und wenn sie auch nicht unbedingt schwül zu nennen war, ging doch etwas Erstickendes von ihr aus.

Eine schlanke Mücke landete unbemerkt auf Marthas VR-blindem Arm und sog sich mit Blut voll. Alex wollte bereits danach schlagen, dann besann er sich. Martha hätte einen Armklatscher wahrscheinlich nicht besonders gut aufgenommen.

»Los geht's«, sagte Bussard und reichte ihm die Brille. »Telepräsenz ist was Besonderes, okay? Unter Umständen bekommst du davon somatische Beschwerden, weil mit der Bewegung kein Körpergefühl einhergeht. Zumal du den Flug nicht kontrollieren kannst. Du wirst notgedrungen mit mir und Martha mitfliegen, uns sozusagen über die Flügel gucken, okay?«

»Hab's kapiert.«

»Wenn dir übel wird, mach einfach die Augen zu, bis du dich wieder besser fühlst. Und kotz um Himmels willen nicht auf die Ausrüstung.«

»Alles klar, kein Problem!« sagte Alex. Er hatte sich während des Flugs mit dem Ultralight keineswegs übergeben. Im Gegenteil: er hatte ungefähr ein Pint blauen Schleim ausgehustet und war dann aufgrund der Überversorgung mit Sauerstoff ohnmächtig geworden. Er hielt es für klüger, das für sich zu behalten. Wenn sie glaubten, es sei bloß Kotze gewesen, um so besser.

Alex setzte die Brille auf und blickte auf zwei winzige Bildschirme, die sich einen Daumenbreit vor seinem Gesicht befanden. Sie waren ohne Input und zeigten ein cybernetisches Blau, und man sah ihnen den häufigen Gebrauch an; die linke Anzeige war mit toten schwarzen Pixeln gesprenkelt. Er fühlte, wie sich auf seinen von der Brille bedeckten Lidern Schweißperlen sammelten.

»Fertig?« ertönte Bussards Stimme aus dem fernen Zwischenreich der realen Welt. »Ich schalte die Kopfhörer erst später ein, dann können wir uns besser unterhalten.«

»Ja, klar, ist gut.«

»Denk dran, die Erfahrung wird erst mal ein bißchen verwirrend sein.«

»Kannst du nicht endlich die Klappe halten, Mann? Ihr macht mich noch fertig!«

Weißes Licht sprang ihm entgegen. Er befand sich mitten in der Luft und flog.

Alex verlor augenblicklich das Gleichgewicht, fiel hintüber und prallte mit dem Hinterkopf gegen das harte Plastik des Hinterrads.

Mit aufgerissenen Augen wälzte er sich mit Schultern und Fersen auf den Rücken und breitete die Arme aus, um den schwankenden Himmel zu umarmen. Er spürte, wie seine Arme mit einem leisen Klatschen aufs Bubblepak fielen, wie ein Stück Fleisch beim Metzger.

Er schwebte jetzt mit dem Bauch nach oben durch den Raum. Der Boden unter seinem Rücken fühlte sich wunderbar fest an, als läge das ganze Gewicht des Planeten unter ihm und trüge ihn. Die Umrisse der fernen Wolken schimmerten schwach und waren in halluzinatorischer Bewegung. Computereffekte; wenn er genau hinsah, konnte er winzige, schuppenartige Pixel erkennen, die sich in kleinen Kaskaden über die verschiedenen Farbtöne und Helligkeitswerte ergossen.

»Wow«, murmelte er. »Das ist es. Einfach super, megastark…«

Instinktiv versuchte er, den Kopf zu bewegen und sich umzuschauen. Die Brille verfügte jedoch über keinen Tracer. Die Szenerie blieb unverrückbar, als wäre sie an seinem Gesicht festgeschmiedet. Er war ganz Auge, ein empfindungsloser Körper aus amputierter Unbegrenztheit. Er war körperlos…

Als Bussard sich hinsetzte, hörte Alex das Quietschen des Liegestuhls. »Du bist auf Jesse geschaltet«, sagte Bussard. »Ich schalte jetzt auf Kelly um.«

Das Bild wurde dunkel und wieder hell, schleuderte ihn elektronisch von Maschine zu Maschine, wie ein lautloser Hammerschlag zwischen die Augen.

»Wir steigen jetzt«, verkündete Bussard. Die Maschine begann lautlos mit den Flügeln zu schlagen, wobei sich die Perspektive rhythmisch und ruckartig verlagerte.

»Wir wollen zur Haube«, sagte Bussard. »Da spielt im Moment die Musik.«

»Gib mir mal den Kopfhörer«, verlangte Alex und streckte die Hand aus. »Ich zieh ihn nur über ein Ohr.«

Bussard reichte ihm den Kopfhörer, und Alex paßte ihn nach Gefühl an. Der Kopfhörer verfügte über ein eigenes Mikrofon, ein Schaumstoffknubbel an einem gebogenen Plastikhalter. Beim blinden Herumtasten fühlte sich Alex' Kopf unerwartet groß und unförmig an. Sein Kopf war wie der Kopf eines Fremden, ein großes Kissen mit einem Überzug aus Haut.

Als seine Ohren unter den Kopfhörermuscheln steckten, spürte Alex auf einmal wieder das Brummen, ein gerade noch wahrnehmbares Summen und Kitzeln. Das Brummen strömte unmittelbar durch ihn hindurch, eine unheimliche, grollende Wechselwirkung zwischen dem Rand des Weltraums und tief verborgenen Strömungen planetarischen Magmas. Er spitzte die Ohren - doch je mehr er sich anstrengte, das Brummen zu hören, desto schwächer wurde es. Alex kam zu dem Schluß, daß es sicherer war, nicht an das Brummen zu glauben. Er hob die linke Hörmuschel vom Ohr. Kein Brummen mehr. Gut.

Dann hörte er auf einmal den schneidenden Höhenwind.

»Wir haben eine Gewitterlage vorliegen«, verkündete Bussard voller Genugtuung. »Zwei Luftmassen prallen aufeinander. Hörst du mich, Alex?«

»Ja.«

»Die unmittelbar voraus liegende Wolkenlinie, das ist der scharfe Rand warmer, trockener Luft, die von Neumexiko kommt. Die trockene Luft darüber - dahin kommen wir gleich -, das ist die Haube. Im Moment saugt sie Wasserdampf von der Oberseite dieser Kumulusgebirge ab und macht sie platt.«

Alex hatte das verstanden. Er blickte von oben auf die Wolken hinunter und näherte sich ihnen schwankend auf schlagenden, digitalen Schwingen. Die aufsteigenden, brodelnden Seiten des Wolkenhaufens waren die normalen Blumenkohlbrocken, aber die abgeflachten Oberseiten der Wolkentürme sahen wirklich ungewöhnlich aus: riesige, wogende Flächen aus turbulentem Wasserdampf, die gleichzeitig gekocht und umgerührt wurden.

