SIEBTES KAPITEL

 

Sechs Wochen lang hatte ein unerschütterliches, gehässiges Hoch über Colorado gelegen. Es schien dort verankert zu sein. Das Hoch hatte sich nicht von der Stelle gerührt, aber stetig ausgedehnt. Eine gewaltige Kuppel trockener, überhitzter Luft hatte sich von Colorado bis in den Nordosten Mexikos und nach Oklahoma und Texas hinein ausgebreitet. Darunter herrschte bittere Dürre.

Jane mochte Oklahoma eigentlich recht gern. Die Straßen waren im allgemeinen in einem besseren Zustand als in Texas, dafür war der Staat dichter besiedelt. Die öffentliche Ordnung war gut, die Menschen waren freundlich, und selbst außerhalb der riesigen Metropole von Oklahoma City gab es intakte Städtchen, wo man immer noch ein ordentliches Frühstück und eine gute Tasse Kaffee bekam. Der Himmel war ein wenig blauer in Oklahoma, und die wildwachsenden Blumen zeigten eine sanftere Farbpalette als die grellen Gewächse des texanischen Frühlings. Der Boden war fruchtbarer und hatte eine tiefere, rostrote Farbe, und ein großer Teil davon wurde landwirtschaftlich genutzt. Die Sonne stieg niemals so mörderisch hoch in den Zenit empor, und es regnete häufiger.

Doch im Moment gab es keinen Regen. Nicht unter dem langsam anschwellenden kontinentalen Monster. Mächtige Sturmfronten waren über Missouri, Iowa, Kansas und Illinois hinweggefegt, aber das Hoch am Fuße der Rocky Mountains hatte sich von einer bloßen Tatsache erst in ein Ärgernis und dann in eine örtliche Plage verwandelt.

Das Klimaanalysezentrum von SESAME übertrug gern eine graphische Standardkarte, ›Abweichung der Durchschnittstemperatur vom Normalwert in Grad Celsius‹, ein meteorologisches Dokument, das SESAME von irgendeiner präcybernetischen Regierungsstelle geerbt hatte. Das Format der Karte war lächerlich antiquiert, sowohl wegen der altmodischen Hervorhebung der Celsiuseinteilung (die alte Fahrenheitskala war schon seit vielen Jahren nicht mehr gebräuchlich), als auch aufgrund der wehmütigen Behauptung, beim amerikanischen Wetter gäbe es noch eine Art von ›Normalität‹. Die unterschiedlichen Temperaturen waren farblich scharf voneinander abgegrenzt, entsprechend der engen ästhetischen Grenzen der frühen Computergrafik, aber um der archivarischen Kontinuität willen war die Karte nie überarbeitet worden. In ihrer Zeit bei der Truppe hatte Jane Dutzende dieser Durchschnittstemperaturkarten gesehen, so viele auffällige, pinkfarbene Hitzegebiete jedoch noch nie.

Es war erst Juni, und unter diesen pinken Hitzeflecken starben bereits die Menschen. Sie starben nicht in großer Zahl; so schlimm war es noch nicht, daß die staatlichen Stellen bereits vergitterte Evakuierungslaster losgeschickt hätten. Um diese Jahreszeit kam es häufig zu ungewöhnlichen Hitzewellen, ohne daß die Hitze tatsächlich tödlich gewesen wäre. Es war jedoch die Art Hitze, die den Stress um mehrere Grad nach oben trieb. Daher fielen die Herzschrittmacher der Alten aus, abends wurde geschossen, und in der Mall gab es eine Schlägerei.

Die Temperaturkarte löste sich auf Charlies Bildschirm auf und machte einer neuen, gesprenkelten Abbildung Platz. SESAMEs Boden-Lidars.

»So was seh ich zum erstenmal«, bemerkte Jerry auf Charlies Beifahrersitz. »Guck dir bloß mal an, wie das Wetter ein gutes Stück vom Rand des Hochs entfernt umschlägt. Das ist höchst ungewöhnlich.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie irgend etwas passieren sollte, ehe diese Luftmasse in Bewegung kommt«, sagte Jane. »Das halte ich für ausgeschlossen.«

»Das Zentrum rührt sich ums Verrecken nicht, aber entlang der sekundären Trockenlinie wird's trotzdem heute noch losgehen«, meinte Jerry. »Wir werden erleben, wie sich ein paar F-2 und F-3 abspalten, und das« - er wählte seine Worte mit Bedacht - »wird bloß ein unbedeutendes Ereignis sein.«

Jane blickte zum nördlichen Horizont; die Unwetterlinie dort war ihr Ziel. Hinter einer Reihe verdorrter OklahomaPappeln ragten Wolkenungetüme in den Himmel - teilweise flach wie Papier oder halb konkav, nach Feuchtigkeit lechzend. Sie wirkten nicht bedrohlich, aber sie wirkten auch nicht unbedeutend; sie wirkten verkrampft. »Na ja«, sagte sie, »vielleicht kriegen wir ihn ja doch noch zu sehen. Vielleicht fängt ja so alles an.«

»Der F-6 müßte sich eigentlich anders bilden. Die Bedingungen der Mesosphäre sind völlig falsch, und der Jetstream hängt im Norden fest, als wäre er dort festgenagelt.«

»Aber dort sollte der F-6 entstehen. Und der Zeitpunkt stimmt auch. Was soll es denn sonst sein?«

Jerry schüttelte den Kopf. »Frag mich, wenn's losgeht.«

Jane seufzte, stopfte sich eine Handvoll Regierungsmüsli in den Mund und zog die gestiefelten Beine auf den Fahrersitz. »Mir will einfach nicht in den Kopf, warum du die Wetterberichterstattung aufgegeben hast und mit mir rausfährst, um ein paar Zacken festzunageln, und jetzt erzählst du mir, es handele sich um ein unbedeutendes Ereignis.«

Jerry lachte. »Zacken. Das ist wie beim Sex. Bloß weil man einmal damit zu Potte gekommen ist, heißt das nicht, daß man beim nächsten Mal kein Interesse mehr dran hat.«

»Es tut gut, dich bei mir zu haben.« Sie legte eine Pause ein. »In Anbetracht der Umstände warst du in letzter Zeit richtig nett zu mir.«

»Schatz«, sagte er, »du warst zwei Monate im Camp, bis meine Willenskraft erlahmt ist, weißt du noch? Wenn wir nicht miteinander schlafen können, dann tun wir's halt nicht. Ganz einfach.« Er zögerte. »Es ist beschissen, das stimmt, aber so einfach ist das.«

Jane wußte es besser, als daß sie ihm seine männliche Prahlerei so einfach abgekauft hätte. Nicht alles stand im Camp zum Besten. Da waren ihre Infektion, die Trockenheit. Die Nerven, die Rastlosigkeit. Fehlgeschlagene Verbindungen.

Was Jane an der Sturmjagd am meisten mochte, das war die befreiende Art und Weise, wie die gewaltigen Stürme alles, was in ihrem Privatleben nicht stimmte, zerschmetterten und bedeutungslos werden ließen. Man konnte angesichts eines Monstertornados nicht seine eigene Angst ausschwitzen; das war dumm und vulgär und völlig daneben, etwa so, als wollte man den Grand Canyon zu seinem Spucknapf machen.

Sie liebte Jerry; sie liebte ihn als Mensch, von ganzem Herzen, und bestimmt hätte sie ihn ebensosehr geliebt, wenn er ihr keine Tornados geschenkt hätte. Sie hätte Jerry selbst dann geliebt, wenn er beispielsweise ein durchschnittlicher, überhaupt nicht exotischer, blasser Ökonom gewesen wäre. Jerry war geschickt, vielseitig gebildet, engagiert und, wenn man sich erst einmal an ihn gewöhnt hatte, auch recht attraktiv.

Manchmal war Jerry sogar komisch. Bisweilen glaubte sie, daß sie auch unter anderen Umständen seine Geliebte oder sogar seine Frau geworden wäre.

Dann wäre es wohl eher so gewesen wie in ihren früheren Beziehungen; die mit dem Zerdeppern von Vasen und den Schreikrämpfen und der absoluten, pechschwarzen Verzweiflung, drei Uhr Morgens auf dem Rücksitz einer Limousine.

Jerry brachte sie dazu, verrückte Dinge zu tun. Jerrys Verrücktheiten hatten ihr jedoch stets gut getan und sie stärker gemacht, und in Jerrys Gegenwart hatte sie zum erstenmal in ihrem Leben nicht das deprimierende Gefühl, ihr eigener größter Feind zu sein. Sie war immer zu hochgespannt und zu aufgedreht gewesen und hatte den Teufel im Leib gehabt; im Rückblick sah sie das jetzt ganz deutlich. Jerry war der erste und einzige Mann in ihrem Leben, der ihren Teufel wirklich zu würdigen gewußt hatte, der ihren Teufel akzeptiert und lieb zu ihm gewesen war, der ihrem Teufel teuflisch-fiese Dinge zu tun gegeben hatte. Ihr Teufel war nicht mehr unbeschäftigt. Ihr Teufel arbeitete die ganze Zeit über unter Volldampf.

Daher ging es ihr und ihrem Teufel jetzt richtig gut.

Es war so, als ob die verrückten Dinge, die sie tat, und die Risiken, die sie einging, sie von jeglicher Verpflichtung, tatsächlich verrückt zu werden, befreit hätten. Es mochte reichlich schwülstig klingen, aber es war wirklich wahr: Jerry hatte eine freie Frau aus ihr gemacht. Die meiste Zeit über war sie verdreckt, fühlte sich zerschlagen und stank, aber sie war frei und verliebt. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie sich heftig und vergeblich bemüht, sich zu mäßigen und vernünftig, gut und glücklich zu sein; und dann hatte sie Jerry Mulcahey kennengelernt und hatte den Kampf aufgegeben. Und als sich der ganze alte Stacheldrahtverhau in ihrem Innern plötzlich gelockert hatte, hatte sie erstaunliche Reservoirs an Anstand und gutem Willen in sich entdeckt. Sie war nicht einmal halb so schlecht, wie sie immer geglaubt hatte. Sie war nicht verrückt, sie war nicht böse, sie war nicht einmal sonderlich gefährlich. Sie war eine reife, erwachsene Frau, die keine Angst vor sich hatte, und sie konnte anderen Menschen sogar eine wahre Stütze sein. Sie konnte anderen Menschen etwas geben und sich für sie aufopfern, sie konnte lieben und geliebt werden, ohne Angst und ohne schnöde Berechnung. Und all dies war ihr bewußt, und sie war dankbar dafür.

Es war ihr bloß zuwider, darüber zu reden.

