FÜNFTES KAPITEL
Bis um zwei Uhr morgens Tornados zu jagen, war höllisch anstrengend gewesen, aber nicht halb so schlimm, wie Alex befürchtet hatte. Die meiste Zeit über waren sie dunkle Straßen entlanggebrummt, und Alex hatte sich in seinem Bubblepak-Nest zusammengerollt und gedöst.
Dreimal hatten sie angehalten und irgendwelche Geräte in den Himmel gejagt, ein Fiebertraum virtueller Aktivität inmitten von Dunkelheit und Donner. Sie waren eifrig damit beschäftigt gewesen, Wirbelstürme per Fernsteuerung zu jagen. Und dennoch hatte sich kein Gefühl von Bedrohung eingestellt.
Die Stürme machten Alex keine Angst. Er fand sie beeindruckend und interessant. Seine einzige Angst war, die Trouper könnten hinter das wahre, demütigende Ausmaß seiner Schwäche kommen. Er konnte klar denken, er konnte sprechen, er konnte essen, und er konnte wunderbar atmen. Dennoch fühlte er sich schwach bis in die Knochen, mit einem hauchdünnen Stehvermögen. Zum Glück hatten Martha und Bussard nichts wirklich Anstrengendes von ihm verlangt. Mit Rücksichtnahme hatte das natürlich nichts zu tun. Sie wollten ihm einfach noch keine wichtige Aufgabe anvertrauen.
Am Tag nach der Jagd war Alex schon im Morgengrauen auf den Beinen. Die Lunge war noch frei, sein Blick war klar, nichts deutete auf einen entzündeten Hals oder Fieber hin. Er fühlte sich so gut wie im ganzen letzten Jahr nicht. Währenddessen lagen die straßenmüden Trouper noch in den Kegeln aus Stöcken und Papier in ihren stinkigen Schlafsäcken herum und hielten eine verlängerte Siesta. Der Tag nach einer Jagd war stets ein arbeitsreicher Tag für die Support-Crews, aber sie verarbeiteten vierzehn Stunden am Tag Informationen und kommentierten, editierten, kollationierten, kürzten und kopierten sie. Die Straßenverfolger der Truppe waren körperlich erschöpft, und die anderen hockten über ihren Keyboards. Niemand achtete auf Alex.
Gegen Mittag fertigte Carol Cooper einen großen Papiersombrero für Alex an, gab ihm eine Tüte Müsli und eine kleine Feldflasche und schickte ihn Ziegen hüten. Eigentlich war Jeff dafür zuständig, ein Halbwüchsiger, der auch das Feuerholz beschaffte und andere Handlangerdienste im Camp verrichtete, aber mit Alex' Ankunft war Jeff in der Hackordnung eine Sprosse höher geklettert.
Alex machte es nichts aus, die Ziegen zu hüten. Zwar war das offenbar die stupideste und niederste Arbeit im Gruppenleben, aber zumindest gab es dabei nur wenig zu tun. Sämtliche Ziegen waren mit smarten Halsbändern ausgestattet, und man konnte die Herdenparameter in einen Laptop eingeben und mit schwachen Stromschlägen und Summen dafür sorgen, daß die Ziegen nicht wegliefen. Es handelte sich dabei um genmanipulierte, pharmazeutische Ziegen, um ›Pharmatiere‹, die aber trotz ihrer gelben, bösartigen, an Reptilien erinnernden Augäpfel erstaunlich zahm und dumm waren. Die meiste Zeit über schienen die Ziegen die Signale der Halsbänder zu begreifen und blieben im gewünschten Umkreis. Sie knabberten an allem, was auch nur von ferne eßbar schien, dann lagen sie im Schatten herum und ließen Gas aus ihren genmanipulierten Gedärmen strömen.