Die Drohne mühte sich noch eine Weile, Höhe zu gewinnen, dann schwenkte sie langsam über die anschwellende Sturmfront. »Siehst du, wie aufgewühlt das von hier oben aussieht?«

»Yeah.«

»Die Haube hat schwer zu tun. Sie wird im Laufe des Tages die ganze feuchte Luft von West nach Ost zurückdrängen. Aber das kostet Energie, und daher kühlt sie ein wenig ab. Wenn sie abkühlt, franst sie aus und bricht auseinander. Siehst du den Fallstrom dort drüben? Das große, klare Loch?«

»Ich seh das Loch, Mann.«

»Von den großen, klaren Löchern mußt du dich fernhalten. Sonst verlierst du im Nu eine Menge Höhe…« Die Drohne wich dem höhlenartigen blauen Fallstrom in respektvoller Entfernung aus. »Wenn die Türme unter uns so weit gewachsen sind, daß sie die Haube durchstoßen und an uns vorbei emporschweben, dann wird es hier laut werden.«

Die Drohne trieb auf einmal in eine Wolkenbank. Die Brille vor Alex' Augen wurde so leer und weiß wie eine Krankenhausbandage. »Muß in diesem Turm ein paar hygrometrische Messungen vornehmen«, sagte Bussard. »Wir stellen Kelly auf Automatik und schalten auf Lena um… so!«

»Das Fliegen gefällt mir«, meinte Alex. »Bloß das Umschalten nervt.«

»Gewöhn dich dran.« Bussard kicherte. »Wir sind ja nicht wirklich dort oben, Mann.«

Das Fluggerät namens Lena hatte sich bereits am Wolkenzug vorbeigearbeitet, hinein in die wärmere, trockenere Luft hinter den vorrückenden Gewitterwolken. Von hinten wirkte die Wolkenfront viel dunkler, aufgewühlter und düsterer als von vorn. Auf einmal bohrte sich eine flüchtige Lichtnadel durch vier große Dampfhaufen, worauf sie, begleitet vom gedämpften Grollen einer fernen Bombenexplosion, gleich wieder erlosch.

Donner dröhnte unter der Hörmuschel in seinem rechten Ohr.

Auf einmal drang Marthas Stimme an dasselbe Ohr. »Bist du auf Lena?«

»Yeah!« antworteten Alex und Bussard im Chor.

»Die Übertragung wird schlechter, Mann, ich muß dich eine Stufe runterschalten.«

»Okay«, meinte Bussard. Die Bildschirme vor Alex' Augen wurden plötzlich merklich körniger, die Pixelkaskaden verlangsamten sich und gerannen zu kleinen, unregelmäßigen Blöcken. »Äh«, machte Alex.

»Ein Naturgesetz, Mann«, erklärte Bussard. »Mehr Auflösung schafft die Bandbreite nicht.«

Nun vernahm Alex' linkes Ohr - das ohne Kopfhörer - auf einmal verspätet gedämpftes, fernes Donnergrollen. Er hörte es in Stereo. Seine Ohren waren zehn Kilometer weit auseinander. Bei diesem Gedanken verspürte Alex den ersten existentiellen Anflug von VR-Übelkeit.

»Wir lassen über die Thopter auch Instrumente laufen, daher müssen wir die Bildschirmauflösung hin und wieder begrenzen«, sagte Bussard. »Die besten Wolkendaten sind für das menschliche Auge nämlich unsichtbar.«

»Kann man uns von dort oben sehen?« fragte Alex. »Kann man sehen, wo unsere Körper sind, kann man sehen, wo wir geparkt haben?«

»Wir sind jetzt ein ganzes Stück von der Gewitterfront entfernt«, antwortete Bussard gelangweilt. »Also, dort im Süden, irgendwo im Hitzedunst - da liegt das Lager. Wenn Lena eine gute Teleoptik hätte, könnte ich das Lager im Moment sehen. Früher hatte sie eine gute Optik, - aber dann ist ein Blitz eingeschlagen und hat den Chip verbrannt… eine gottverdammte Schande.«

»Woher habt ihr die Ausrüstung?« fragte Alex.

»Aus überzähligen Militärbestanden… man muß halt die richtigen Leute kennen.«

Auf einmal hatte Alex das Gefühl, sein Gehirn könnte die ganzen Informationen nicht mehr verkraften. Er riß sich die Brille herunter. Unvermittelt dem realen Wind und dem grellen Sonnenschein ausgesetzt, zogen sich Pupillen und Netzhaut wie von Eis gestochen vor Schmerz zusammen.

Alex setzte sich auf dem Bubblepak auf und wischte sich Tränen und angesammelten Schweiß aus den Augenhöhlen. Er schaute zu den beiden Troupern, die lang hingestreckt in den Liegestühlen lagen und auf schwer definierbare Weise tätig waren. Bussard schlug leicht mit den Fingerspitzen. Martha fuchtelte wie ein wahnsinniger Geisterbeschwörer in der Luft herum.

Sie waren vollkommen hilflos. Mit einem Stein oder einem Stock hätte er sie mühelos erschlagen können. Auf einmal überkam Alex ein tiefes Unbehagen; weder Angst noch Übelkeit, sondern ein primitives, sündiges Gefühl, wie ein Aberglaube.

»Ich… ich bleib mal 'ne Weile draußen«, sagte Alex.

»Ist gut, mach uns was zu essen«, antwortete Bussard.

 

Alex brachte ein Mittagessen zustande und verzehrte auch seine Portion, doch er bemerkte, daß Bussard und Martha ihm nicht genug Wasser geben wollten. Es war einfach keins übrig. Es dauerte eine Weile, bis bei Alex der Groschen fiel - daß es einfach nicht genug Wasser gab, daß die Truppe ständig mit Wasserknappheit zu kämpfen hatte, daß Wasser etwas war, worüber man nicht mit sich handeln ließ.

Im Camp gab es einen elektrischen Kondenser, der mittels Kühlschlangen Wasserdampf aus der Luft kondensierte. Außerdem gab es Destillationsplanen aus Plastik; wenn man Pflanzen zerhackte und in eine unter der Plane befindliche Grube streute, erwärmte sich die transparente Plane in der Sonne und zog die Feuchtigkeit aus dem zerkleinerten Gras und dem Kaktus, und von der Unterseite der Plane tropfte destilliertes Wasser in ein Gefäß. Die Planen waren jedoch umständlich und langsam. Und der Kondenser benötigte eine Menge Strom. Und Strom war ebenfalls knapp.

Die Truppe hatte soviel Solarzellen dabei, wie sie schleppen konnte, doch selbst die besten Solarzellen waren schwach und empfindlich. Selbst zur Mittagszeit erzeugte das Bißchen Sonnenschein, das sie auffingen, nur wenig Strom. Und nicht immer schien die Sonne.

Die Truppe verfügte auch über Windgeneratoren - aber manchmal wehte einfach kein Wind. Die Truppe lechzte nach Energie, sie gierte förmlich danach, und sie ging sorgsam damit um. Das Arsenal der Batterien, die die Trouper mit sich herumschleppten, waren eine schwere Belastung. Autos. Laster. Busse. Ornithopter. Computer. Funkgeräte. Meßinstrumente. Alles verschlang Strom mit der unersättlichen Gier von Maschinen. Wenn es um Energie ging, befand sich die Truppe immer im roten Bereich. Ständig war sie gezwungen, demütig zur Zivilisation zurückkriechen und an irgendeinem städtischen Stromnetz eine Wagenladung Batterien aufzuladen.

Energie konnte man sich entweder erbetteln oder kaufen. Doch um das absolute Bedürfnis nach Wasser kam man nicht herum. Wasser ließ sich weder komprimieren noch ersetzen, von virtuellem oder simuliertem Wasser konnte man nicht leben. Wasser war sehr real und sehr schwer und machte eine Menge Ärger. Manchmal fing die Truppe Regenwasser auf, doch selbst ein regenreiches Jahr in Westtexas brachte nicht viel Regen. Und selbst wenn sie Regenwasser ergatterten, dann konnten sie das Wasser doch nicht mitnehmen, wenn sie das Lager verlegten, und auf der Jagd nach Sturmfronten verlegte die Truppe ständig das Lager.