Jerry ging es genauso. Jerry Mulcahey war anders als andere Männer. Nicht, daß das sein besonderes Verdienst gewesen wäre; Jerry war einfach anders als die meisten Menschen. Jane war eine intelligente Person, und sie wußte, was es hieß, intelligenter als andere Menschen zu sein; so intelligent, daß man sich manchmal deswegen unbeliebt machte. Sie wußte aber auch, daß sie nicht so intelligent wie Jerry war. Auf manchen Gebieten war Jerry so intelligent wie ein Wesen von einem anderen Stern. Andere große Bereiche seiner geistigen Aktivität waren wiederum so leer und heiß und leuchtend wie bei jemandem, der unter Drogen stand.

Jane besaß keine große mathematische Begabung; wenn es um Mathematik ging, mußte sie auf dem Bauch kriechen, wie im Schlamm. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihr klargeworden war, daß dieser seltsame Mann im westtexanischen Ödland mit seiner zusammengewürfelten Exzentrikertruppe in Wirklichkeit einer der begabtesten Mathematiker der Welt war.

Jerrys Eltern hatten als Computerwissenschaftler in Los Alamos gearbeitet. Beide waren in ihrem Beruf gut gewesen; ihr Sohn Jerry hatte sich bereits im Alter von zwölf Jahren mit haarspalterischer Magnetohydrodynamik beschäftigt. Jerry war ein Pionier auf den Gebieten der multidimensionalen Mannigfaltigkeiten minimaler Oberfläche und der invarianten Polynome höherer Ordnung gewesen - alles Dinge, die einem schon beim bloßen Hinschauen den Kopf sprengten. Jerry war so gut in Mathe, daß es anderen Leuten Angst machte. Seine Kollegen konnten sich nicht entscheiden, ob sie ihn wegen seiner Begabung beneiden oder es ihm übelnehmen sollten, daß er nicht häufiger publizierte. Hin und wieder setzte Jane irgendein Netzidiot wegen Jerrys ›beruflicher Qualifikationen zu, worauf sie dem Skeptiker per Email die Schrift zusandte, mit der Jerry 2023 die Mulcahey-Mutmaßung bewiesen hatte, und dann versuchte der Skeptiker sie zu lesen, und es sprengte ihm den Schädel, und er verschwand still und leise in der Versenkung und ward nie wieder gesehen.

Es sei denn, er gehörte zu den Möchtergernmathematikern. Die Truppe zog alle möglichen Möchtegerntypen an, und meistens waren sie ziemlich bekloppt, doch hin und wieder kreuzte ein schüchterner, schlaksiger Typ im Camp auf, der sich einen Scheißdreck aus Tornados machte und der Jerry dazu bewegen wollte, das alles zu vergessen und lieber zu beweisen, wie viele Seifenblasen im Hyperraum in einem kollabierenden Torus Platz hatten. Zu diesen Leuten war Jerry jedesmal furchtbar freundlich.

Das Gewichtheben gehörte auch zu Jerrys Merkwürdigkeiten. Früher war er anders gewesen. Sie hatte Fotos von Jerry als Halbwüchsiger gesehen - seine Mutter hatte sie ihr geschickt -, auf denen Jerry rank und schlank gewesen war und ein wenig gebückt, wie alle großen Jungs, die sich ihrer Größe schämten. Viele Trooper beschäftigten sich mit Gewichtheben; auch Jane arbeitete mit Gewichten, genug, um stark zu werden, genug, um zu begreifen, worum es dabei eigentlich ging. Jerry hingegen beschäftigte sich damit, bloß weil es ihm Zeit sparte. Wie ein Kleiderschrank auszusehen, sparte ihm Zeit und Mühe, weil er so kurz aus dem Abgrund seiner Zerstreutheit auftauchen und jemanden anfahren konnte, worauf dieser Jemand alles fallenließ und sich beeilte, seine Anweisungen auszuführen. Weil er schiere physische Autorität ausstrahlte, brauchte Jerry sich keine Zeit für lange Erklärungen zu nehmen. Außerdem konnte er sich mit den Gewichten beschäftigen, wenn er ernsthaft nachdachte, und Jerry dachte täglich etwa fünf Stunden lang intensiv nach. Die Tatsache, daß er dabei dreißig Kilo Stahl an den Beinen mit sich herumschleppte, schien ihn nicht weiter zu beeindrucken.

Es stand außer Frage, daß die Beziehungen zu anderen Menschen Jerrys großes Problem darstellten. Jerry hatte wirklich hart daran gearbeitet, mit soviel gewissenhafter Geduld und Hingabe und unter so schweren Leiden, daß ihm ihr Herz nur so entgegenflog, wenn sie daran dachte.

Jerry fühlte sich nicht leicht in andere Menschen ein, weil er halt anders als sie war. Aber er konnte andere Menschen formen. Er vermochte ihre Persönlichkeitsstruktur abstrakt in sich aufzunehmen und sie als eine Art Simulation in seinem Kopf ablaufen zu lassen. Seine Beziehungen zu den anderen Troupern hatte er gestaltet wie ein Einarmiger, der Spielzeugkathedralen aus Zahnstochern baute.

Und wenn er sich alles zurechtgelegt hatte, dann setzte er sich mit einem zusammen und erklärte einem genau, was man in Wirklichkeit dachte, was einen im Innersten antrieb, wie man das bekommen konnte, was man wirklich wollte, und wie das ihm und auch den anderen ganz nebenbei helfen würde. All dies legte er mit einer so verblüffenden Klarheit und dermaßen detailliert dar, daß das eigene Selbstbild im Vergleich dazu zerbröselte. Jerry hatte das alles erfunden, aufgrund genauer Beobachtung und Spekulation, doch es war einem um soviel ähnlicher als man selbst, daß man den Eindruck hatte, es sei realer als die eigene Identität. Es war, als stünde man seinem idealen Selbst gegenüber, seiner wahren Natur, die stimmiger, vernünftiger, viel besser gemanagt war. Man brauchte bloß zuzulassen, daß einem die Schuppen von den Augen fielen, und danach zu greifen.

Jane hatte diesen Prozeß ein einziges Mal mitgemacht. Ein halbes Mal, um genau zu sein. Es war schwer, jemanden zu verführen, solange man in einem Papieroverall steckte. Wenn man den Reißverschluß bis zur Hüfte runterzog und sich spielerisch entblätterte, war das, als böte man einem Mann ein paar Kleiebrötchen aus einem Einkaufsbeutel an. Als er jedoch mit seinen Haarspaltereien anfing, war ihr klar gewesen, daß die einzige Möglichkeit, ihn davon abzubringen, darin bestand, ihn niederzuschlagen und sich rittlings auf ihn zu setzen.

Und es hatte hervorragend geklappt. Es hatte Jerry zur großen Genugtuung aller Beteiligten den Mund gestopft. Jetzt konnten sie und Jerry sich offen über alle möglichen Dinge unterhalten; über Spione, Interfaces, Werkzeug, das Camp, über Cops, Ranger, andere Trouper, sogar über Geld. Sie sprachen jedoch nicht über ihre Beziehung. Diese Beziehung hatte nicht einmal einen Namen. Die Beziehung hatte ihre eigene Gestalt und ihr eigenes Leben und bestand nicht aus Zahnstochern.

Aber jetzt hatte Jerry sich ihrem Wagen zugeteilt. Er tat niemals etwas ohne Grund. Früher oder später würde er die Katze aus dem Sack lassen. Der schmelzflüssige Kern ihrer Beziehung war abgekühlt, beide bedauerten sie das, und Jerry würde irgendeine rationale Analyse ausspucken. Sie hoffte das Beste.

»Zum erstenmal fängt die ganze Sache an, mir Angst zu machen«, sagte er.

Jane stellte die Müslitüte auf den Boden. »Was macht dir Angst, Schatz?«

»Ich glaube, das schlimme Szenario nimmt allmählich Gestalt an.«

»Was ist schlimm daran?«

»Ich habe dir noch gar nicht gesagt, was es bedeuten würde, wenn das zu einer dauerhaften Einrichtung würde.«

»Na schön«, meinte sie, sich innerlich wappnend. »Wenn dir das auf dem Herzen liegt, dann schieß los.«

»Der Wind ist längst noch nicht alles. Er könnte die Erdoberfläche bis aufs Muttergestein kahlfegen. Er könnte mehr Staub in die Troposphäre hochwirbeln als ein größerer Vulkanausbruch.«

»Oh«, sagte sie. »Du meinst den F-6.«

Er schenkte ihr den seltsamsten Blick, mit dem er sie je bedacht hatte. »Fühlst du dich gut, Janey?«

»Ja, klar. Ich fühle mich so gut, wie man sich mit einer Pilzinfektion nur fühlen kann. Tut mir leid, ich dachte, wir würden über ein anderes Thema sprechen. Was ist mit dem F-6, Liebster?«

»Ach, eigentlich gar nichts«, meinte Jerry, starr durch die Windschutzscheibe blickend. »Bloß, daß es im Umkreis von

Hunderten von Kilometern keine Überlebenden geben würde. Uns natürlich eingeschlossen. Das alles in den ersten paar Stunden. Anschließend - ein gewaltiger, permanenter Wirbel auf der Planetenoberfläche. Das könnte durchaus passieren! Es könnte tatsächlich so weit kommen.«

»Das weiß ich«, sagte Jane. »Aus irgendeinem Grund mache ich mir bloß keine großen Sorgen deswegen.«

»Vielleicht solltest du dir aber mehr Sorgen machen, Jane. Das könnte das Ende der Zivilisation bedeuten.«

»Mein Glaube daran ist einfach nicht stark genug, um mir Sorgen zu machen«, erwiderte sie. »Ich meine, ich glaube schon, daß dieses Jahr irgend etwas wirklich Schreckliches passieren wird, aber daß damit alles zu Ende sein soll, kann ich nicht glauben. Irgendwie will mir einfach nicht in den Kopf, daß sich die Zivilisation so leicht unterkriegen lassen würde. ›Das Ende der Zivilisation - was heißt hier Ende? Und überhaupt, welche Zivilisation eigentlich? Es gibt kein Ende. Wir sind viel zu tief darin verwickelt, als daß es ein Ende haben dürfte. Die Probleme, die wir haben, die dürfen einfach nicht aufhören.«

»Die Atmosphäre könnte sich mit Staub anreichern. Dann bräche ein nuklearer Winter an.« Er zögerte. »Ein stärkerer Temperaturabfall würde den Wirbel natürlich aushungern.«

»Das sag ich doch! Irgendwas ist es immer! Die Situation kann wirklich schrecklich werden, aber dann taucht irgend etwas so total Abwegiges auf, daß alles andere irrelevant wird. Es hat nie einen Atomkrieg und auch keinen nuklearen Winter gegeben. Es wird auch nie einen geben. Das war nichts weiter als ein billiger Trick, damit man fortfahren konnte, die Umwelt zu ruinieren, und jetzt müssen wir die Folgen ausbaden.«

Sie seufzte. »Weißt du, als Kind hab ich gesehen, wie der Himmel schwarz wurde - so schwarz wie ein Pik-As. Aber das war nur vorübergehend. Es war bloß eine große Staubglocke. Selbst wenn der F-6 wirklich furchtbar sein sollte, irgendwo wird irgend jemand überleben. Millionen Menschen, Milliarden vielleicht. Sie würden einfach mitsamt dem Chlorophyllzeug, den genmanipulierten Viechern und ein paar Supraleitern in ein Scheißsalzbergwerk hineinmarschieren, und solange sie ihre Virtual Reality und Kabelfernsehen haben, würden es die meisten nicht einmal bemerken!«

»Vor dem schweren Wetter haben viele so geredet«, entgegnete Jerry. »Das Ende der Welt war's nicht, aber gemerkt haben sie's schon. Falls sie lange genug überlebt haben.«

»Okay«, meinte Jane. »Wie du willst. Nehmen wir einfach mal an, der F-6 bedeute tatsächlich das Ende der Welt. Was gedenkst du dann zu unternehmen?«

Jerry schwieg.