Alex verbrachte den größten Teil des Tages in einem Mesquitbaum am Rande einer buschbestandenen Senke. Er atmete durch die Papiermaske, tippte auf dem Laptop herum und schlug nach Mücken und Bremsen. Die Mücken gefielen ihm nicht, aber abgesehen vom Hals und den Knöcheln war er mit seinem stichsicheren Hut, der Maske und dem Overall einigermaßen geschützt. Die Bremsen waren große, laute, aggressive, den Kopf umkreisende Quälgeister, und daß es so viele waren, wunderte ihn nicht - im Gebüsch wimmelte es nur so von Rotwild. Das verdammte Rotwild war hier so häufig wie Mäuse.
Alex als ausgemachter Städter hatte immer geglaubt, Rehe seien scheue, zarte und gefährdete Tiere, die sich in den Tiefen ihrer zerfallenden Ökosysteme verkröchen. Für das Rotwild von Westtexas, das in einem Ökosystem gedieh, das nicht mehr weiter zu ruinieren war, galt das jedenfalls nicht. Die Rehe schnauften, hatten Hängeohren und waren schreckhaft, dabei aber so dreist wie Ratten auf einem Schrottplatz.
Als Alex mit den ihm anvertrauten Ziegen gegen Abend ins Lager zurückkehrte, war er stark beeindruckt von der hiesigen Wildbretkost. An Wildbret zu kommen, war nicht schwer - nicht schwerer, als an einem Tümpel an Hundefleisch zu kommen. Zusammen mit Jeff molk er die Ziegen, die unterschiedliche, eigentümlich käsige Flüssigkeiten produzierten, manche den Vitaminvorschriften der UN entsprechend, andere wiederum gemäß den kommerziellen Erfordernissen des Einzelhandels. Das Ziegenmelken war auf der seltsamen Ebene der intimen Mensch-Tier-Beziehung eine recht interessante Arbeit, aber es war auch anstrengend, und Alex war froh, Jeff das meiste überlassen zu können.
Greg Foulks hatte Jeff vor ein paar Jahren aus den Trümmern eines F-4 gezogen, genauer gesagt aus dem Haufen Mikadostäbchen, unter denen Jeffs Eltern begraben lagen. Jeff hatte sich seinen Platz bei der Truppe dadurch erkämpft, daß er jedesmal, wenn man ihn in bessere Obhut gegeben hatte, weggelaufen und wieder zurückgekehrt war. Jeff war ein freundlicher, redseliger Texasjunge angloamerikanischer Abstammung, der Jerry und Greg unverhohlene Verehrung entgegenbrachte und jede Menge gute Ratschläge für das Lagerleben parat hatte. Jeff war erst sechzehn, aber seine Augen hatten den gleichen abgespannten, verkniffenen Ausdruck, wie Alex ihn schon häufig in den Gesichtern Obdachloser gesehen hatte, den Schwerwetterflüchtlingen der Welt. Ein gehetzter, bitterer Ausdruck, als hätte sich der Boden unter ihren Füßen in dünnes Eis verwandelt, dem sie nie wieder würden vertrauen können.
Eigentlich war dieser Ausdruck allen Troupern gemeinsam. Bis auf Jerry Mulcahey vielleicht. Bei genauer Betrachtung wirkte Mulcahey so, als habe er überhaupt noch keinen Fuß auf die Erde gesetzt.
Am nächsten Tag wurde Alex zum Küchendienst eingeteilt.
»Deine Schwester«, sagte Ellen Mae Lankton, »ist eine richtige Nervensäge.«
»Da sprichst du mir aus der Seele«, sagte Alex. Er saß im Schneidersitz auf dem Bubblepak-Boden der Küchenjurte und schälte eine Wurzel. Es war die Wurzel einer einheimischen Pflanze, die ›Mohnmalve‹ genannt wurde. Sie sah aus wie eine sehr schmutzige und krumme Karotte, und in geschältem Zustand ähnelte sie auf wenig appetitliche Weise einer Yamswurzel.
Ellen Mae war bereits im Morgengrauen aufgestanden, um nach Mohnmalve zu graben. Sie stand jeden Morgen so früh auf, streifte systematisch über die Felder, knipste mit ihrer privaten Drahtschere mit Diamantschneide Meilen von altem Stacheldrahtzaun durch und grub mit der Schaufel Wurzeln aus. Und so warteten in Ellen Maes Tragetasche nun ein Dutzend schmutzige Wurzeln darauf, von Alex geschält zu werden. Wurzelschälen war bei den Storm Troupern offenbar wenig beliebt. Alex machte es jedoch nichts aus.