Es war ganz einfach: je mehr man erreichen wollte, desto weniger gab es zu trinken.

Jetzt auf einmal war Alex klar, warum Bussard und Martha so träge wie zwei Eidechsen unter dem Sonnenschirm in den Liegestühlen lagen und an ihrer Stelle lediglich Augen und

Ohren umherfliegen ließen. Auch Schweiß bestand aus Wasser. Die Zivilisation war in Westtexas zerstört worden und war ebenso tot wie die felsenbewohnenden Anasazi-Indianer aus Arizona, denn es gab hier einfach nicht genug Wasser, und so ohne weiteres ließ sich auch keins beschaffen.

Alex hörte auf zu grübeln, nahm sich ein Beispiel an Bussard und Martha und steckte sich methodisch Streifen Dörrfleisch in den Mund. Das förderte die Speichelproduktion. Manchmal schaffte er es, den Durst für ganze zehn Minuten zu vergessen. Etwa jede halbe Stunde durfte er ein paar erfrischende Schluck Wasser zu sich nehmen.

Der Ostwind hatte sich gelegt. Die smarte Drachenhaut, eben noch straffgespannt und rechteckig, hing nun in einem lustlos schwankenden Bogen am Himmel. Der Wind war von einer angespannten, gelatinösen Stille erstickt worden, von einer tödlichen Ruhe, die Alex' Haut schmierigen Schweiß ausschwitzen ließ. Das Grollen der fernen Donnerschläge im Westen wurde allmählich lauter und hartnäckiger, als würde unmittelbar über dem Horizont irgend etwas unbeholfen demoliert, doch die unnatürliche Stille um den Aerodromtruck wirkte ebenso unbewegt und drückend wie die stickige Luft in einem Grubenschacht.

Alex hockte im Schneidersitz auf dem Bubblepak, kaute mechanisch an einem Streifen Dörrfleisch und wischte sich den Schweiß ins Haar zurück. Je mehr die Hitze, der Durst und die Spannung zunahmen, desto unerträglicher wurde der Papieranzug.

Die an weißen Zuckerguß erinnernde glänzende Plastikoberfläche linderte die Hitze ein wenig. Es war ein raffinierter Anzug, und er funktionierte. Aber wenn man es recht bedachte, funktionierte er eigentlich nicht besonders gut. Sein Rücken war schweißgebadet, und sein nackter Hintern klebte unangenehm am Klappstuhl fest. Jedesmal, wenn Alex sich vorbeugte, wurden seine Schulterblätter eingeschnürt. Außerdem war der Anzug bei weitem das lauteste Kleidungsstück, das er jemals getragen hatte. In der angespannten Stille wurde jede seiner Bewegungen von einem Rascheln begleitet, als wühlte er bis zu den Ellbogen in einem Papierkorb.

Alex stand auf, zog den Reißverschluß bis zur Hüfte herunter und raffte den Anzug mit den herabbaumelnden weißen Papierarmen grob zusammen. Er sah jetzt wirklich scheußlich aus, bleich, klapperdürr, übersät mit Hitzeflecken und verschwitzt, doch die anderen bemerkten es nicht; sie waren VR-blind und murmelten ständig in ihre Mikrofone.

Alex trat aus dem Schatten und umrundete den Laster, wobei ihm der Schweiß in dünnen Rinnsalen über den Rücken bis zu den Schenkeln hinunterlief.

Der Himmel im Westen bot einen erstaunlichen Anblick.

Alex erlebte nicht zum erstenmal ein Unwetter. Er war im Nebelwetter des Golfs von Houston aufgewachsen und hatte Dutzende von Unwettern und texanischen Blue Northern erlebt. Im Alter von zwölf Jahren hatte er im Houstoner Penthouse seiner Familie sogar die Ausläufer eines ziemlich heftigen Hurricans ausgesessen.

Das Monster, das er da vor sich sah, gehörte allerdings einer anderen Größenordnung an. Das war eine Gewitterwolke von der Größe eines Gebirgszugs. Sie war grellweiß und schwarzblau und hier und da mit halb verborgenen Ansammlungen übler, grünlicher Gerinnsel gestreift.

Und sie wälzte sich auf ihn zu.

Ein Turm hatte die Haube durchstoßen. Er hatte sie plötzlich und vollständig durchstoßen, so wie ein Feuerwerkskörper eine dünne Blechbüchse durchbohren mochte. Riesige, rundliche Strömungen rachsüchtigen, überhitzten Wasserdampfs stießen zeitlupenhaft langsam wie gewaltige Fäuste in die oberen Luftschichten vor. Die vielen blumenkohlartigen Blasen wirkten so hart und dicht wie Brocken weißen Marmors. Und am Gipfel ihres Aufstiegs angelangt - Alex mußte den Kopf in den Nacken legen, um das sehen zu können -, ergoß sich Wasserdampf über den Rand der Stratosphäre.

Alex stand plattfüßig in seinen Schuhen aus Plastik und Papier da und schaute zu, wie das Gewitter zusehends anschwoll. Der emporstürmende Turm endete in einer runden Kuppel, einer anschwellenden Dampfblase von der Größe einer Stadt, und er versuchte offenbar, sich einen Weg durch jene zweite Barriere hindurch in die obere Atmosphäre zu bahnen. Er stemmte sich mit Macht gegen die Barriere und wurde erstaunlicherweise abgeschmettert. Der Turm wurde plattgedrückt, zur Seite geschleudert und zu langen, flachen Eisfahnen zerquetscht. Während die Oberseite der Gewitterwolke dichter wurde, sich ausbreitete und die Sonne allmählich verdeckte, wurden die gewaltigen, geäderten, empordrängenden Wände des Turms weit darunter in eine unheimliche Düsternis gehüllt.

Es war ein Gewitteramboß. Ein Amboß schwebte mitten im blauen Himmel von Texas, schwarz und kopflastig und erschreckend. Die Luft allein schon schien überfordert, einen solchen Koloß zu tragen.

Blitze zuckten den Nimbus empor, vom Boden bis zur Spitze. Zunächst ein dünnes, nervöses Knistern wahnsinniger Helligkeit, und dann, einen Herzschlag später, in rascher Folge ein, zwei, drei gewaltige, kanalisierte Schläge der elektrischen Hölle, welche die grünlichen Tiefen der Gewitterwolke mit feurigem Schein übergossen.

Alex ging wieder auf die andere Seite des Lasters. Der Donner ließ den Boden erzittern.

Bussard nahm Brille und Kopfhörer ab und ließ sie an den Elastikbändern vom Hals herunterbaumeln. »Jetzt wird's laut!« meinte er aufgekratzt.

»Ganz schön groß«, sagte Alex.

Bussard erhob sich grinsend. »Eine Böenfront kommt auf uns zu. Wird eine Menge Staub aufwirbeln. Ich hol schon mal die Masken.«

Bussard holte drei gesteppte Mund-und-Nasenmasken aus einem Karton im Wagen. Die Papiermasken waren geriffelt, porös und mit einem Nasenschutz aus Plastik und elastischen Kopfbändern versehen. Martha legte eine Maske an und wickelte ihr Haar sorgsam in ein verknotetes Taschentuch. Bussard schloß Türen und Fenster des Trucks, überprüfte die Stützen des Sonnenschutzes und straffte den Riemen seiner geschnäbelten Kappe. Dann legte er Helm und Kopfhörer wieder auf, legte sich in den Liegestuhl und zuckte mit den Fingern.