»Hast du Lust, nach Costa Rica zu fliegen? Ich kenne da ein nettes kleines Hotel, da gibt's eisgekühlte Margaritas und 'ne warme Dusche.«

»Nein.«

»Du willst den F-6 knacken, koste es, was es wolle, hab ich recht? Natürlich willst du das. Und die gute, alte Janey wird an deiner Seite sein. Natürlich werd ich das. Ende der Geschichte.«

»Ich mag's nicht, wenn du so redest, Jane. Du bist kein Zyniker.«

Jane stutzte. Jerry ließ sich seine Verärgerung nur selten so deutlich anmerken. Sie senkte die Stimme. »Schatz, jetzt hör mir mal zu. Mach dir nicht soviel Sorgen um uns. In der Truppe weiß jeder, daß es sehr gefährlich ist. Du hast uns nichts vorgemacht, das ist nichts Neues für uns. Du kannst uns nicht schützen, das wissen wir. Wir sind alle erwachsen - na ja, fast alle -, und wir wissen, was wir tun.« Sie zuckte die Achseln. »Jedenfalls mehr oder weniger. Wir wissen erheblich besser Bescheid als die Regierungsbeamten von SESAME. Und erst recht als die armen Zivilisten.«

»Ich glaube, wir sollten zu dem Thema eine Versammlung abhalten und das allen klar und deutlich vor Augen führen.«

»Gut. Prima. Wenn du dich dann besser fühlst. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, wie es laufen wird. Niemand wird aufspringen und sagen: ›He, einen Moment mal, Jerry! Ein richtig großer Tornado? Nee, kommt nicht in Frage, tut mir leid, ich hab zuviel Angst, um da mitzumachen.‹ Das passiert in acht Millionen Jahren nicht!« Sie lachte. »Du könntest sie nicht mal mit der Peitsche daran hindern.«

»Der F-6 ist nicht bloß irgendein Zacken. Ich stelle ihn mir immer mehr vor wie… wie eine ganz andere Art von Sturm, wie etwas noch nie Dagewesenes. Wir werden mit etwas zu tun haben, das ich noch überhaupt nicht begreife. Die Trouper sind gute Leute. Sie vertrauen meinem Urteil, und deswegen könnten sie umkommen. Das wäre nicht richtig.«

»Jerry, wir Trouper sind wie Soldaten, wir brauchen keine besonderen Rechte. Außerdem würden wir auch ohne dich Zacken jagen. Wenn du meinst, ich täte dir damit einen Gefallen, dann irrst du dich. Der F-6 ist der große Knaller, der absolute Höhepunkt. Und den will ich haben.« Sie hob die Müslitüte hoch. »Ich kann April Logan bitten, hierherzukommen.«

»Deine Design-Professorin? Warum das?«

»April hat den akademischen Betrieb längst hinter sich gelassen, die ist jetzt eine megagroße Netzkritikerin! Die hat wirklich Einfluß! Sie ist meine beste Freundin im Netz. Wenn April Logan das Gerücht ausstreut, hier würde in nächster Zeit eine heiße Vorstellung stattfinden, könnten wir ein paar richtig große Postproduzenten herlocken. Leute, die unsere Daten übernehmen und sie einmal richtig aufbereiten. Dann bekämen wir ein größeres Publikum.«

»Mehr Geld, meinst du wohl.«

»Stimmt, Jerry. Geld. Haufenweise Geld.« Sie zuckte die Achseln. »Na ja, jedenfalls dessen Netzäquivalent. Aufmerksamkeit, Zugang. Ruhm. Ich könnte Geld draus machen. Leicht wär's nicht, aber möglich schon.«

»Ich verstehe.«

»Gut. Und hör auf, den edlen Ritter zu spielen, der die kleine Jane vor dem großen, bösen Sturm beschützen will.«

»In Ordnung«, sagte er. »Ist gut, Jane. Du hast deine Sache immer gut gemacht, und im Grunde habe ich auch nichts anderes von dir erwartet. Aber was wird nach dem Sturm?«

»Wie meinst du das?«

»Das ist die andere Möglichkeit, die mir Sorgen macht. Nehmen wir mal an, daß wir den F-6 überleben. Daß wir ihn richtig packen. Daß wir ihn festnageln und jede Menge Geld und Ruhm scheffeln und alles hinter uns lassen. Was machen wir dann? Was wird dann aus uns? Aus dir und mir?«

Es überraschte und erschreckte sie, Jerry so reden zu hören. »Also, da braucht sich gar nichts zu ändern, Schatz! Es ist doch nicht so, als ob ich noch nie Geld gehabt hätte! Ich kann mit Geld umgehen, das weißt du doch! Das ist kein Problem für uns! Wir machen erst mal Urlaub, wie jedesmal, wenn die Saison vorbei ist. Und wir rüsten unsere Hardware auf, diesmal richtig gründlich. Du kannst eine Veröffentlichung schreiben, und ich werd alle Hände voll im Netz zu tun haben… Dann warten wir auf die nächste Saison.«

»Es wird keine nächste F-6-Saison geben. Selbst wenn der CO2-Gehalt sinken sollte, bedeutet das nicht, daß sich das Wetter beruhigen wird. Während des Ausnahmezustands war der CO2-Gehalt der Luft niedriger als heute! Außerdem ist das CO2 bloß ein Aspekt des Klimaproblems. Dann ist da noch die Abholzung des tropischen Regenwaldes und die verzögerte Erwärmung der Meere.«

Jerry schwieg.

»Vergiß nicht die thermische Umweltverschmutzung der Städte. Und die Veränderungen der Meeresströmungen im Nordatlantik. Den Gletscherschwund in der Antarktis und die höheren Albedos in Afrika, die CKWs in der Ozonschicht, das permanente Problem des ENSO-Zyklus und die Schwankungen der Sonneneinstrahlung… Mein Gott, ich krieg nicht mal alles zusammen. Jerry, das Wetter wird sich nie und nimmer beruhigen und normalisieren. Jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten. Wahrscheinlich in dreihundert Jahren nicht. Wir werden so viele Zacken haben, wie wir uns nur wünschen! Wir beide, wir sind Katastrophenexperten mit einem unerschöpflichen Vorrat an Katastrophen! Und wenn du den F-6 festnagelst, während die Regierungsbeamten auf ihrem Arsch hocken und meinen, einen F-6 könne es gar nicht geben, dann wirst du ein für allemal berühmt!«

»Jane, ich sage den F-6 jetzt seit zehn Jahren voraus. Ich jage nicht bloß irgendwelche Zacken, das kann jeder. Zacken sind nicht genug. Es gibt Tausende von Zacken und Tausende von Wetterleuten, aber ich bin da anders, und der Grund dafür ist der F-6. Ich bin besessen davon, ich bin so fasziniert davon und versessen auf dieses furchtbare Ding, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie ich anschließend weiterleben soll. Wir haben diese Krise herbeigesehnt und sind hervorragend dafür gerüstet, wir sind darauf vorbereitet, durch die Hölle zu gehen, um dieses Ding festzunageln. Aber was wird anschließend aus uns?«

»Jerry…« Sie biß sich auf die Lippe. »Jerry, ich verspreche dir, solange ich bei dir bin, wird es dir niemals an Aufgaben und an einem Grund zu leben mangeln. Okay?«

»Das ist lieb von dir, aber das ist nicht der Punkt«, meinte er traurig. »Es ist schwer zu erklären, aber… Ich brauche meine Arbeit. Und die Aufgabe muß groß sein, größer als ich, ich brauche einfach den Umgang mit etwas Größerem. Das bin auch ich, das ist ein Teil von mir, aber das ist auch etwas, über das ich keine Kontrolle habe. Das ist wie eine Kraft, ein Zwang, der an den Dingen zerrt, sie zerfetzt und verdaut und sie versteht, und ich habe keine Kontrolle darüber, habe sie niemals gehabt. Es geht einfach nicht. Verstehst du das?«

»Ja. Das verstehe ich. Das ist, als hätte man einen Zacken in sich drin.«

»Ja.«

»Ich hab auch einen, weißt du. Er ist bloß völlig verschieden von deinem. Und mit dir zusammen zu sein, Jerry, hilft mir, damit klarzukommen! Was zwischen uns ist, was wir einander geben, ist nicht schmerzhaft oder verbogen oder zerstörerisch, sondern wahrhaft gut und stark! Wir bekommen eine Menge Leid zu sehen. Und ich weiß nicht, vielleicht ist die Welt ja zum Untergang verurteilt. Und wir studieren die Zerstörung, Tag für Tag. Aber das, was inmitten dieses ganzen Wirrwarrs zwischen uns ist, das ist wahrhaft gut und stark! Das hat nichts Schwaches oder Zerbrechliches an sich. Ich werde niemals jemanden so lieben, wie ich dich liebe.«

»Aber wenn das Monster alles zertrümmert hat, wenn alles kaputtgeht und wir mit dazu?«

»Dann werde ich dich immer noch begehren und lieben.«

»Vielleicht wird nach dem F-6 ein ganz anderer Mensch aus mir. Ich weiß, daß ich nicht stehenbleiben kann. Ich werde mich verändern müssen, da führt kein Weg dran vorbei. Wer weiß? Vielleicht werde ich dann wie Leo.«

Sie straffte sich. »Was meinst du damit? Sag es mir.«

»Ich meine damit, daß ich einfach bloß Zeugnis ablege, Jane. Die Truppe, wir alle legen Zeugnis ab. Halb Oklahoma könnte in dem Chaos untergehen, und wir werden bloß Zeugnis ablegen. Aber manche reden über das Wetter - wie du und ich -, während andere etwas dagegen unternehmen. Leo und seine Freunde, seine Leute, die tun alle was. Er ist ein Mann von Welt, mein älterer Bruder, ein Mann der Tat, ein Mann mit Einfluß. Und es ist eine furchtbare Welt, und mein Bruder tut manche furchtbaren Dinge. Ich schaue der Zerstörung zu, aber Leo unternimmt etwas dagegen. Ich habe nichts als meine Augen, aber Leo hat Hände.«