Alex machte kaum eine Arbeit etwas aus, solange er dabei still sitzen und flach atmen konnte. Was ihn bei der Küchenarbeit störte, war der Mesquit-Rauch. Jedesmal, wenn Ellen Mae sich umdrehte und den Eintopf umrührte, setzte Alex rasch die Papiermaske auf und genehmigte sich insgeheim ein paar Atemzüge sauber gefilterter Luft.
Während Ellen Mae emsig umherwuselte und eine endlose Reihe mysteriöser Küchenrituale vollführte, saß Alex in dem bißchen frischer Luft da, das in die Jurte drang. Im Laufe des Vormittags hatten mehrere Trouper hereingeschaut, um einen Happen zu essen oder um einen Schluck Wasser zu trinken, und hatten Alex in der Haltung eines demütigen, aufmerksamen Gehilfen zu Ellen Maes Füßen sitzen sehen. Und sie hatten Ellen Mae einen überraschten, respektvollen Blick zugeworfen. Nach einer Weile war Ellen Mae merklich aufgetaut, und nun quasselte diese seltsame, hexenhafte Frau in mittleren Jahren auf Teufel komm raus und wollte einfach nicht mehr aufhören.
»Zum einen redet sie irgendwie komisch«, sagte Ellen Mae.
»Meinst du ihren Akzent?« fragte Alex.
»Na ja, der hat auch was damit zu tun… «
»Das ist ganz einfach«, meinte Alex. »Wir Unger sind Deutsch-Mexikaner.«
»Was?«
»Yeah, wir stammen von diesem Deutschen namens Heinrich Unger ab, der 1914 nach Mexiko ausgewandert ist. Er war ein deutscher Spion. Er wollte, daß die Mexikaner im Ersten Weltkrieg nach Amerika einmarschieren.«
»Ui«, machte Ellen Mae, den Eintopf umrührend.
»Aber damit hatte er kein Glück.«
»Das möcht ich meinen.«
»Ein anderer Spion, ein gewisser Hans Ewers, hat ein paar Bücher über diese Mission geschrieben. Sollen angeblich ziemlich gut sein. Ich kann's nicht sagen. Ich kann Deutsch nicht lesen.«
»Deutsch-Mexikaner«, murmelte Ellen Mae versonnen.
»Es gibt eine ganze Menge Deutsch-Mexikaner. Tausende, um genau zu sein. Das ist eine ziemlich große Minderheit.« Alex zuckte die Achseln. »Mein Dad kam damals über die Grenze und nahm dann die amerikanische Staatsbürgerschaft an, nachdem er ein bißchen Geld verdient hatte.«
»Wann genau war das?«
»Um 2010 herum. Kurz bevor ich geboren wurde.«
»Muß wohl was mit diesen Freihandelsgeschichten zu tun haben. Als die USA ihre Arbeitsplätze nach Mexiko verlagerten und die Mexikaner ihnen ihre ganzen Reichen schickten.«
Alex hob die Schultern. Die historische Verstrickung seiner Familie bedeutete ihm wenig. Für den fernen und romantischen Aspekt der Geschichte von 1914 brachte er nur oberflächliches Interesse auf, aber nichts ödete ihn so an wie die postindustrielle Unternehmerkarriere seines Vaters.
»Janey klingt aber nicht deutsch. Auch nicht mexikanisch. Und du hast auch keinen deutschen oder spanischen Akzent, Kleiner.«
»Wenn ich Spanisch spreche, hört man das Deutsche ziemlich gut raus«, meinte Alex. »Könnte ich noch etwas Tee haben?«
»Klar, soviel du willst«, erwiderte Ellen Mae zu seiner Überraschung. »Morgen brechen wir das Lager ab. Viel Wasser können wir nicht mitnehmen.« Sie schenkte ihm reichlich von einem säuerlichen Kräuteraufguß ein, den sie aus glänzenden grünen Blättern bereitet hatte. Tee war es bestimmt nicht, aber besser als so manche anderen mexikanischen Getränke, die er schon probiert hatte. »Darum brauchen wir jetzt das restliche Wasser auf. Heute abend können wir alle baden!«
»Wow!« machte Alex und nippte an dem Hexengebräu.