Um sie herum flatterten kleine Vögel nach Westen und stießen auf der Suche nach einem Unterschlupf immer wieder aufs Gebüsch hinab.

Das sengende Licht des frühen Nachmittags verlor auf einmal an Kraft. Der sich ausbreitende Rand des Ambosses hatte die Sonne erreicht. Der heiße Glanz verschwand vollständig vom Himmel, und die Welt wurde in ein gespenstisches, bernsteinfarbenes Licht getaucht.

Alex fühlte, wie sich der Krampf infolge des angestrengten Guckens unter der Brille allmählich aus seinen Augenlidern löste. Er legte die Maske um, so fest es ging. Sie bestand aus billigem Papier, aber es war eine gute Maske - der dehnbare Plastikbügel paßte sich angenehm dem Nasenrücken an. Die Luft kam ihm bereits sauberer vor, das Atmen fiel ihm leichter. Wenn er gewußt hätte, daß Atemmasken so leicht zu beschaffen waren, hätte Alex schon längst eine verlangt. Von jetzt an würde er die Maske stets griffbereit halten.

Alex lugte mit seinem maskierten Schädel um den Laster. Das Unwetter wandelte sich in eine Gewitterfront um, aus den gebirgigen Flanken der ersten Gewitterwolke schossen immer mehr Türme empor. Schlimmer noch, die ganze gewaltige, geronnene Masse von Unwettern geriet taumelnd in Bewegung, der gewaltige Bug eines unvorstellbar großen und machtvollen Gebildes aus heißem, transparentem Wind. Nichts auf Erden vermochte es aufzuhalten, nichts konnte sich ihm in den Weg stellen. Es würde wie ein planetarischer Schwertransporter über die grasbewachsenen Ebenen der Tornadostraße rasen.

Aber es würde sie verfehlen. Der Aerodromtruck befand sich außerhalb der Reichweite der Gewitterfront, unmittelbar an deren Südrand. Die Trouper hatten den Standort mit Bedacht gewählt.

Alex trat weiter vor, um besser sehen zu können. Im Nordwesten war die Gewitterwolke an einer Stelle der Unterseite aufgebrochen. Ein dunkler Regenschleier wehte langsam daraus hervor. Vereinzelte ferne Blitze durchbohrten die schräg abfallenden Wolken.

Alex sah dem Schauspiel der Blitze eine Weile zu, schätzte die Zeit, die der Donner bis zu ihm brauchte, und schlug gelegentlich nach Mücken. Er hatte noch nie einen so freien

Blick auf ein Gewitter gehabt. Blitze waren wirklich interessant; flackernd, verzweigt, sehr geschmeidig und kunstvoll gekrümmt. Ein realer Blitz hatte so gut wie nichts mit den üblichen zweidimensionalen Comicabbildungen von gezackten Blitzstrahlen gemein. Reale Blitze ähnelten viel eher einem raffinierten Videoeffekt.

Am westlichen Horizont spielten Gras und Büsche auf einmal verrückt. Sie legten sich in einem weiten, sich ausbreitenden Bogen flach auf den Boden. Dann peitschten sie die Erde und krümmten sich wie rasend. Es sah so aus, als würde das Gras von einer riesigen, unsichtbaren Stampede zertrampelt.

Ein Staubvorhang sprang vom geschundenen Erdboden hoch, wie der Auswurf eines Teppichs, den man ausklopfte.

Alex hatte so etwas noch nie gesehen. Er schaute verblüfft zu, wie der schmutzige Wind vorwärtsstürmte. Er bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit übers Land, so schnell wie ein Highway-Truck.

Er raste den Hang des Hügels empor und traf auf den überraschten Zuschauer.

Der Wind warf ihn glatt von den Beinen. Alex landete unsanft auf dem Hintern und rollte in einem eiskalten, fliegenden Sturzbach aus Staub und Dreck durchs scharfe Gras. Eine Drecksalve explodierte in seine Augen und blendete ihn. Der Wind brüllte.

Die Böenfront bemühte sich nach Kräften, ihn auszuziehen. Im Nu hatte sie den Papieranzug bis auf die Knie heruntergerissen und zerrte heftig an den Schuhen, während sie ihn unablässig mit umherfliegenden Steinen und Unkraut bombardierte. Alex schrie vor Schmerz und krabbelte auf allen vieren zum Laster.

Der Laster schwankte auf den Achsen hin und her. Die Stoffveranda flatterte wie wild, wenngleich das Knattern im Heulen des Sturms kaum zu hören war.

Alex kämpfte sich wieder in den schlagenden, flatternden Papieranzug hinein und zwängte seine verdreckten Arme in die leeren Ärmel. Vor Schmerz strömten ihm die Tränen nur so aus den Augen, und seine unbedeckten Knöcheln brannten in der Staubböe unter dem Laster. Der Wind war sehr kalt, dünn, schneidend und alpin. Alex' Finger waren weiß und zitterten, und unter der Maske klapperte er mit den Zähnen.

Ständig wurde neuer Schmutz unter den Laster geweht. Der Staubwind pfiff harmlos unter den Liegestühlen der beiden Trouper hindurch. Obwohl Alex nicht hörte, was sie redeten, sah er doch, daß ihre Münder unter den Papiermasken ständig in Bewegung waren. Sie sprachen noch immer in die kleinen, gebogenen Mikrofonhalter hinein.

Alex fischte seine VR-Ausrüstung aus der Luft, die am Kabelende heftig umherschleudert wurde. Er rammte den Rücken gegen den schwankenden Laster und setzte sich den Kopfhörer auf.

»Ist angenehm kühl jetzt, wie?« meinte Bussard in Alex' beschützte Ohren. Bussards Stimme wurde gedämpft von der Maske und vom Schrillen des Windes am Mikrofonschutz.

»Bist du verrückt?« schrie Alex. »Das könnte uns ja umbringen!«

»Nur, wenn's uns im Freien erwischt hätte«, entgegnete Bussard. »Hey, jetzt brauchen wir nicht mehr zu schwitzen.«

»Carol hat einen!« sagte Martha.

»Schon?« meinte Bussard alarmiert. »Das wird ein langer Tag… Dann hol Jesse für einen Düppel-Run rüber.«

Die Heftigkeit der Böenfront ließ rasch nach, obwohl sich der Wind noch mehrmals aufbäumte. Ihr folgte eine gemächliche, kühle Brise, die stark nach Regen und Ozon roch. Alex fröstelte und barg seine durchgefrorenen Fäuste in den Achselhöhlen.

Das Innere der VR-Brille war voller Dreck. Alex nahm die Maske ab, spuckte auf die kleinen Bildschirme und versuchte sie mit dem Daumen zu säubern.

Bussard nahm die Brille ab und stand auf. Irgend etwas schlug schwer auf dem gespannten Verandastoff auf. Bussard hüpfte zum Rand der Veranda, sprang hoch und packte es; ein gelandeter Ornithopter.

Bussard wischte sich Staub vom Trainingsanzug und schaute Alex unbebrillt an. »Verdammt noch mal! Hat dich etwa die Böenfront erwischt?«

»Wie kriege ich die wieder sauber?« meinte Alex ausweichend und hielt die Brille hoch.

Bussard reichte ihm ein antiseptisches Tuch. Dann öffnete er die Hecktür des Lasters und stieg geduckt hinein.