Jerry schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau, was Leo getan hat oder wie er es getan hat und wem er geholfen hat - er erzählt mir nichts, aus guten, praktischen Gründen, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich kenne den Grund. Ich weiß, warum Leo sich so verhält, und ich weiß, warum ihn das Handeln fasziniert. Weißt du, es geht nicht bloß um einen vereinzelten, vorübergehenden, örtlich begrenzten Schrecken wie bei einem Zacken. Die moderne Welt der globalen strategischen Politik und Wirtschaft, das ist Leos Welt, und die umfaßt acht Milliarden Menschen, die die Kontrolle über ihr Schicksal vollständig verloren haben und den Planeten bis auf die Knochen abnagen. Das ist unsere Zivilisation, verwandelt in einen endlosen, allesverzehrenden Schrecken, als was sich auch der F-6 am Ende herausstellen könnte. Und Leo lebt mitten drin, nimmt die Energie in sich auf und versucht, sie sich zunutze zu machen. Er wünscht sich sehnlichst, daß ich mich ihm anschließe, weißt du. Und ihm dabei helfe, das Chaos einzudämmen, mit welchen Mitteln auch immer. Und ich verstehe meinen Bruder. Ich kann ihm das nachfühlen. Mein Bruder und ich, wir haben dasselbe Leiden. Wir verstehen einander, wie es nur wenige Menschen tun.«

»Also gut«, sagte Jane. Sie legte ihre Hand auf seine. »Jerry, wenn alles vorbei ist, dann tun wir genau das. Wenn der F-6 vorbei ist und alles hinter uns liegt, dann schließen wir uns deinem Bruder an. Du und ich, wir beide, und wir befreien ihn aus den Schwierigkeiten, in denen er steckt, worin sie auch bestehen mögen, und bringen ihn auf den rechten Weg.«

»Das ist eine große Herausforderung, Schatz.«

»Jerry, du hast gesagt, du wolltest eine große Herausforderung. Na, und die hast du, das ist mir jetzt klar. Es ist mir egal, wie viele Freunde dein Bruder in der Politik hat, er stellt ein großes Problem dar, aber er ist auch bloß ein Mensch, und er ist nicht so mächtig wie ein Sturm, der Oklahoma verwüsten kann. Ich fürchte mich nicht vor deinem Sturm, ich fürchte mich nicht vor dir, und ich fürchte mich nicht vor deinem Bruder. Du kannst mich mit diesem ganzen Gerede nicht verschrecken, ich liebe dich, und ich bleibe bei dir, und nur der Tod kann uns scheiden. Wir können es schaffen. Wir sind keine hilflosen Zuschauer, wir sind auch Menschen der Tat, auf unsere Art. Auf unsere Art sind wir beide ausgesprochen praktische Leute.«

»Schatz«, sagte er mit Nachdruck, »du bist sehr lieb zu mir.«

Der Lautsprecher schaltete sich ein. »Hier spricht Rick in Baker! Es geht los!«

 

Unablässiger Regen hatte etwas Deprimierendes, und keine andere Naturkatastrophe war einer Überschwemmung vergleichbar, aber Trockenheit bedeutete eine Härte ganz eigener Art, sie war ekelhaft und bedrückend. Trockenheit war eine Prüfung des Schicksals.

Sie waren dem Zacken am Rand des riesigen Hochs entlang gefolgt. Es handelte sich um einen langen, fadenscheinigen, exzentrischen F-2, und er hatte sich eigensinnig von Norden nach Südwesten bewegt, was für die Tornadostraße höchst ungewöhnlich war. Der F-2 war außergewöhnlich langlebig gewesen und hatte zwar nie erderschütternde Ausmaße erreicht, vom Rand des Hochs aber doch hartnäckig Energie abgezogen. Und er hatte Hagel mit sich geführt, ekligen, schwarzen, staubgesättigten Hagel; aber kaum einen Tropfen Regen.

Nun war der F-2 ausgefasert, und Jane und Jerry befanden sich im Canongebiet westlich von Amarillo, in dem Teil des Bundesstaates Texas, der als ›The Breaks‹ bezeichnet wurde. Sie waren in flachem Terrain querfeldein gefahren, und dann hatte sich auf einmal der Erdboden vor ihnen aufgetan. Der Canadian River war kein großer Fluß mehr, aber er war es während der letzten Eiszeit mal gewesen, und er hatte die Landschaft tiefgreifend geprägt. Richtige Tafelberge waren hier entstanden, nicht zu vergleichen mit den zusammengesackten Hügeln der südlichen High Plains. Tafelberge waren keine Berge. Es handelte sich dabei nicht um geologische Verwerfungen. Tafelberge waren Überbleibsel, sie waren alles, was nach einer Ewigkeit des hartnäckigen Widerstandes gegen Regenfälle, Auswaschungen und Aushöhlungen noch übriggeblieben war. Die Tafelberge bestanden aus einer Schicht harten Sandsteins, der eine Art Kopfbedeckung aus Fels bildete, doch unter der Kopfschicht befand sich weiches, rötliches, weiches und trügerisches Gestein, das aus kaum petrifiziertem Schlamm bestand. Dieses Gestein war so weich, daß man mit den Händen Brocken davon losreißen und sie zwischen den Fingern zu Staub zerkrümeln konnte. Die Tafelberge waren zahnlos, unglaublich geduldig und an den Seiten völlig verwittert, durchfurcht von senkrechten Wasserrinnen, die Hänge übersät von den geborstenen Überbleibseln unterspülter Sandsteinplatten.

Es war ein altes und sehr wildes Land. Die wenigen Straßen, die es gab, waren in schlechtem Zustand. An den ausgetrockneten Bachläufen und Wasserlöchern fand man manchmal zwölftausend Jahre alte Speerspitzen aus Feuerstein, vermischt mit den geschwärzten, zerbrochenen Knochen ausgestorbener Riesenbison. Jane fragte sich manchmal, wie die Feuersteinmenschen von Folsom Point vor zwölftausend Jahren wohl reagiert haben mochten, als ihnen klar geworden war, daß sie den Riesenbison ausgerottet hatten, mit ihren furchtbaren High-Tech-Speeren, ihrer Feuersteinindustrie und den allesverzehrenden riesigen Buschfeuern, mit denen sie ganze Bisonherden vor sich her getrieben hatten, bis sie sich in ihrer Panik Hals über Kopf von den Steilwänden der Canons stürzten. Vielleicht hatte jemand die Buschfeuer und Speere verflucht und versucht, den Feuerstein zu vernichten. Während andere Zeit ihres Lebens trauerten, weil sie an einem solch furchtbaren Verbrechen teilgenommen und ihr Wild dem Verderben preisgegeben hatten. Die große Mehrheit hatte wahrscheinlich gar nichts gemerkt.

Die Canonwände der Breaks beeinträchtigten stark den Funkverkehr. Sie warfen einen größeren Funkschatten, und wenn man zu dicht an sie herankam, unterbrachen sie sogar die Verbindung zum Satellitenrelais. Für das Verfolgungsfahrzeug Charlie stellte das jedoch kein Problem dar; es setzte seine Supraleiter in Gang und arbeitete sich zum Gipfel des größten Tafelbergs empor. Dieser Tafelberg war glücklicherweise mit großen Sendemasten und Mikrowellenantennen bestückt.

Vor Jane und Jerry waren schon andere hier gewesen. Die meisten Radarschüsseln waren von Einschüssen durchsiebt, manche davon alt, manche neu. Eine Vandalen-Gang hatte die Blockhäuser der Sendemasten mit mittlerweile verwitterten Graffitis geschmückt. Mit veralteten psycho-radikalen Slogans wie ZERSCHLAGT DEN STIMMEMMARKT und SOLLEN SIE DOCH DATEN FRESSEN und HEULENDER WOLF ÜBERLEBT, ausgeführt mit der irren Intensität, die großstädtische Graffiti früher einmal besessen hatte, ehe sie ihren Schwung auf einmal unerklärlicherweise verloren hatte und die Praxis des Sprühens erst ausgetrocknet war und dann irgendwann aufgehört hatte.

Es gab eine Feuergrube mit alten, verkohlten Mesquitstrünken darin, einen Haufen zerbeulter Bierdosen, die Art alter Aluminiumdosen, die sich im Regen nicht auflösten. Man konnte sich gut vorstellen, wie diese modernen luddistischen Maschinenstürmer hier oben mit ihren Geländemotorrädern und Pistolen rumgegrölt und ihre Ghettoblaster hatten spielen lassen.

Jane fand diesen Ort höchst deprimierend, irgendwie noch einsamer, als wenn überhaupt noch nie jemand hier gewesen wäre. Sie fragte sich, was für eine Gang das wohl gewesen sein mochte, was, zum Teufel, sie gemeint hatten, hier draußen verloren zu haben, und was wohl aus ihnen geworden war. Vielleicht waren sie einfach bloß tot, so tot wie die Feuersteinleute von Folsom Point. Der Bundesstaat Texas war mit dem Strick, dem Stuhl und der Nadel immer rasch bei der Hand gewesen, und in der Anfangszeit der Haftverschonungshandschellen hatte man sich noch kaum etwas dabei gedacht, sie mit Nervengift narrensicher zu machen. So waren halt die Vorschriften gewesen - eine saubere und legitime Methode, Menschen auszulöschen. Wenn die Gang von Rangern erwischt worden war, dann gab es jetzt irgendwo am Straßenrand ein paar ungekennzeichnete Gräber, grüne Hügel auf irgendeiner unkrautüberwucherten Weide. Vielleicht hatten sie sich auch selbst in die Luft gejagt bei dem Versuch, aus einfachen Haushaltschemikalien Vernichtungsbomben zu basteln. Oder waren sie wieder vernünftig geworden und hatten im sogenannten wirklichen Leben Fuß gefaßt? Hatten sie jetzt Jobs?

Einmal hatte sie Carol taktvoll nach dem Untergrund gefragt, und Carol hatte barsch geantwortet: »Es gibt keine alternative Gesellschaft mehr. Bloß Menschen, die aller Voraussicht nach überleben werden, und solche, die's nicht tun werden.« Dem hatte Jane nur zustimmen können. Denn ihrer Erfahrung mit Bombenlegern nach waren die Leute, die sich mit dieser radikalen Kacke abgaben, genau wie die Ranger, bloß dümmer und weniger geschickt.

Die Sonne ging unter. Im Westen, unter den sich auflösenden Wolken, machte Jane mit intensiver, wunderbarer Klarheit die skelettartigen Silhouetten weitentfernter Bäume aus. Die Bäume waren viele Kilometer entfernt und nicht größer als eine Nagelschere, und dennoch konnte sie in der klaren, stillen Luft die Form jedes einzelnen Astes erkennen, scharf abgehoben von den Farben rund um die Sonne, große Bänder zarter, abgestufter Wüstenfarbe, die von Umbra über Bernstein bis zu durchscheinendem Perlweiß reichte.

Die Jagd war vorbei. Es war Zeit, ins Camp zurückzufahren.