Ellen Mae betrachtete ihn nachdenklich. »Und was machst du so, Alex?«
»Ich?« fragte Alex. Er ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. Häufig hatte man sie ihm noch nicht gestellt. »Ich bin ein Spiele-Tester.«
»Was ist das denn?«
»Na ja, Netzwerk-Computerspiele«, meinte Alex ausweichend. »So Rollenspiele halt… Heutzutage sind Computerspiele nicht mehr lukrativ, wegen der ganzen Copyrightsverletzungen und so, aber, ich weiß nicht, da gibt's ja noch die Kryptware und Shareware und die Subskriptionsdienste, oder? Leute, die sich mit dem Fantasyzeug wirklich auskennen, können immer noch gutes Geld damit verdienen. Manchmal helfe ich ihnen bei der Arbeit.«
Ellen Mae guckte skeptisch drein, obwohl das der Wahrheit sehr nahe kam. Alex hatte als Heranwachsender begeistert Rollenspiele gespielt, und da er sich bei den UpgradeZahlungen und Shareware-Registrierungen als großzügig erwiesen hatte, war er schließlich im Dunstkreis des Spielevertriebs gelandet. Nicht, daß er tatsächlich Spiele entworfen hätte - es machte ihm jedoch Spaß, zu den ersten zu gehören, die die neuen Spiele testeten, und nach seinen Eindrücken befragt zu werden, machte ihm nichts aus. Hin und wieder hatte Alex sogar ein wenig Geld dafür bekommen - alles in allem vielleicht fünf Prozent dessen, was er in das Hobby hineingesteckt hatte.
Mit achtzehn hatte Alex das Rollenspiel jedenfalls aufgegeben. Damals dämmerte ihm, daß seine zahlreichen FantasyIdentitäten ihm auch noch das letzte bißchen Vitalität raubten, das ihm im Alltagsleben geblieben war. Die Verliese, die in den Spielen vorkamen, stellten eigentlich auch keinen großen Fortschritt dar gegenüber der bizarren, gruftähnlichen Realität der endlosen Abfolge von Krankenhauszimmern. Als ihm dies klar wurde, gab Alex das Spielen auf und verwandte seine Zeit und sein Geld nur noch darauf, die Abgründe seiner medizinischen Bestimmung und die Wunder der pharmazeutischen Halbwelt zu erkunden.
»Außerdem sammle ich Comics«, setzte er hinzu.
»Warum?« fragte Ellen Mae.
»Tja, ich fand's halt echt interessant, daß es noch diese komischen Popdinger gab, die auf Papier veröffentlicht wurden anstatt im Netz.« Diese Bemerkung half auch nicht gerade, das Eis zu brechen. Alex machte unverdrossen weiter. »Ich besitze einer Menge alte amerikanischer Papiercomics - in den USA druckt niemand mehr auf Papier, weißte, aber von den ganz alten, den Undergroundsachen und diesem Zeug, wurde nie was kopiert und gescannt, daher kann man nirgendwo im Netz drauf zugreifen. Und als ernsthafter Sammler wird einem häufig Kunst angeboten, die öffentlich nicht zugänglich ist… Kunst, die kein Mensch zu sehen bekommt… Ein Kunstwerk, auf das jahrelang nicht mehr zugegriffen wurde!«
Ellen Mae schaute verwirrt drein; offenbar bekam sie nicht mit, was den Reiz seines Hobbys eigentlich ausmachte. Alex fuhr fort: »Meine eigentliche Spezialität sind die modernen mexikanischen Papiercomics. Die fotonovelas, die Schundkrimis nach wahren Begebenheiten, die UFOzines und dieses Zeug. Das ist ein uraltes Medium in einem modernen Kontext, und das ist echt coole, alptraumhafte Volkskunst, wirklich… Ich mag sie, und es ist irgendwie schwer dranzukommen. Aber ich habe schon eine ganze Menge.« Er lächelte.