Er kam mit einem Matchbeutel wieder heraus und knallte die Türen zu. Der Beutel war voller Spulen mit schillerndem Band. Bussard nahm ein Stück gelben Klebestreifen von einer Spule ab und zog an dem Band. Ein Teil des glänzenden Bandes löste riß sich los und flatterte im Wind.

Er reichte es Alex. »Smarte Düppelstreifen.«

Die Streifen sahen aus wie altmodisches Videoband. Beide Enden des Bandes waren säuberlich perforiert. Der Streifen war zwei Finger breit und so lang wie Alex' Unterarm. Er war nahezu gewichtslos, am Rand jedoch so steif, daß man sich unangenehm schneiden konnte, wenn man nicht aufpaßte.

An einem Ende befand sich ein Höcker: ein Chip und eine winzige, flache Batterie.

Bussard verschraubte die Achse der Düppelspule am Brustbein des Ornithopters. Dann nahm er wieder den Wurfstock, trat in den Wind hinaus und startete das Gerät. Es stieg in der steifen Brise mit ausgebreiteten Schwingen raketengleich empor. »Pro Spule sind es hundert Streifen«, sagte Bussard, sich umwendend. »Wir lassen sie durch den Zacken verteilen.«

»Wofür sind sie gut?« fragte Alex.

»Wie meinsten das?« fragte Bussard verletzt. »Damit mißt man Temperatur, Luftfeuchtigkeit… und Windgeschwindigkeit, weil man die Düppelstreifen gleichzeitig auf dem Radar verfolgen kann.«

»Oh.«

»Die Düppel brauchen nur ganz wenig Auftrieb.« Bussard hob die VR-Montur hoch. »Daher bleiben sie oben, bis der Zacken ausfasert. Los, mach dich bereit, Mann, Greg und Carol sind fündig geworden!«

Alex setzte sich aufs Bubblepak. Er zog sich die Matte von hinten wie eine Decke über die Schultern. Die Luftblasen im Plastik hielten den kühlen Wind wirksam ab. Abgesehen vom aufgewirbelten Staub, der sich mit dem Schweiß vermischt hatte und ihm an Gesicht, Hals und Brust klebte, hatte er es beinahe behaglich. Er setzte die Brille auf.

Im nächsten Moment war Alex meilenweit entfernt und flog auf Lenas Schwingen dahin, vor sich ein langgestrecktes, weißes Plateau aufgewühlter Wolken. Über dem Plateau wurde das gewaltige brodelnde Gebirge der Gewitterwolke von gespenstischen Blitzen durchzuckt.

Marthas Ornithopter tauchte unter die Wolke. Aus der Unterseite der Gewitterwolke wehten große, ausgefranste Regenschleier hervor. Den Südrand der Wolkenbasis bildete jedoch ein langer, nachschleppender dunkler Sockel, leicht gebogen und frei von Regen. Von unten betrachtet war das Unwetter pechschwarz, unangenehm dunkelgrün gemasert, bleiern, die davon ausgehende Bedrohung war fast greifbar.

»Wie hast du es so schnell hierher geschafft?« fragte Bussard Martha.

Marthas Stimme schaltete sich knackend auf den Kanal. »Ich hab einen mittleren Jet erwischt, Mann! Der ist wie 'n Expreßlift! Hast du schon das konvexe Dings da oben gesehen? Der Jet schält die Vorderseite des Turms ab wie eine Zwiebel!« Martha hielt inne. »Das ist ulkig.«

»Es gibt keine normalen mehr, Martha«, meinte Bussard geduldig. »Das versuche ich dir dauernd klarzumachen.«

»Na ja, wir kriegen vielleicht einen F-3, allerhöchstens«, stellte Martha fest. »Das ist keine Superzelle. Aber, Mann, irgendwie seltsam ist das schon.«

Auf einmal schrie Bussard überrascht auf. »Verdammt! Jetzt seh ich, was du mit dem mittelhohen Jet gemeint hast… Mist, ich hab gerade zwei Düppelstreifen verloren.«

»Paß auf, daß dein Thopter den Arsch hochkriegt, die Wand bewegt sich.« In dem Maße, wie Marthas Erregung wuchs, trat ihr schleppender Oklahoma-Akzent immer deutlicher hervor.

»Wovon redet ihr da eigentlich?« fragte Alex.

»Siehst du die große Abwärtsströmung dort an der Basis?« antwortete Martha. »Zwischen der seitlichen Begrenzung und der Regenfront?«

Alex starrte angestrengt in die Brille. Soweit er erkennen konnte, bestand die Wolke aus einer einzigen Masse ununterscheidbarer Klumpen. Doch dann bemerkte er, daß ein ganzes Gebiet an der Basis - mehrere Dutzend Klumpen, eine ganze Wolkenregion von der Größe von vier bis fünf FootballFeldern - einen langsamen Tanz begonnen hatte. Die Klumpen wurden nach unten gezogen - machtvoll zusammengepreßt und abwärts gezerrt -, wo sie einen breiten, bauchigen, runden Wulst bildeten, ein ganzes Stück unterhalb der eigentlichen Wolkenbasis. Die Klumpen waren schwarz, häßlich, grämlich und wirkten höchst unzufrieden damit, nach unten gezwungen zu werden. Sie bemühten sich heftig, wieder zur Mutterwolke aufzusteigen und ihre Form zu bewahren, schafften es jedoch nicht und fielen auseinander. Irgendeine unerbittliche verborgene Kraft zog sie wie gasförmiges Toffee zu langen, kreisförmigen Streifen auseinander.

Auf einmal meldete sich eine weitere Stimme, mit einem scharfen Beiklang und begleitet vom fernen Knistern statischer Entladungen. »Hier spricht Carol in Alpha! Wir haben hier eine Windhose, Ende.«

»Hier Nowcaster«, ertönte Jerry Mulcaheys ruhige Stimme. »Gib mir die Koordinaten, Ende.« Der gute, alte Jerry, wurde Alex auf einmal klar, hatte den Vorteil, über die besten Antennen der Storm Troupe zu verfügen. Er schien wie Gottes berichterstattender Engel über dem Schlachtfeld zu schweben.

»Hier Greg in Alpha«, schaltete Greg Foulks sich ein. »Wie hält sich der Übertragungskanal, Jerry, Ende?«

»Geht noch, Ende.«

»Dann kommen jetzt die Koordinaten.« Greg schickte sie, ein kurzes digitales Kreischen.» Wir müssen weiter, Jerry. Die Wolkenwand wird voll zuschlagen, und über Radar bekommen wir ein Signal von einem gewaltigen Hagelschauer im Nordwesten rein, Ende.«

»Dann fahrt hinter die Landspitze und bootet die Anlage«, ordnete Jerry an. »Meldung, Aerodrom. Was machen die Düppel, Ende?«

»Boswell in Aerodrom«, sagte Bussard, und obwohl er nur eine Armlänge von Alex entfernt war, klang seine Stimme unerwartet dünn und verrauscht. »Ich hab Jesse geladen und bewege mich in einem starken Jetstrom, und Kelly fliegt gerade zum Aerodrom, um eine zweite Spule zu laden, Ende.«

»Lena ist jetzt in Position, Jerry, soll ich den Staubwirbel jetzt für dich angreifen, Ende?« fragte Martha.