Jerry holte die Dreifußantenne aus der Tasche, klappte das Gestell auseinander und zog die Antenne auf volle Länge aus.

Und dann legte sich der Wind. Und es wurde sehr still.

Und dann wurde es heiß.

Jane blickte auf die Barometeranzeige. Der Luftdruck stieg - die Bewegung der Nadel war deutlich zu sehen.

»Was ist los?« fragte sie.

»Eine einzelne Welle«, antwortete Jerry. »Muß sich irgendwie vom Hoch abgespalten haben.« Kein Wind, kein wahrnehmbarer Luftzug, sondern eine Art Druckwelle in der Atmosphäre, ein sich lautlos ausbreitender Anstieg von Druck und Hitze. In Janes Ohren knackte es laut. Die heiße Luft fühlte sich sehr trocken an, und sie hatte einen eigenartigen Geruch. Sie roch nach Dürre und nach Ozon.

Als Jane sich an den Wagen lehnte, sprang von der Wagentür mit einem vernehmbaren Knall statische Elektrizität auf sie über.

Jerry schaute zu den höchsten Mikrowellenantennen hoch. »Jane«, meinte er in gepreßtem Ton, »steig in den Wagen,

schalt die Kameras ein. Irgendwas geht da vor.«

»Ist gut.« Sie kletterte in den Wagen.

Es wurde dunkler, und dann hörte sie es. Ein dünnes, fließendes Zischen. Kein Knistern, eher ein Geräusch wie von entweichendem Gas. Vom hohen Sendemast ging irgend etwas aus, es sickerte aus ihm hervor, etwas sehr Seltsames, etwas wie Wind, etwas wie ein Fell, etwas wie eine Flamme. Etwas Weißes, Streifiges, gasförmig Spitzes, etwas Flackerndes, sich Kräuselndes, an den Ecken der metallenen Stützpfeiler und Querverstrebungen des alten Mastes. Nur auf einer Seite, an einem Metallrand des Mastes hoch und runter laufend, wie leuchtendes Kugelmoos. Es zischte, und es flackerte, und es bewegte sich unstet, wie der zischende Atem von Gespenstern. Jane beobachtete es unverwandt durch den Kamerasucher und rief unsicher aus: »Jerry! Was ist das?«

»Das ist Elmsfeuer.«

Auf einmal spürte Jane, wie sich ihre Kopfhaare aufrichteten. Sie unterbrach die Aufzeichnung nicht, doch das elektrische Feuer hatte sie nun erfaßt, es war heruntergekrochen und mit ihr in den Wagen eingedrungen. Die Korona hob ihr Haar, bis es wie ein Nadelkissen aussah. Von ihrem Kopf entlud sich natürliche Elektrizität. Ihr ganzer Schädel, vom Hals bis zur Stirn, fühlte sich einen Moment lang an wie ein Augenlid, das sanft zurückgeklappt wurde.

»Ich habe so was schon mal am Pike's Peak gesehen«, sagte Jerry. »Aber noch nie in so niedriger Höhe.«

»Kann es uns gefährlich werden?«

»Nein. Wenn die Welle vorbei ist, müßte es wieder aufhören.«

»Ist gut. Ich habe keine Angst.«

»Zeichne weiter auf.«

»Keine Bange, ich hab's drauf.«

Und in weniger als einer Minute war die Welle vorbeigezogen. Und das seltsame Feuer war wieder vollkommen verschwunden. Als wäre nichts gewesen.

 

Es war sehr schwer, beieinander zu schlafen, wenn man nicht miteinander schlafen durfte. Jane hatte häufig Schwierigkeiten einzuschlafen, sie neigte dazu, rotäugig herumzustöbern und die Nacht durchzumachen. Jerry hatte diese Probleme nicht. Jerry konnte immer und überall ein Nickerchen einlegen; er konnte den VR-Helm ausschalten, sich auf den Teppich legen, den Kopf im schwarzen Innern des Helms, eine Viertelstunde schlafen und wieder aufstehen und seine Berechnungen fortführen.

Heute jedoch war Jerry zwar ruhig und still, doch er schlief nicht. Jane hatte den Kopf in die Höhlung seiner linken Schulter gebettet, ein Ort, der wie geschaffen für sie war, der Ort, an dem sie die süßesten und erholsamsten Nächte ihres Lebens zugebracht hatte. Wenn sie von der Jagd gekommen waren und sich heftig geliebt hatten, warf sie immer besitzergreifend ein nacktes Bein über ihn und bettete ihren Kopf auf seiner Schulter, und dann schloß sie die Augen, hörte sein Herz schlagen und fiel in einen dunklen, gesättigten Schlaf, der so tief und heilsam war, daß er selbst Lady Macbeth zur Vernunft gebracht hätte.

Jedoch nicht heute nacht. Ihre Nerven waren so straff gespannt wie eine Mariachi-Violine, und Jerry vermittelte ihr keinen Trost. Irgendwie roch er nicht richtig. Und sie roch auch nicht richtig; sie roch nach medizinischer Vaginalsalbe, wahrscheinlich der am wenigsten erotische Geruch weit und breit. Aber ehe nicht wenigstens einer von ihnen wirklich Ruhe fand, würde etwas Schreckliches passieren.

»Jerry?« sagte sie. In der Stille des Camps - man vernahm nur das Zirpen der Insekten, das ferne Zischen des Windgenerators - klang selbst ein zärtliches Flüstern so laut wie ein Pistolenschuß.

»Hmmm.«

»Jerry, mir geht's schon wieder besser, wirklich. Vielleicht sollten wir's mal probieren.«

»Ich finde, das wäre keine gute Idee.«

»Okay, vielleicht hast du ja recht, aber es gibt keinen Grund, warum wir stocksteif daliegen sollten. Laß mich mal was probieren, Schatz, mal sehen, ob du dich dann nicht besser fühlst.« Ehe er antworten konnte, langte sie hinunter und umfaßte sein Glied.

Es fühlte sich so seltsam und heiß an, daß sie einen Moment lang meinte, etwas stimme nicht mit ihm. Dann wurde ihr klar, daß er kein Kondom anhatte. Sie berührte seinen Penis nicht zum erstenmal, hatte ihn auch schon gestreichelt und im Mund gehabt, aber noch nie ohne Kondom.

Na ja, schaden konnte es ja nicht. Nicht, wenn sie sich auf die Finger beschränkte.

»In Ordnung?« fragte sie.

»In Ordnung.«

An Enthusiasmus fehlte es ihm offenbar nicht. Und wenn sie jetzt aufgehört hätte, im Stockdunklen aufgestanden und ihn gebeten hätte, ein Kondom anzulegen, wäre das ein Mordsaufstand gewesen. Also, was soll's; so weit, so gut. Sie streichelte ihn geduldig und beharrlich, bis sie einen schlimmen Krampf im Unterarm bekam. Dann beugte sie sich in den Schlafsack hinunter und probierte es eine Weile mit der Zunge und den Lippen, und wenn er auch nicht kam, machte er doch endlich die richtigen Geräusche.

Dann tauchte sie zum Luftschnappen wieder aus dem Schlafsack hoch und probierte es mit weiterem Reiben.

Es dauerte sehr lange. Zunächst war es ihr ausgesprochen peinlich; dann gewöhnte sie sich daran und bekam allmählich ein besseres Gefühl. Es war zwar ein äußerst unpraktischer und unbefriedigender Ersatz für Sex, aber sie tat wenigstens etwas Praktisches. Zumindest nahm sie ihre Probleme in Angriff. Dann bekam sie den Eindruck, er werde niemals kommen, sie sei nicht geübt oder zärtlich genug, um ihn soweit zu bringen, und das löste das deprimierende Gefühl des Scheiterns aus.

Er aber streichelte sie aufmunternd an Hals und Schulter, und schließlich begann er auch richtig schwer zu atmen. Dann stöhnte er im Dunklen, und sie hielt behutsam seinen Schwanz und fühlte, wie er pulsierte.

Die Feuchtigkeit auf ihren Fingern fühlte sich zähflüssig und klebrig an. Eher wie heißes Motorenöl. Sie hatte schon Sperma gesehen und kannte sogar seinen seltsamen, eigentümlichen Geruch, aber noch nie zuvor hatte es tatsächlich ihre Haut berührt. Es war eine intime Körperflüssigkeit. Intime Körperflüssigkeiten waren hochgefährlich.

»Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt«, sagte sie, »und das ist das erste Mal, daß ich dieses Zeug angefaßt habe.«

Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Mein kleiner Liebling«, sagte er ruhig, »es wird dir nicht schaden.«

»Das weiß ich. Du hast keine Viren. Du bist nicht krank! Du bist der gesündeste Mensch, den ich kenne!«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Hattest du jemals ungeschützten Geschlechtsverkehr?«

»Nein, natürlich nicht, niemals.«

»Ich auch nicht. Woher solltest du dann einen Erreger haben?«

»Vielleicht durch eine Bluttransfusion? Durch IV-Drogen? Außerdem könnte ich dich belogen haben.«

»Ach, um Himmels willen! Du bist kein Lügner, ich habe dich noch nie bei einer Lüge ertappt. Du hast mich nie belogen!« Ihre Stimme zitterte. »Es will mir einfach nicht in den Kopf, daß ich dich schon solange kenne, daß ich dich mehr liebe als alles auf der Welt, aber von diesem simplen Zeug, das aus dir rauskommt, weiß ich nichts.« Sie brach in Tränen aus.

»Nicht weinen, Schatz.«

»Jerry, warum ist unser Leben so?« fragte sie. »Haben wir das denn verdient? Wir tun uns doch nicht weh! Wir lieben uns doch! Warum können wir nicht so sein, wie Männer und Frauen früher waren? Warum ist für uns alles so kompliziert?«

»Das dient unserem Schutz.«

»Ich brauche keinen Schutz vor dir! Ich will mich nicht vor dir schützen! Ich habe keine Angst! Herrgott noch mal, Jerry, das ist der Bereich unseres Zusammenseins, vor dem ich niemals Angst hatte! Das ist der Bereich, der wirklich wundervoll ist, der Bereich, in dem wir wirklich gut sind.« Sie klammerte sich schluchzend an ihn.

Er hielt sie lange Zeit fest, während sie zitterte und schluchzte. Schließlich küßte er die Tränen von ihrem heißen, schmerzenden Gesicht. Als sich ihre Münder trafen, wurde sie so heftig von Leidenschaft überwältigt, als flösse ihr die Seele aus den Lippen. Sie wälzte sich über eine kühle, klebrige Stelle hinweg auf ihn und ließ seinen Schwanz in ihren schmerzenden, bedürftigen Körper gleiten.

Und es tat wirklich weh. Es ging ihr gar nicht gut, sie war krank, sie hatte eine Pilzinfektion. Es brannte, jedoch nicht stark genug, daß sie hätte aufhören mögen. Sie stützte sich mit ausgestreckten Armen ab und wiegte sich im Dunkeln.