»Und was machst du damit?« fragte Ellen Mae.
»Keine Ahnung«, gab Alex zu. »Ich katalogisiere sie, schweiße sie luftdicht ein… Die werden alle in Houston aufbewahrt. Ich hab mir gedacht, ich sollte sie vielleicht alle illegal scannen und ins Netz posten, damit mehr Leute erfahren, wie cool die sind. Und damit sie sehen, wieviel Zeug ich da gesammelt hab. Aber ich weiß nicht, irgendwie verdirbt das die ganze Sache, ehrlich.«
Ellen Mae schaute ihn so merkwürdig an, daß Alex auf einmal klar wurde, daß er zu weit gegangen war. Er setzte sein liebenswürdigstes Lächeln auf, reichte ihr demütig ein paar geschälte Wurzeln und fragte: »Und worauf stehst du, Ellen Mae?«
»Ich stehe auf Komantschen«, sagte Ellen Mae.
»Was heißt das?«
»Ich bin hier in Westtexas geboren«, erklärte sie. »Ich bin eine Eingeborene.«
»Na so was.« Sie hatte nichts von einer Indianerin. Sie sah aus wie eine große angloamerikanische Frau in einem blutbefleckten Papieranzug, die mit den Jahren Fett angesetzt hatte.
»Ich bin hier draußen auf einer Ranch aufgewachsen, damals, als alles zugrunde ging… Dieser Teil von Texas war noch nie dicht besiedelt. Als die Wasseradern austrockneten, packten die meisten Leute einfach ihre Sachen zusammen und zogen weg. Und dann während des Ausnahmezustands, als die große Dürre kam? Da wurde weggeweht, was noch übrig war, genau wie der Staub.«
Alex nickte mitfühlend und machte sich mit dem Keramikschäler über eine weitere Wurzel her.
»Die, die hierblieben - also, die hörten auf, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, und stöberten nur noch umher. Wrackten Geisterstädte ab.« Sie zuckte die Achseln. »Damals redete noch keiner von Terrorismus, weil wir nichts in die Luft jagten, was nicht schon verlassen war. Ich meine, wir hatten gute Gründe, das Zeug hochzujagen. Wir wollten ein bißchen Geld verdienen. Wir haben nichts in die Luft gejagt, bloß weil wir sehen wollten, wie's wieder runter kommt - diese Scheiße fing erst später an.«
»Okay«, meinte Alex und nippte am Kräuteraufguß.
»Damals hab ich mir so meine Gedanken gemacht, verstehe… Weißte, Alex, eigentlich hätte doch niemand hier draußen Ackerbau betreiben dürfen. Von Anfang an nicht. Dieses Land wurde nicht für den Ackerbau geschaffen. Oder für die Viehzucht - auf diesem Land Vieh zu züchten, hat den Boden viel zu sehr ausgelaugt. Das war kein Zufall, daß es so gekommen ist. Das haben wir uns selbst zuzuschreiben.«
Alex nickte.
»Das war einmal Nomadenland. Die High Plains waren damals schwarz von Büffeln, von hier bis nach Kanada! Die größten umherziehenden Herden, die es in der Geschichte je gegeben hat. Innerhalb von zwanzig Jahren hat man die Büffel mit Repetiergewehren umgebracht. Dann dauerte es weitere hundertfünfzig Jahre, das Wasser aus der Erde zu holen, und bis dahin war die Atmosphäre ebenfalls ruiniert… Aber verstehe, das war alles ein ganz schlimmer Irrtum. Die Leute, die hier draußen gesiedelt haben - wir haben das Land zerstört. Und dafür müssen jetzt wir dran glauben.«
Alex schwieg.