»Wunderbar, Martha«, antwortete Jerry, und das Lob und die Genugtuung waren seiner tiefen Stimme deutlich anzuhören. »Warte, ich schalte dich eben auf den Monitor… Okay, Martha, los! Nowcaster Ende.«

Marthas Stimme verlor ihr statisches Knistern und ertönte wieder unmittelbar an Alex' Ohr. »Kommst du mit, Kleiner?«

»Yeah.«

»Dort wird's aber haarig werden.«

»Okay. Okay. Okay.«

Der Ornithopter fiel vom Himmel und senkte sich langsam herab. Die Wolkenwand über ihnen war erheblich dicker geworden, wenngleich sie sich nicht rascher zu bewegen schien. Der Thopter legte sich auf die Seite, und auf einmal bemerkte Alex unten am Boden ein unangenehmes Staubwölkchen. Die Staubwolke schien nicht sonderlich schnell zu rotieren. Statt dessen spuckte sie. Sie riß unbeholfen dünne, trockene Brocken ockerfarbener Erde hoch und versuchte sie beiseitezuschleudern.

Martha überflog die Staubwolke und umkreiste sie. Alex hatte noch nie erlebt, daß Staub sich so seltsam und hektisch verhalten hatte. Der Staub bemühte sich verzweifelt, zu fallen, sich loszureißen oder auf irgendeine andere Art zur natürlichen Unbewegtheit von Dreck zurückzukehren, schaffte es aber einfach nicht. Statt dessen sackten ganze rauchgraue Klumpen von dem Zeug plötzlich in sich zusammen und verschwanden von der Bildfläche, als würden sie inhaliert.

Dann begann mitten in dem trockenen, umherschwirrenden Dreck Wasserdampf zu kondensieren, und zum ersten Mal wurde Alex sich der wahren Gestalt und der erschreckenden Geschwindigkeit des Wirbelsturms bewußt. Die Luft wurde durch die schiere Wucht des Aufpralls sozusagen sichtbar.

Der junge Tornado hatte eine eigenartige Bernstein- oder Ockerfärbung, wie ein Schwall Bühnenqualm eines Magiers aus einem rückwärts laufenden alten Kinofilm. Irgendein seltsamer Phasenübergang, düster, langsam und geheimnisvoll, erfaßte das Gebilde von unten nach oben. Durchscheinende Bänder bernsteinfarbenen Dampfs und ockerfarbener Dreck wirbelten langsam die Spindel empor, als Silhouette gegen Himmel und Erde sichtbar. Am Boden war er sehr schmal, dann wurde er allmählich breiter und dicker…

Martha stieß in einer komplizierten, schrägen Acht neben dem Tornado tief hinunter und gewann ganz unvermittelt eine Menge Höhe. Alex zuckte überrascht zusammen. Dann erblickte er unmittelbar vor sich die Spitze des Wirbelsturms - die rotierende Wolkenwand streckte langsam dicke Dampfwurzeln zum Erdboden aus.

Der Thopter sackte ab, pendelte sich wieder ein und schlug einen Bogen. Das Zentrum des Wirbelsturms wirkte trügerisch leer; ein Kern aus reinem Nichts, mit einer riesigen schwarzen Wand, die von oben darauf herunterschmolz, und ein Flaschenhals gequälten, emporsteigenden Staubs. Doch dann bewegte sich der Wandtrichter sehr plötzlich nach unten, in vier dicken, schwirrenden, voneinander deutlich abgetrennten Rinnsalen tiefschwarzer Oktopustinte, und er packte den kleinen Staubwirbel und fraß ihn auf, und es ertönte ein schreckliches Geräusch.

Alex hatte gar nicht gemerkt, wie das Heulen des Wirbelsturms angeschwollen war. Doch nun, da der Tornado seine düstere Wildheit voll entfaltet hatte, ging ein groteskes Dröhnen davon aus, das die Erde erzittern ließ. Selbst über die beschränkten Mikrofone des Ornithopters machte es den Eindruck eines starken, komplizierten Geräuschs, ein Knirschen, Knattern und Schleifen, vor dem Hintergrund des furchtbaren Baßtons einer Kirchenorgel, ein Geräusch, das in den Ohren weh tat, mechanisch und organisch und orchestral zugleich.

Der Trichter setzte sich in Bewegung. Er wurde ständig dicker, rotierte immer schneller und wälzte sich unberechenbar über den Boden. Dort vermochte er keinen großen Schaden anzurichten, denn da gab es nichts als Gras und Büsche. Jeder Busch, den er berührte, verschwand entweder oder wurde zerfetzt, doch dem Gras schien der Tornado nicht viel anzuhaben. Er zerrte flüchtig daran und überstäubte es mit Dreck, doch er bohrte sich nicht durch die Narbe. Er brüllte bloß, kreischte und summte vor sich hin, auf eine meditative, vollkommen dämonische Weise, und wühlte mit der schmalen Spitze mutwillig im Gras, wie ein umherwanderndes Mastodont auf der Suche nach Erdnüssen.

Martha umkreiste das Gebilde in respektvoller Entfernung gegen den Uhrzeigersinn. Bei einer Umdrehung erhaschte Alex einen Blick auf das Verfolgungsfahrzeug Alpha, das reglos hinter dem Tornado stand, erschreckend nah und erschreckend winzig. Erst als Alex den kleinen Jagdwagen der Truppe sah, wurde ihm das Ausmaß dessen bewußt, was er da vor sich hatte: der Fuß des Tornados hatte mittlerweile den Durchmesser eines Parkplatzes.

Als der Tornado volle Größe und Geschwindigkeit erreicht hatte, wurde er munterer. Er marschierte zuversichtlich den flachen Hang eines Hügels empor, auf eine energische, flotte Art, hoch aufgerichtet und mit gereckten Schultern. Dann marschierte er den Hügel auf der anderen Seite hinunter und streckte seinen rotierenden Fuß durch die verrosteten Überreste eines Stacheldrahtzauns. Ein Dutzend verrotteter Zedernpfosten wurde auf der Stelle in Bodenhöhe säuberlich abgeknipst und mit einem letzten Frohlocken verhedderten rostigen Drahtes dreißig Meter hoch in die Luft gerissen.

Der Zaun fiel als Drahtknäuel wieder auf die Erde. Als der Tornado die Straße überquerte, wirbelte er eine Staubbö auf.

Um Alex herum wurde es ganz still und dunkel. Zunächst meinte er, Marthas Drohne sei zerschmettert worden und er habe den Kontakt zu ihr verloren; doch dann fiel ihm ein, daß der VR-Schirm von Natur aus blau und nicht schwarz war. Vor sich sah er Schwärze: schwarze Luft. Und er hörte über Funk Bussard atmen.

»Das wirst du dir bestimmt nicht entgehen lassen wollen«, sagte Bussard. »So was mache ich nicht alle Tage. Ich werde den Kern anbohren.«

»Wo sind wir?«

»Wir sind auf Jesse und befinden uns unmittelbar über der Spitze. Wir sind in der Wolkenwand.«

»Wir können hier nicht rumfliegen«, sagte Alex. »Hier ist es ja stockfinster!«

»Klar, Mann. Aber Greg und Carol haben ihre Anlage eingeschaltet, und der Radarbus ist online. Ich habe gerade neunundsiebzig Bits - Shit! Ich meine Chips - in das Ding runtergeschickt! Jerrys Monitore qualmen schon! Wir werden den Kern anbohren, Mann! Wir gehen geradewegs in diesen Trichter runter, live, in Echtzeit, nur nach Instrumenten! Fertig?«

Alex' Herzschlag wechselte zu einer schnelleren Gangart. »Yeah! Mach schon!«

»In den Kern dringt auch kein Licht. Im Innern des Tornados ist es nahezu stockdunkel. Aber Jesse ist für Nachtsicht ausgerüstet - mit Rotlicht und Infrarot. Keine Ahnung, was wir geboten kriegen werden, aber irgend etwas werden wir sehen.«

»Quatsch nicht, schieß los!« Alex drückte sich mit der flachen Hand die Brille auf die Augen.