»Juanita, yo te quiero.«

Daß er das sagte, war so wunderbar und berauschend, daß sie sich einen Moment lang völlig vergaß. Sie überging den Schmerz und steigerte sich in Raserei. Vielleicht für vierzig Sekunden, vielleicht für vierzig Ewigkeiten trat sie in den heißesten tantrischen Zirkel ein. Ihr Lustschrei klang ihr noch in den Ohren, als er sie so fest bei den Hüften packte, daß es weh tat, seinen Schwanz von unten in sie hineinrammte und kam, ein Pulsieren tief in ihrem Innern.

Sie wälzte sich von ihm herunter und wischte sich den Schweiß ab. »Mein Gott.«

»Ich habe gar nicht geahnt, daß es sich so anfühlen würde.« Er schien verblüfft.

»Ja«, meinte sie nachdenklich, »es ging irgendwie… so schnell.«

»Ich konnte nicht anders«, sagte er. »Ich wußte nicht, daß es so intensiv sein würde. Das ist eine vollkommen neue Erfahrung für mich.«

»Wirklich, Schatz? Ist es so gut für dich?«

»Ja. Sehr gut.« Er küßte sie.

Sie war jetzt vollkommen ruhig. Alles wurde sehr klar. Das übellaunige, angespannte Singen in ihren Nerven hatte aufgehört, hatte sich in das sachte Vibrieren nachhallender, sanft angeschlagener Engelsharfen verwandelt, und auf einmal fügte sich alles zusammen.

»Weißt du was, Jerry, vielleicht ist ja das Latex schuld.«

»Was?«

»Ich glaube, der Grund für mein Gesundheitsproblem sind die Kondome. Ich bin allergisch auf Latex, oder woraus die Kondome heutzutage gemacht werden, und vor allem deshalb geht's mir nicht gut.«

»Wieso solltest du nach einem ganzen Jahr auf einmal eine Allergie entwickeln?«

»Na ja«, meinte sie, »aufgrund wiederholten Kontakts.«

Er lachte.

»Ich hab nämlich schon ein paar Allergien, weißt du. Ich meine, nicht so schlimm wie Alex, aber ein paar hab ich schon. Ich finde, wir sollten von jetzt an immer so miteinander schlafen. Es ist toll, es ist wunderbar. Abgesehen davon, daß… na ja, daß alles feucht ist. Aber das macht nichts.«

»Jane, wenn wir immer so miteinander schlafen, dann wirst du schwanger werden.«

»Ach du lieber Gott! Daran hab ich nicht gedacht.« Die Vorstellung verblüffte sie. Sie könnte schwanger werden. Sie könnte ein Kind bekommen. Ja, dieses erstaunliche Ereignis könnte tatsächlich eintreten; was geschehen war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Sie kam sich wie eine Idiotin vor, weil sie nicht daran gedacht hatte, daß sie schwanger werden könnte; die langen Schatten von Krankheit und Verhängnis hatten diesen Gedanken völlig verdeckt.

»Genau wie früher. Wie vor den Zeiten der Empfängnisverhütung.« Jerry lachte. »Vielleicht sollten wir schon mal unsere Ersparnisse zählen. Wenn wir das Jahr 1930 schreiben würden, wärst du jetzt eine überlastete Akademikergattin mit fünf Kindern.«

»Fünf Kinder in weniger als einem Jahr, Herr Professor? Du bist mir schon einer.« Jane gähnte, herzhaft und ungeniert. Der Schlaf war nah, er würde ihr gut tun. »Es gibt doch diese Pillen für solche Fälle. Diese Pillen für danach.«

»Kontrazeptiva.«

»Yeah, man schluckt eine Pille, und man kriegt wieder die Regel. Kein Problem! Staatlich subventioniert und alles.« Sie kuschelte sich an ihn. »Das kriegen wir schon hin, Schatz. Jetzt wird alles gut. Alles wird gut. Ich bin ja so glücklich.«

Die meisten Trouper waren eifrig damit beschäftigt, Daten zu schaufeln. Sie stellten gerade eine größere Netzpräsentation zusammen, um irgendeinen einflußreichen Freund von Juanita zu beeindrucken, der in den nächsten Tagen das Camp besuchen würde.

Alex hatte den Eindruck, daß sich, abgesehen von Juanita selbst, keiner der Trouper so recht für die Arbeit an der Netzpräsentation begeistern konnte. Eine Netzpräsentation hatte jedoch ein potentielles Publikum von Millionen läppischer Netzabonnenten auf der ganzen Welt, und wer Juanita kannte, wußte auch, daß sie es wahrscheinlich bekommen würde.

Die allgemeine Hektik ließ Carol Cooper jedoch kalt. Carol Cooper war in der Werkstatt mit Schweißarbeiten beschäftigt. »Computer mag ich nicht«, sagte sie zu Alex. »Ich bin eher ein analoger Typ.«

»Ja«, sagte Alex und räusperte sich, »das war mir von Anfang an klar.«

»Was ist denn in dem großen Plastikkanister da drin?«

»Du bist sehr direkt, das ist mir auch gleich aufgefallen.«

Carol brachte noch ein paar Schweißpunkte an einem gebogenen, verchromten Rohr an, dann legte sie es zum Abkühlen beiseite. »Für dein Alter bist du wirklich ein raffiniertes kleines Arschloch. Eine Schlinge am Ende eines smarten Seils festzuschweißen, darauf wär nicht jeder gekommen.« Sie nahm die Schweißbrille ab und setzte eine normale Schutzbrille auf.

»Jetzt ist das ein smartes Lasso. Lassos sind nützlich. Komantschen haben mit Lassos Cojoten gefangen. Im Sattel natürlich.«

»Klar«, höhnte Carol. »Wußtest du schon, daß Jane die Waffe, die du ihr mitgebracht hast, in die Latrine geworfen hat?«

»Macht nichts, war wahrscheinlich ziemlich blöd von mir, ihr so ein Ding überhaupt anzuvertrauen.«

»Du solltest nachsichtiger mit Janey sein«, sagte Carol tadelnd. Sie hob eine eingedellte Stoßstange des Strandbuggys hoch und spannte sie in einen großen Schraubstock. Unter dem geschlitzten Papierärmel sah man ihre Barometeruhr. Am rechten Handgelenk trug sie das Trouperarmband.

»Klar war sie laut heute nacht«, meinte Carol nachdenklich, während sie den Schraubstock anzog. »Weißt du, als ich zum erstenmal gehört hab, wie Janey so abgefahren ist, dachte ich, wir würden angegriffen. Und dann dachte ich, Herrgott noch mal, das ist so eine perverse Statusscheiße, die will bloß, daß wir alle wissen, daß Jerry sie endlich vögelt. Aber nach ein paar Wochen kam ich allmählich dahinter, daß Janey halt nicht anders kann. Janey muß einfach schreien. Wenn sie nicht schreit, stimmt bei ihr was nicht.«

Carol nahm einen großen Holzhammer mit Bleikopf und versetzte der Stoßstange ein paar wuchtige Schläge. »Aber das seltsamste daran ist, daß wir uns alle so daran gewöhnt haben. Monatelang fanden wir das megalustig, aber mittlerweile reißen wir nicht mal mehr Witze über Janeys Schreien. Und als sie dann für ein paar Wochen damit aufgehört hat, fingen wir echt an, uns Sorgen zu machen. Aber heute nacht, da war sie wieder echt gut drauf, weißte. Und heute hab ich ein richtig gutes Gefühl. Als ob wir die Sache am Ende doch noch hinkriegen würden.«

»Man gewöhnt sich an alles«, sagte Alex.

»Nein, tut man nicht, Mann«, erwiderte Carol scharf. »Das meinst du bloß, weil du jung bist.« Sie schüttelte den Kopf. »Für wie alt hältst du mich?«

»Fünfunddreißig?« schlug Alex vor. Er wußte, daß sie zweiundvierzig war.

»Falsch, ich bin fast vierzig. Ich hatte mal ein Kind, das mittlerweile etwa in deinem Alter sein müßte. Ist aber gestorben.«

»Das tut mir leid.«

Sie schwang den Hammer. Kloing. Boing. Ping-ping-ping. »Yeah, man sagt, ein Kind könnte eine Ehe retten, und da ist auch was Wahres dran, denn wenn ein Kind da ist, muß man sich drum kümmern, nicht nur umeinander. Aber daß der Verlust des Kindes eine Ehe ruinieren kann, hab ich nicht gewußt.« Zack. Wumm. »Damals war ich jung und ziemlich dumm, weißte, und ich hab mich viel gestritten mit dem Typ, aber verdammt noch mal, daß ich ihn geheiratet hab, war kein Zufall. Wir kamen einigermaßen miteinander aus. Und dann starb unser Kind. Und damit kamen wir nicht klar. Überhaupt nicht. Das hat uns einfach fertiggemacht. Hinterher konnten wir uns nicht mehr in die Augen sehen.«

»Woran ist dein Kind gestorben?«

»An Enzephalitis.«

»Tatsächlich? Meine Mom ist auch an Enzephalitis gestorben.«

»Das soll wohl 'n Witz sein. Welche Welle?«

»Die Epidemie von '25 hat in Houston ziemlich schlimm gewütet.«

»Oh, das war aber spät, mein kleiner Junge ist 2014 gestorben. Während des Ausnahmezustands.«

Alex schwieg.

»Kannst du mir mal die große Klammer reichen?«

Alex nahm die smarte Seilrolle von der Schulter und legte seine behandschuhte Hand darauf. Das dünne, schwarze Seil kroch gehorsam über den Bubblepak-Boden, richtete sich auf wie eine Kobra, packte die Klammern mit der Metallschlinge und hob das Werkzeug hoch. Dann schlängelte es sich über den Boden und verharrte mit der Klammer mitten in der Luft, so daß Carol mühelos herankam.

»Mann, du wirst ja allmählich richtig gut mit dem Ding.« Carol nahm die Klammer schwungvoll entgegen, worauf das Seil zurückschnellte und sich wieder um Alex' Schulter wickelte.

»Ich muß dir was sagen«, meinte Alex.

Sie setzte die Klammer auf die Stoßstange und zog sie mit aller Kraft an. »Ich weiß«, knurrte sie. »Und ich warte.«

»Kennst du Leo Mulcahey?«

Ihre Hände erstarrten, und als sie hochschaute, waren ihre Augen wie die eines von einem Scheinwerfer geblendeten Rehs. »Oh, verdammt.«

»Also kennst du ihn.«

»Yeah. Was ist mit Leo?«

»Leo war gestern hier. Er kam mit einem Laster. Er hat gemeint, er wolle mit Jerry sprechen.«

Carol starrte ihn an. »Und was war dann?«

»Ich hab ihm heimgeleuchtet, ich wollte nicht, daß er einen Fuß ins Camp setzt. Ich hab gesagt, ich würde ihn niederschlagen, und im Zelt wäre ein Trouper, der ihn abknallen würde. Er hatte einen Ranger dabei, den Spürhund, der schon mal da war. Aber den wollte ich auch nicht ins Camp lassen.«

»Verdammt! Und warum nicht?«

»Weil Leo böse ist. Leo ist ein Gespenst, deshalb.«

»Wie kommst du auf so einen Scheiß?«

»Hör mal, ich weiß einfach, daß er ein Gespenst ist, okay?« Alex hustete, dann senkte er die Stimme. »Das Gespensterhandwerk hat seine eigene Atmosphäre, und die kann man riechen.« Es war ein schlimmer Fehler gewesen, sich aufzuregen. Er hatte das Gefühl, in seiner Brust hätte sich irgend etwas gelockert.