»Damals, weißte - die Leute wollten es einfach nicht glauben. Sie wollten nicht glauben, daß dieses riesige Gebiet der guten alten USA einmal von jedermann aufgegeben würde, daß die Menschen, die das Land besiedelt und gezähmt haben - damals sagte man tatsächlich ›das Land zähmen‹ -, daß diese Menschen irgendwann ihre Existenz verlieren würden. Ich meine, damals war das einfach unvorstellbar. Es schien völlig unmöglich und anomal. Mittlerweile hat man sich natürlich an die Vorstellung gewöhnt… Aber damals hieß es von der Regierung, das sei nur vorübergehend, Westtexas werde neu besiedelt werden, sobald man wüßte, wie man das Wasser von Minnesota hinunterleiten oder Eisberge schmelzen könne, dieser ganze gottverdammte Blödsinn… Scheiße, Alex, die werden nie im Leben Wasser hertransportieren. Es ist hundertmal billiger, einfach die Menschen umzusiedeln. Die leben doch alle in einem Traumland.«
»Traumländer, yeah«, sagte Alex, »in ein paar bin ich schon gewesen.«
»Und das seltsamste dabei war, daß das alles schon mal passiert ist, bloß hat niemand was daraus gelernt. Den Komantschen ist es nämlich passiert. Die Komantschen lebten seit zweihundert Jahren hier draußen - vom Land und von den Büffeln. Aber als die Büffel verschwunden waren, nun, da wurden sie einfach ausgelöscht. Wurden regelrecht ausgehungert. Mußten nach Oklahoma hinaufziehen, wo sie dann in Reservaten lebten und von der Regierung verpflegt wurden, genau wie wir jämmerlichen Wettertramps. Die waren völlig fertig.« Sie seufzte. »Weißt du, Alex, wenn die Lebensgrundlagen stimmen, dann kann man um seinen Platz in der Welt kämpfen. Aber wenn man keine Nahrung und kein Wasser hat, dann gibt es auch keinen Platz für einen. Dann muß man halt fortgehen. Entweder fortgehen oder sterben.«
»Stimmt«, sagte Alex. »Versteh schon.« Es tat Ellen Mae sichtlich gut, sich das Thema von der Seele zu reden. Offenbar tat sie das nicht zum erstenmal. Wahrscheinlich war das die Standardpredigt, die sie jedem Truppenbewerber hielt.
Normalerweise würde Alex bei so einer Unterhaltung den Advocatus diaboli gespielt haben, bloß um die ganze Sache interessanter zu machen. Doch unter den gegebenen Umständen hielt er es für das Klügste, Ellen Mae sich aussprechen zu lassen. Klugerweise ließ er die vielen anderen Orte auf der Welt unerwähnt, wo die Umsiedlungen hundertmal schlimmer gewesen waren als in Westtexas. Schließlich war den Einwohnern von Westtexas die riesige, hochentwickelte USA zur Seite gestanden. Weshalb sie nicht zu verhungern brauchten. Sie hatten keine schmutzigen kleinen Bandenkriege führen müssen, Straße gegen Straße, ethnische Gruppe gegen ethnische Gruppe. Und sie waren nicht von Epidemien ausgelöscht worden, von den kleinen, räuberischen Bazillen, die jedesmal hervorgekrochen kamen, wenn die Zivilisation zusammenbrach; Diphtherie, Cholera, Typhus, Malaria, das Hantavirus.
Es war völlig blödsinnig gewesen, die Wasseradern von Westtexas auszutrocknen, aber im Vergleich zu den wahrhaft monumentalen Ökoschnitzern des Planeten fiel das kaum ins Gewicht. Zum Beispiel angesichts der Vergiftung des besten Ackerlandes von China, Ägypten und Indien durch zu salzhaltiges Wasser. Oder der Rodung des tropischen Regenwaldes in Indonesien und Brasilien. Der Ausbreitung der Sahara.