Ein in der Lautstärke begrenztes Brüllen hüllte ihn ein. Fahles rotes Licht erstrahlte vor seinen Augäpfeln. Er sauste den verengten, rotierenden Schlund des Monsters hinunter. Der Thopter erbebte heftig, ein Dutzend Mal pro Sekunde. Im Innern des Tornados war die Windgeschwindigkeit so hoch, daß sie eine eigentümlich unwirkliche Qualität bekam, wie die Erdrotation.

Die Hölle besaß eine Struktur. Sie besaß eine Textur. Die rotierenden Innenwände waren ein verschwommenes, strähniges Gas, ein flüssiger, sich kräuselnder Glanz und ein harter, schwarzer, flatternder Festkörper, alles zugleich. Gewaltige, bauchig hervortretende Wellen und peristaltische Zuckungen krochen im Innern des Trichters empor, langsam und würdevoll, wie gewaltige schwarze Rauchringe aus dem Schlund eines gedankenverlorenen Riesen.

Der Thopter ruckte einmal, dann noch einmal heftiger, schließlich geriet er außer Kontrolle und stieß gegen die Wand. Auf einmal wurde es vollkommen still.

Das Bild erstarrte, dann löste es sich vor Alex' Augen in ein farbiges Muster aus blockartigen, nachleuchtenden Mustern auf.

Dann setzte sich das Bild wieder zusammen und schaltete ruckartig auf Echtzeitwiedergabe um. Sie befanden sich außerhalb des Tornados, in freiem Flug, und torkelten mit der Eleganz eines fliegenden Ziegelsteins durch die Luft.

Der Thopter breitete die Flügel aus und legte sich schräg auf die Seite. Bussard platzte laut in die plötzliche Stille: »Wir haben gerade beide Mikros verloren«, sagte er. »Druckabfall!«

Alex starrte auf die Bildschirme vor seinen Augen. Irgend etwas stimmte nicht mit der Wiedergabe. Er merkte, daß seine Augen nicht mehr mitmachen wollten und daß sich hinter dem Nasenrücken ein Kopfschmerz aufbaute. »Was ist los?« krächzte er.

»Ein kleines Anpassungsproblem«, räumte Bussard widerwillig ein. »Aber gar nicht so schlecht für einen glatten Durchflug.«

»Ich kann mir das nicht ansehen«, wurde Alex klar. »Ich seh das Bild doppelt, das tut mir in den Augen weh.«

»Mach ein Auge zu.«

»Nein, ich halt das nicht mehr aus!« Alex riß sich die Brille herunter.

Die Veranda lag wieder in vollem Sonnenschein. Der Gewitteramboß war nach Nordwesten weitergewandert und hatte dünne, hohe Zirruswolken in seinem Kielwasser zurückgelassen, wie die Schleimspur einer Schnecke.

Alex stand auf, ging vorbei an Bussards und Marthas reglosen Beinen und blickte nach Norden. Die ganze Schlechtwetterfront wich rasch zurück und raste auf Oklahoma zu. Alex vermochte den Tornado, dessen Inneres er in Augenschein genommen hatte, nicht einmal mehr auszumachen. Entweder wurde ihm von den nähergelegenen Wolkentürmen die Sicht darauf versperrt, oder der Tornado befand sich bereits jenseits des Horizonts.

Hinter der Gewitterfront war die Luft kühl, blau und lieblich. Der Himmel wirkte mild und klar und voller sanfter Naivität, als wäre an den Tornados jemand anders schuld.

Alex trat wieder unter die Veranda, nahm ein antiseptisches Tuch und wischte sich den Dreck von Gesicht und Hals. Seine Brust, sein Hals und seine Arme waren gerötet von winzigen, verkrusteten Schnitten und den peitschenden Schlägen des Windes, als hätte er versucht, eine Katze in seinen Papieranzug zu stopfen.

Vom Staub und dem hinter der Brille angesammelten Schweiß taten ihm die Augen weh. Er war müde und benommen und sehr durstig, und im Mund hatte er einen metallischen Geschmack.

Jedenfalls blutete er nicht. Die Kratzer waren nichts Ernstes. Das Atmen fiel ihm wunderbar leicht. Und er hatte sich prächtig amüsiert.

Er setzte sich wieder hin und legte die VR-Montur an.

Martha umkreiste unter Mühen den Tornado. Das Rückgrat des Tornados hatte sich seitlich geneigt; oben war er fest in der sich bewegenden Wolkenbasis verankert, doch die Spitze schleppte hartnäckig über den Boden nach. Die erzwungene Streckung behagte ihm offenbar nicht. Die Spitze im Innern der Korona aus umherfliegendem Dreck war arg geknickt, und der schwankende Mittelteil schleuderte verdrießlich lange Schmutzfahnen aus sich heraus.

»Du mußtest unbedingt den beschissenen Kern anbohren, stimmt's?« fragte Martha.

»Yeah!« sagte Bussard. »Ich hab mich fast vier Sekunden lang im Schlund halten können!«

»Du hast beide Mikros geschafft und Jesses Aufnahmeoptik ruiniert, Mann.«

»Yeah«, antwortete Bussard gequält, »aber es ist kein Müll in dem Zacken. Ein bißchen Staub, ein bißchen Gras, sonst war er sauber!«

»Du hast die blöde Macho-Tour bloß deshalb abgezogen, weil du mit den Düppeln hinterherhängst!«

»Mach mich bloß nicht an, Madronich«, meinte Bussard warnend. »Ich hab den Kern angebohrt, und der Thopter fliegt immer noch, okay? Ich verlang ja nicht von dir, daß du jetzt Jesse fliegst. Du kannst dir den Mund zerreißen, wenn du einen Kern anbohrst und heil wieder rauskommst.«

»Scheißdreck«, murmelte Martha.

Mit dem Boden vor dem Tornado war etwas sehr Seltsames passiert. Ein großer Flecken war schneeweiß und dampfte merklich. Das Gebiet wirkte vulkanisch. »Was, zum Teufel, ist das denn?« fragte Alex.

»Das ist Hagel«, antwortete Martha.

»Hagel, über dem sich Bodennebel bildet«, erklärte Bussard. »Seht nur, wie dieses Baby das Zeug aufsaugt!«

Beim Näherkommen des Tornados wölbten sich Fahnen von Eisnebel empor, krümmten sich und wurden von einer plötzlich sichtbar gewordenen Bodenströmung gepackt. Der Tornado stürmte Hals über Kopf durch die Schwaden und saugte von allen Seiten eiskalte Luftströmungen in sich ein, eine riesige, ausgefranste Rosette aus gequältem Nebel.

Das Hagelmuster am Boden hatte einen Durchmesser von ein paar Dutzend Metern. Nach einer halben Minute hatte es der Tornado entfernt. Bis zu den Knien durch die eiskalte Luft zu waten, hatte ihn jedoch sichtlich gereizt. Das Dreckspucken in Bodenhöhe ließ drastisch nach. Dann erschauerte er von oben nach unten. Die trockenen Schmutzbänder auf halber Höhe wurden schmaler und verdunkelten sich. Als die Luft klarer wurde, zeigten sich im Innern des Schlauchs auf einmal zwei dichte Dreckrinnsale, die an ein Paar stolpernder, wirbelnder Beine erinnerten.