»Wie sah er aus? Leo, meine ich?«

»Sehr elegant. Sehr unheimlich.«

»Dann war er's wirklich. Er ist sehr charmant.« Carol hob den Hammer hoch, betrachtete ihn mit leerem Blick und legte ihn wieder weg. »Weißt du«, meinte sie bedächtig, »ich mag Greg. Ich mag Greg sogar sehr. Aber außerhalb der Saison läßt er nie was von sich hören. Kein einziger Anruf. Nicht mal 'ne Email. Dann kraxelt er im Gebirge rum oder unternimmt Wildwasserfahrten oder irgend so 'nen Scheiß, aber er ruft mich nicht an, niemals.« Sie machte ein finsteres Gesicht. »Deshalb mußt du netter zu Janey sein. Das ist keine normale Truppenromanze, falls man überhaupt Romanze dazu sagen kann, wenn zwei Tornadofreaks zusammenkommen. Jane liebt Jerry wirklich sehr. Sie ist ihm treu, sie ist gut zu ihm, sie würde für Jerry durch die Hölle gehn. Wenn ich so eine Schwester hätte und ich wäre ihr Bruder, würde ich mich um sie kümmern und ihr zu helfen versuchen.«

Alex versuchte sich einen Reim auf diese seltsame Ansprache zu machen und gelangte zum einzig möglichen Schluß. Allmählich bekam er Halsschmerzen. »Heißt das, du hast mit Leo gevögelt?«

Carol schaute ihn schuldbewußt an. »Ich hoffe, ich werde dich nie schlagen, Alex. Denn du bist nicht der Typ, bei dem ich's bei einem Mal belassen würde.«

»Schon gut«, krächzte Alex. »Hab mir schon gedacht, daß Leo im Camp eine Kontaktperson hat. Deshalb hab ich auch noch keinem davon erzählt. Ich überlege noch, wie ich Seiner Hoheit die Neuigkeit beibringen soll.«

»Du willst, daß ich Jerry davon erzähle?«

»Yeah. Wenn du magst. Das wäre vielleicht ganz gut. «Er holte tief Luft. »Sag Jerry, daß ich Leo ohne seine vorherige Erlaubnis nicht ins Camp lassen wollte.«

»Weißt du, wie Leo ist?« fragte Carol langsam. »Leo ist so, wie Jerry wäre, wenn er mit den Köpfen anderer Leute vögeln wollte anstatt mit dem ganzen Universum.«

»Ich weiß nicht, wie Jerry ist«, sagte Alex. »Jemandem wie Jerry bin ich bisher noch nicht begegnet. Aber Leo - du kannst jeden Dope-Vaquero in Lateinamerika nach einem Typ wie Leo fragen, die wissen alle, wie er ist und was er macht. Vielleicht weiß man's in den Estados Unidos nicht, aber in El Salvador wissen sie's, in Nicaragua wissen sie's, alle wissen sie's, das ist schließlich kein Geheimnis.« Er bekam einen Hustenanfall.

»Was, zum Teufel, ist eigentlich los mit dir, Alex? Du siehst furchtbar aus.«

»Das ist das zweite, was ich dir sagen muß«, meinte Alex. Er setzte zögernd zu einer Erklärung an.

Als er geendet hatte, war Carol ziemlich blaß geworden.

»Und das nennt man Lungeneinlauf?« fragte sie.

»Ja. Aber es ist egal, wie man es nennt. Es kommt nur darauf an, daß es funktioniert, daß es mir wirklich hilft.«

»Zeig mir mal den Kanister.«

Alex wuchtete den medizinischen Plastikkanister mühsam auf die Werkbank. Carol besah sich skeptisch das Klebeetikett mit den roten Buchstaben auf weißem Grund.

»Palmitinsäure«, las sie langsam vor. »Anionische Lipide. Detergentien auf Silikonbasis. Phosphatidylglykol... Mann Gottes, das ist ja das reinste Hexengebräu! Und was heißt dieser andere Scheiß, dieses spanische Zeug?«

»Isotherme Mischung von PA/SP-Bl-25m auf Basis einer mit NaHCO3 gepufferten Salzlösung«, übersetzte Alex rasch. »Das sind bloß noch mal die wichtigsten Inhaltsstoffe auf spanisch.«

»Und ich soll dir einen Schlauch in den Hals stecken und dieses Zeug in dich reinpumpen? Und dich dann mit dem Kopf nach unten aufhängen?«

»So in etwa hab ich mir das vorgestellt, ja.«

»Kommt nicht in Frage, tut mir leid.«

»Carol, jetzt hör mir mal zu. Ich bin krank. Ich bin viel schlimmer krank, als euch allen klar ist. Ich leide an einer ernsten Krankheit, und im Moment schlägt sie wieder zu. Wenn du mir nicht hilfst oder sonst irgend jemand, dann könnte es passieren, daß ich hier über kurz oder lang sterbe.«

»Warum gehst du dann nicht nach Hause?«

»Meine Eltern können mir nicht helfen«, erklärte Alex kategorisch. »Ihr ganzes Geld kann mir nicht helfen, niemand kann mich heilen. Versucht haben sie's. Aber ich hab halt nicht so was Einfaches wie Enzephalitis, Cholera oder eine dieser Krankheiten, an denen man rasch stirbt. Was ich habe, das ist was Kompliziertes. Umweltbedingt. Oder genetisch. Ist ja auch egal. Seit meinem sechsten Lebenstag versuchen die schon, mich zusammenzuflicken. Wäre ich zu einer anderen Zeit auf die Welt gekommen, wäre ich schon in der Wiege gestorben.«

»Kann das nicht jemand anders für dich machen? Janey? Ed? Ellen Mae?«

»Ja. Vielleicht. Ich werd sie notfalls auch fragen. Aber ich möchte nicht, daß außer dir jemand davon erfährt.«

»Oh«, machte Carol. »Ja, ich begreife auch, warum… Weißte, Alex, ich frag mich schon seit längerem, warum du hier draußen bei uns rumhängst. Es ist jedem klar, daß du dich mit Janey nicht gut verstehst. Und zwar nicht bloß deshalb, weil du gern mit deinem Seil rumspielst. Sondern weil du dich versteckst. Weil du irgendwas verheimlichst.«

»Hm… ja, das stimmt«, sagte Alex. »Ich hab mich versteckt. Ich meine, weniger vor den contrabandista medicos, die ich in Nuevo Laredo abgezockt habe - irgendwie sind das schon harte Typen, aber, verdammt noch mal, denen bin ich doch scheißegal, vor der clínica wartet eine Schlange von hoffnungslosen Fällen, die länger ist als der Rio Grande. Ich hab mich vor meinem eigenen beschissenen Leben versteckt. Nicht vor meinem Leben, sondern vor dem, was ich tue, was andere Leute Leben nennen. Ich stehe mit einem Bein im Grab, Carol. Das ist nicht gelogen, ich bilde mir das nicht bloß ein. Ich kann dir nicht beweisen, was mit mir nicht stimmt, aber ich weiß, daß es die Wahrheit ist, weil ich nämlich mein Leben lang in diesem Körper gesteckt habe, und ich spür's. Es ist nicht mehr viel los mit mir. Ganz egal, was man mit mir anstellt oder wieviel Geld man für mich ausgibt oder wie viele Medikamente man in mich reinpumpt, ich glaube nicht, daß ich's bis zweiundzwanzig schaffen werde.«

»Mein Gott, Alex.«

»Ich verstecke mich hier bei euch, weil das… ein anderes Leben ist. Ein realeres Leben. Ich mache nicht viel für die Truppe, weil ich nicht viel tun kann, ich bin einfach zu krank und zu schwach. Aber hier bei euch bin ich einfach bloß irgend so ein Typ, ich bin kein sterbender Typ.« Er brach ab und dachte angestrengt nach. »Aber da ist noch etwas, Carol. Ich meine, so war ich am Anfang, und daran hat sich auch nichts geändert, aber ich fühle mich nicht mehr so. Weißt du was? Ich bin interessiert.«

»Interessiert?«

»Ja. Interessiert am F-6. An diesem großen Ding, das über unseren Köpfen schwebt. Mittlerweile glaube ich nämlich dran. Ich weiß, daß es ihn gibt! Ich weiß, daß es tatsächlich irgendwann losgehn wird! Und dann will ich dabeisein.«

Carol nahm schwerfällig auf einem Campingstuhl Platz. Sie stützte den Kopf in die Hände. In ihre starken, faltigen Hände.

Als sie wieder aufsah, war ihr Gesicht tränenüberströmt.

»Warum ausgerechnet ich? Warum mußtest du ausgerechnet mir erzählen, daß du sterben wirst?«

»Tut mir leid, Carol, aber du bist die einzige, der ich hier wirklich vertraue.«

»Weil ich ein großes, weiches Herz habe, du kleines Arschloch. Weil du genau weißt, daß du auf mir rumhacken kannst! Herrgott, dasselbe hab ich mit Leo durchgemacht. Kein Wunder, daß du ihn so schnell durchschaut hast. Zwischen euch besteht nämlich nicht der geringste Unterschied.«

»Na ja, abgesehen davon, daß er Leute umbringt, und daß ich sterben werde! Komm schon, Carol.«

»Wir haben niemanden umgebracht«, sagte Carol bitter. »Beim Bombenlegen geht's doch bloß darum, Sachen kaputtzumachen. Leo hat das gewußt. Mann, Leo war der beste, den wir je hatten. Daß wir Leute umlegten, kam einfach nicht vor, obwohl wir's leicht hätten tun können. Wir wollten doch bloß die Maschinerie kaputtmachen. Ein für allemal beseitigen. Diesen ganzen Mist, der unsere Welt zugrunde gerichtet hat, weißte, die Bulldozer, die Kohlegruben, die Abholzmaschinen und die Schornsteine, Goliath, das Monster, Behemoth, den Teufel. Halt das!« Sie schüttelte sich und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. »Weil es für alles andere bereits zu spät war und weil wir genau wußten, wie es um die Welt stand… Und wenn du meinst, den Untergrund gäb's nicht mehr, also, dann irrst du dich aber! Den gibt's nämlich immer noch. Shit, nein, heute ist alles anders. Heute haben sie Macht, große Macht. Die sitzen sogar in der Regierung, das heißt, was man heute so Regierung nennt. Die haben wirkliche Macht, das ist was anderes als diese hoffnungslose Rebellenkacke mit Molotow-Cocktails und Universalschraubenschlüsseln und den beschissenen Manifesten, ich rede von wirklicher Macht, von wirklichen Plänen, von furchtbarer Macht und furchtbaren Plänen. Das sind alles Leute wie er.«