Aber wozu das alles erwähnen? Ellen Mae hätte sowieso nichts davon gehabt. Wenn man alles verlor, ließ man sich nicht dadurch trösten, daß es irgendwo irgend jemandem noch schlechter erging. Die Leute, die den Schmerz eines anderen nach seinen Privilegien beurteilten, waren von niedriger Denkungsart - die Art Leute, die glaubten, es sei ein Spaß, Invalide zu sein, solange man reich war. Alex wußte es besser. Klar, wäre er arm gewesen, wäre er schon längst tot - das wußte er. Aber er war nicht arm. Er war Sohn reicher Eltern, und wenn er dabei ein Wörtchen mitzureden hatte, sollte es auch so bleiben. Das machte sein Leben aber noch lange nicht zu einem Sonntagsspaziergang. Sollte sie nur reden.
»Als ich so weit gekommen war«, sagte Ellen Mae, »beschloß ich, möglichst viel über die Komantschen in Erfahrung zu bringen.«
»Wie das?«
Sie zögerte. »Alex, es gibt zwei Sorten von Menschen auf der Welt. Die Menschen, die nichts wissen wollen, selbst wenn sie etwas wissen sollten. Und die Menschen, die einfach etwas wissen müssen, selbst wenn es ihnen nicht weiterhilft.« Sie lächelte ihn an. »Wir von der Truppe gehören alle zur zweiten Gruppe. Leute, die einfach wissen müssen, selbst wenn sie nicht das geringste daran ändern können.«
Alex brummte etwas. Er persönlich gehörte einer anderen Gruppe an. Er hatte nichts gegen das Wissen an sich, war allerdings nicht bereit, deswegen besondere Mühen auf sich zu nehmen.
»Daher hab ich viel über die Komantschen gelesen. Ich meine, jetzt, wo die Städte verlassen und die Rinder verschwunden waren, war es viel leichter, das Nomadenleben zu begreifen… Das ist das Gute an unserer heutigen Lebensweise. Man kann umsonst alles mögliche lesen, solange man nur einen Laptop in Reichweite hat. Also las ich diese Online-Bücher über die Komantschen und ihre Lebensweise, während ich mein Zeug in Lastern herumschleppte, jagte und Schrottmetalle sammelte.
In dieser Zeit fing ich an, das Land wirklich zu begreifen. Zum Beispiel, warum die Texas Ranger uns Schrottsammlern die Hölle heiß machten. Warum sich die Ranger überhaupt hier draußen blicken ließen, warum sie Konvois aufspürten und auf uns schossen. Die hatten Datenbanken, Handys und was nicht noch alles, aber ansonsten hatten die Texas Ranger nichts Smartes oder Modernes an sich - die Ranger von 2020 waren noch genau die gleichen gottverdammten Texas Ranger von 1880! Und wenn man ein Nomade war und in Westtexas in einem Zelt im Freien kampierte, dann kamen die Ranger einfach nicht damit klar! So einfach war das!« Sie schüttelte die Suppenkelle. »Die ertrugen es einfach nicht, daß wir hier draußen in den Trümmern rumwühlten, daß wir nicht verduftet und brav dorthin gegangen waren, wo die Regierung uns hatte hinhaben wollen. Daß wir keine Steuern zahlten, uns nicht impfen ließen und keine Gesetze hatten.« Sie rührte den Eintopf um, probierte davon und krümelte dann getrockneten Ancho-Pfeffer hinein.