»Siehst du das, Mann?« rief Martha triumphierend. »Saugflecken!«

Der Thopter senkte plötzlich die Nase und wurde beinahe in den Wirbel hineingeweht. Martha legte ihn japsend auf die Seite und stabilisierte ihn wieder.

»Paß auf«, meinte Bussard ruhig. »Der hat die Abwärtsströmung richtig fest am Wickel.«

Der Tornado wurde langsamer und zögerte. In Bodenhöhe verlängerte sich die überdehnte Spitze, knickte scharf um und brach widerwillig ab. Die abgetrennte Spitze des Wirbelsturms verschwand in einer kollabierenden Wolke freigesetzten Staubes.

Der mitten in der Luft gestrandete amputierte Tornado machte einen gewaltigen Satz nach vorn und setzte sich wieder mitten unter die Wolke. Dann versuchte er wieder Bodenkontakt zu bekommen, er streckte sich und kratzte über den Boden, verlor jedoch merklich an Kraft.

Die beiden umeinander rotierenden Saugflecken gerieten ins Stolpern und prallten gegeneinander. Das größere Bein verschlang das kleinere. Daraufhin lebte der Tornado wieder auf, er reckte sich, berührte den Boden, und ein Dreckstrom schoß den Schaft empor. Mittlerweile war der Trichter jedoch erheblich dünner geworden und peitschte nervös und hektisch.

»Er fasert aus«, sagte Martha. »Ich mag diese Phase. Dann werden sie wirklich unberechenbar.«

Der Tornado hatte seinen Charakter verändert. Eben noch war er ein Keil gewesen, ein riesiger, stumpfnasiger Bohrer. Jetzt sah er aus wie ein schlapper Korkenzieher aus Schnur und Rauch.

Große, abgeflachte, rotierende Brocken sausten den Korkenzieher hinauf und hinunter, große, schmutzige Zwiebeln aus eingesperrter Drehkraft, die ihn beinahe erstickten.

Alle paar Sekunden wurde einer der eingesperrten Klumpen auf spektakuläre Weise ausgespien, zusammen mit großen Schmutzbändern, die zur Wolkenbasis hochzuklettern versuchten. Manchmal schafften sie es. Häufiger jedoch krümmten sie sich zusammen, schwammen zuckend in die Luft hinaus und verflüchtigten sich.

Der eingeschnürte Tornado wurde noch schmaler, an manchen Stellen so dünn, daß er aussah wie eine große, kollabierende Windhose. Die klare Luft drum herum befand sich noch immer in heftiger Bewegung, war jedoch nicht mehr so turbulent, daß man es hätte sehen können. Die Luftströmungen schienen an Zusammenhalt zu verlieren.

Der langgezogene Tornado zog sich schließlich zu einer unordentlichen, gewundenen Helix zusammen - als versuchte er, mit einem größeren, unsichtbaren Wirbelsturm zu verschmelzen, sich um einen größeren Kern zu wickeln und sein wildes, kleines Leben im Austausch für ein größeres Wüten aufzugeben.

Doch er schaffte es nicht. Anschließend verzagte er. Er verlor all seine Kraft, Wellen der Auflösung liefen den Schaft hinauf und hinunter, der sprichwörtliche letzte Seufzer.

Martha tastete systematisch die Wolkenbasis ab. Die rotierende Wolkenwand war auseinandergebrochen. Unmittelbar dahinter zeigte sich eine große, klare Aussparung, ein Fallstrom, in dem kalte Luft aus dem Bereich der Stratosphäre herunterstürzte, sich durch die Quelle des Wirbels nagte und dessen Rotation unterbrach. Der Wirbelsturm war tot, er existierte nicht mehr.

Ein heller, schmutziger Regenvorhang tauchte auf, heraufbeschworen und eingesogen von den Todeszuckungen des Tornados.

Martha kam unter der Wolkenbasis hervor in den hellen Sonnenschein herausgeflogen. »Siebzehn Minuten«, sagte sie. »Ziemlich gut für einen F-2.«

»Das war ein ausgewachsener F-3«, widersprach Bussard.

»Um was wetten wir? Warte nur, bis Jerry die Meßergebnisse der Düppel ausgewertet hat.«

»Okay, F-2«, lenkte Bussard ein. »Für einen großen ist es noch ein bißchen früh am Tag. Wie sieht's mit Lenas Batterie aus?«

»Nicht gut. Laß uns runtergehen, die Thopter aufladen, die

Zelte abbrechen und dann machen, daß wir der Trockenlinie hinterherkommen.«

»Gute Idee«, meinte Bussard. »Okay, du und der Pillenfreak, ihr brecht das Lager ab, und ich lande die Thopter.«

»Wie du willst«, sagte Martha.

Alex nahm Brille und Kopfhörer ab. Er schaute zu, wie Martha sich sorgfältig ihrer VR-Ausrüstung entledigte. Sie erhob sich vom Liegestuhl, streckte sich, grinste, schüttelte sich und schaute ihn an. Sie riß die Augen auf.

»Verdammt noch mal! Haben dich etwa die Sturmböen erwischt?«

»Ein wenig.«

»Du bist wirklich unbezahlbar«, meinte Martha lachend. »Also, hoch mit dir! Wir müssen weiter.«

»Warte mal«, sagte Alex. »Du meinst doch nicht etwa, nach dem hier gibt es noch einen?«

»Kann schon sein«, sagte Martha und packte energisch ihre Ausrüstung weg. »Du hattest ganz schön Glück, dafür, daß das deine erste Jagd war. Jerry ist ein guter Nowcaster, der beste, den es gibt, aber er trifft nur bei jeder zweiten Jagd ins Schwarze. Okay, in letzter Zeit vielleicht in drei von fünf Fällen… Aber« - Martha reckte sich und schwenkte die Hand mit den schwarzlackierten Nägeln, als schwänge sie ein Lasso - »bei dieser mittelhohen Wirbelbildung? Mann, bei so einer Front können wir leicht ein halbes Dutzend Zacken zur Strecke bringen.«

»Oh, Mann«, sagte Alex.

»Wir müssen los. Diese Frühlingsgewitter zischen immer ab, was das Zeug hält, die kommen mühelos auf fünfzig Stundenkilometer… Wir können von Glück sagen, wenn wir bis Mitternacht noch nicht in Anadarko gelandet sind.« Sie blickte auf den reglos daliegenden Bussard hinunter und mußte sich offenbar zusammenreißen, um ihn nicht mit einem Tritt aus dem Liegestuhl zu befördern.

»Bis Mitternacht?« fragte Alex.

»Shit, ja! Etwa zwei Stunden nach Sonnenuntergang wirkt die nächtliche Konvektionsströmung erst so richtig belebend.« Martha grinste. »Mann, solange du nicht im Dunkeln Zacken gejagt hast, weißt du nicht, was Sache ist.«

»Gönnt ihr euch eigentlich niemals Ruhe?« fragte Alex.

»Mann, wir haben den ganzen gottverdammten Winter lang Ruhe. Jetzt ist die Unwettersaison.«

Alex ließ sich das durch den Kopf gehen. »Habt ihr zufällig Salztabletten dabei?«