»Tut mir leid…«

»Aber Typen wie du… ihr jungen Leute, ihr hoffnungslosen kleinen Hosenscheißer… Ihr gewöhnt euch an alles… ja, an alles, wenn ihr bloß jung genug seid! Früher hätten die Leute bei dem Gedanken, an so 'ner blöden Scheiße wie TBC oder Cholera zu sterben, einen Schreikrampf gekriegt, aber ihr macht keinen Mucks, ihr macht euer kleines, privates Geheimnis draus und glotzt in die Röhre, bis ihr irgendwann in aller Stille auf eurem Sofa tot umfallt. Die Leute finden sich einfach damit ab, daß ihr Leben die Hölle ist! Die ignorieren alles und meinen, es würde immer noch schlimmer und schlimmer werden, sie wollen nichts mehr davon hören und sind bloß dankbar, daß man sie nicht in ein Umsiedlungslager steckt.«

»Ich gebe nicht auf, Carol. Ich bitte dich bloß, mir zu helfen. Bitte hilf mir.«

»Hör mal, ich bin kein Arzt. Ich kann das nicht. Das ist zu schrecklich, das erinnert mich zu sehr ans Lager.«

»Carol«, krächzte er, »die Unwetterlager sind mir scheißegal. Und deine verrückten Ludditenfreunde können mich mal. Ich weiß, es war schwer damals, und ich weiß, es war schrecklich, aber da war ich gerade erst fünf Jahre alt, das ist für mich alles Geschichte, tote Geschichte. Ich lebe jetzt und hier in einem Lager, in diesem Lager, und wenn ich in einem Lager sterbe, werde ich meinen, ich hätte noch Glück gehabt! Ich werde nie eine persönliche Geschichte haben. Ich werde nicht mal das nächste Jahr schaffen! Ich will bloß diesen Brummer noch erleben, um mehr bitte ich dich gar nicht!« Er stützte sich schwer auf den Tisch. »Offen gesagt, hoffe ich sogar, daß ich den F-6 nicht überleben werde. Die Vorstellung gefällt mir irgendwie, das ist es wert und erspart allen eine Menge Ärger. Und wenn du mir jetzt hilfst, dann werd ich's vielleicht noch erleben, solange ich aufrecht stehen kann, dann werd ich möglicherweise noch als menschliches Wesen gelten, während ich damit beschäftigt bin, mich umbringen zu lassen. Würdest du mir bitte helfen, Carol? Bitte!«

»Also gut. Hör auf zu flennen.«

»Du hast damit angefangen.«

»Ja, ich bin blöd.« Sie stand auf. »Ich heule. Ich habe ein loses Mundwerk, ich kann nichts für mich behalten, nur deshalb hänge ich hier am Arsch der Welt herum, anstatt irgendwo in einer Stadt ein richtiges Leben zu führen, wo irgendein gutaussehender Bulle mir alles aus der Nase ziehen, meine alten Freunde aus ihren Eigentumswohnungen zerren und sie wegen Terrorismus und Sabotage drankriegen könnte. Ich bin halt der geborene Arsch, ein richtiger Verlierer.« Sie seufzte. »Hör mal, wenn's unbedingt sein muß, dann sollten wir's rasch hinter uns bringen, bevor uns jemand sieht, denn das ist was richtig Perverses, was du da von mir verlangst, und Greg kann verdammt eifersüchtig werden.«

»Okay. Du hast recht. Schon kapiert. Vielen Dank auch.« Alex wischte sich mit dem Ärmel die Augen trocken.

»Und ich möchte, daß du mir etwas versprichst, Pillenfreak. Ich will, daß du aufhörst, auf deiner Schwester rumzuhacken. Sie hat es nicht nötig, sich von einem verdammten Idioten wie dir fertigmachen zu lassen, sie ist ein guter Mensch, sie hat ein reines Gewissen, und sie meint es gut.«

»Vielleicht«, sagte Alex. »Als wir noch Kinder waren, hat sie mich immer verprügelt. Ich hab noch ein Video, auf dem sie mich mit einem Kissen zu ersticken versucht.«

»Was?«

»Ich war drei, sie war acht. Ich hab damals viel gehustet. Ich glaube, das ist ihr auf die Nerven gegangen.«

Carol fixierte ihn eine Weile, dann rieb sie sich mit den Daumen über die geröteten Augen. »Also, dann mußt du ihr das halt verzeihen.«

»Ich verzeihe ihr, Carol. Klar. Um deinetwillen.« Alex kletterte auf die Werkbank und legte sich flach auf den Rücken. Er holte einen dünnen, transparenten Schlauch und ein flaches Döschen mit anästhesierender Paste aus der Tasche seiner Jeans. »Hier, nimm das und schraub das auf das Ventil am Kanister.«

»Wow, der ist aber heiß.«

»Ja, hab ihn heute in der prallen Sonne stehen lassen, damit er auf Bluttemperatur kommt.«

»Ich kann's einfach nicht glauben, daß wir das tun.«

»So geht das schon mein ganzes Leben lang.« Alex legte den Kopf zurück und übte, seinen Schlund zu entspannen. »Hast du eine Ahnung, wie sehr sie sich mit Jerry eingelassen hat? In finanzieller Hinsicht, meine ich?«

»Ich glaube, er hat sie ziemlich ausgenommen, Alex. Ohne es zu wollen, denn das einzige, was ihn interessiert, ist eben Stürme jagen.«

»Also, erzähl's keinem weiter. Aber ich hab Juanita zu meiner Alleinerbin gemacht. Ich glaube, das würde der Truppe ein Stück weiterhelfen. Ein ganzes Stück.«

Carol zögerte. »Das war ziemlich dumm von dir, mir das zu sagen. Ich bin schließlich auch ein Trouper, weißte.«

»Ist schon gut. Ich wollte, daß du's weißt.«

»Du vertraust mir wirklich, nicht wahr?«

»Carol, ich glaube, du bist hier der einzige gute Mensch. Einer der wenigen wahrhaft guten Menschen, denen ich je begegnet bin. Danke, daß du mir hilfst. Danke, daß du dich um mich kümmerst. Du hast es verdient, Bescheid zu wissen, deshalb hab ich's dir gesagt. Wahrscheinlich werde ich zwischendurch ohnmächtig. Mach dir nicht soviel Sorgen.«

Er öffnete das Döschen, schmierte die Paste mit dem Steuerhandschuh auf das Schlauchende, nahm dann all seinen Mut zusammen und schob sich den Schlauch behutsam den Hals hinunter. Er schaffte es, der Zungenwurzel auszuweichen, fühlte, wie der Schlauch den wunden und geschwollenen Schlund hinunterglitt, bis ins pochende Zentrum seiner Brust. Die Prozedur und vielleicht auch das vorhergehende Gespräch hatten ihn nervös gemacht, doch als die Wirkung des Betäubungsmittels einsetzte, verflüchtigte sich seine ganze Kraft wie ein aufstiebender Schwarm Wachteln und ließ ihn leer, kalt und benommen zurück.

Dann kam die Flüssigkeit. Sind Sie ein guter Schwimmer, Alex? Sie war kalt. Zu kalt, so kalt wie der Tod, so kalt wie der rote Laredo-Ton. Ein heftiger Rülpser brach aus seiner Lunge. Alex schnappte nach Luft, die Augen quollen ihm aus den Höhlen, er spürte, wie eine gewaltige innere Flutwelle von dem Zeug durch seine Tuberkel glitt, eine widerliche, aberwitzige, kalte Amöbe. Er biß die Zähne in den Schlauch, geriet in Panik und setzte sich auf. Die Flüssigkeit schwappte in ihm, als habe man einem halbleeren Bierfaß einen heftigen Tritt versetzt, und er begann krampfhaft zu husten.

Carol stand mit verschränkten Armen da, die Verkörperung des Abscheus und Entsetzens. Alex zog am Schlauch, zog am Schlauch, zog am Schlauch, ein haßerfüllter Kampf mit einem widerlichen Bandwurm, und bekam ihn, Blasen spuckend, endlich frei. Carol sprang zurück, denn der Kanister leerte sich immer noch, der herabbaumelnde Schlauch spritzte, und Alex hustete in einem fort. Seine Lunge fühlte sich an wie blutiger Schaumgummi.

Er stand auf. Er fühlte sich entsetzlich schwach. Aber er war nicht bewußtlos geworden. Er war halb voller Lungeneinlaufflüssigkeit, und er war immer noch bei Bewußtsein. Er schleppte das Gewicht der Flüssigkeit mit sich herum wie eine obszöne Leibesfrucht.

Dann versuchte er zu reden. Er wandte sich Carol zu und bewegte den Mund, doch es kam nur ein Laut heraus, der von einem ertrinkenden Waschbär hätte stammen können, und sein Mund füllte sich mit zerplatzenden sauren Blasen.

Dann zerriß irgend etwas in ihm, und jetzt tat es auch richtig weh. Er fiel auf die Knie nieder, krümmte sich zusammen und würgte das Zeug auf den Bubblepak-Boden. Einen gewaltigen, ekelhaften Schwall, einen großen, ekelhaften, Blasen werfenden Klumpen. Ihm klangen die Ohren. Seine Hände waren damit bespritzt. Seine Klamotten waren voll damit. Und er wurde immer noch nicht ohnmächtig, es klappte einfach nicht.

Allmählich fühlte es sich besser an.

Carol starrte ihn ungläubig an. Die ganze Flüssigkeit rann aus dem Kanister, tröpfelte unerbittlich aus dem Schlauch. Dreh das ab, dreh das ab, bedeutete er ihr und gab gurgelnde Laute von sich, und dann schüttelte ihn ein neuerlicher Hustenanfall, und er machte einen weiteren langen, qualvollen Satz auf den endgültigen Zusammenbruch zu.

Im nächsten Moment schloß ihn Carol in die Arme. Sie setzte ihn aufrecht hin und lehnte ihn ans Tischbein. Sie blickte ihm ins Gesicht und hob ein Augenlid an, ihr breitwangiges Gesicht blaß und grimmig. »Alex, hörst du mich?«

Er nickte.

»Alex, das ist arterielles Blut. Das hab ich schon mal gesehen. Du hast eine Blutung.«

Er schüttelte den Kopf.

»Alex, jetzt hör mir mal zu. Ich hole jetzt Ed Dunnebecke, und wir bringen dich in die Stadt, in irgendein Krankenhaus.«

Alex schluckte mühsam. »Nein«, flüsterte er. »Dahin geh ich nicht, das könnt ihr nicht machen. Sag nichts. Erzähl's niemandem. Ich fühle mich schon wieder besser.«