»Klar, hin und wieder ließen sich ein paar Trümmerfreaks total vollaufen und zertrümmerten irgendwelches Zeug in einer Stadt, wo noch Leute lebten. So was kam vor, das will ich auch gar nicht leugnen. Wir waren alle nicht perfekt. Aber die Ranger nahmen das als Vorwand für alles mögliche. Sie wollten uns einfach nicht in Ruhe lassen. Sie vertrieben uns, sie schossen auf uns und sperrten uns ein, und sie steckten uns in Lager.«
»Und was habt ihr dann gemacht?«
»Na ja, ich wurde ebenfalls eingesperrt, daher ging ich nach Oklahoma, um ein paar echte Komantschen zu treffen.«
»Ach, wirklich?«
»Scheiße, ja! In Oklahoma leben heute, nach allem, was passiert ist, mehr Komantschen als damals, wo sie das Land noch für sich hatten. Das ist das Merkwürdigste dabei. Die Komantschen sind nicht etwa ausgestorben. Sie haben sich bloß verändert und sind fortgezogen. Dort oben haben sie sich dann vermehrt, genau wie die anderen Volksgruppen auf der Erde. Es gibt Tausende von Komantschen. Sie betreiben Ackerbau, sie besitzen Läden und so Zeug… und sie stehen auf Kirchen, weißte, sind begeisterte Kirchgänger. Nichts von diesen verrückten Kultgeschichten, sondern gute, altmodische Christen. Ich würd sie nicht gerade als wohlhabend bezeichnen, für amerikanische Verhältnisse sind sie verdammt arm, aber im TV sieht man viel Schlimmeres.«
»Ich verstehe. Und was hast du von ihnen gelernt?«
Ellen Mae lachte. »Tja, ich hab einen geheiratet… Aber von der Büffeljagd wissen sie nicht mehr, als du darüber weißt, was es heißt, für die Deutschen zu spionieren, Junge. Ich weiß nicht… die ältesten gebrauchen hin und wieder noch die alte Sprache, man kann noch ein bißchen von der alten Lebensweise schnuppern, aber nur ein bißchen. Ich wollte etwas über ihre Kräuterkunde lernen, darüber, wie man sich vom Land ernährt. Aber das meiste hab ich aus Textfiles und Datenbanken erfahren. Scheiße, Alex, das ist hundertfünfzig Jahre her.«
Sie seufzte. »Das ist eine lange Zeit. Ich meine, ich bin in Westtexas aufgewachsen. Ich war die brave Tochter einer ehrbaren Rancherfamilie, besuchte die Highschool, sah fern, kaufte mir Klamotten und Schuhe und ging tanzen… Wir glaubten, das Land gehöre uns. Wieviel, glaubst du, wird in hundertfünfzig Jahren davon noch übrig sein? Ein Scheißdreck, Alex. Nichts.«
»Also, das würde ich nicht sagen«, meinte Alex. »Schließlich gibt es ja Regierungsakten. Damit kennt sich die Regierung richtig gut aus. Mit Datenbanken und Statistiken. So Zeug auf Platindisketten, die in Salzminen aufbewahrt werden.«
»Sicher, und in Anadarko gibt es ein Indianermuseum, wo alles ein nettes kleines Schildchen hat, aber es ist verschwunden, Junge! Die Komantschen wurden vernichtet und fortgeweht! Wir wurden vernichtet und fortgeweht! Erst haben wir das ihnen angetan. Und dann haben wir es dem Land angetan. Und dann haben wir es uns selbst angetan. Ich wüßte wirklich nicht, warum sich jemand für uns interessieren sollte, wenn wir erst mal von der Bildfläche verschwunden sind.«
Alex war beeindruckt. Er hatte schon erlebt, daß alte Menschen im Fernsehen in den Schnarchshows offen über den sich verschlimmernden Zustand der Welt geredet hatten, in den simpleren, altmodischeren Talkshows, die ohne viel Videoeffekte auskamen und wo die Leute nicht viel machen mußten. Aber normalerweise machte es alte Menschen eher verlegen, solche Themen vor jungen Leuten anzusprechen. Wahrscheinlich wegen der inhärenten Implikation, daß die Alten Ökokriminelle waren. Die man eigentlich vor einem Jugendlichentribunal wegen der Verbrechen gegen die Biosphäre hätte anklagen sollen.
Nicht, daß die Alten dies jemals zulassen würden. Es gab haufenweise Alte, die in der ganzen Welt an allen möglichen Hebeln saßen, und trotz der grotesken Dummheiten, die sie begangen hatten, eilte es ihnen nicht damit, auf ihre Macht zu verzichten. Manchmal spielten sie auf die furchtbaren Folgen der Unwetter an, jedoch stets auf eine schönfärberische, sehr abstrakte Weise, als stünden die Katastrophen um sie herum in keinerlei Zusammenhang mit ihrem früheren Verhalten.
Irgendwie glaubte Alex daran, daß irgendwann der Tag der Abrechnung kommen würde. Dann, wenn alle, die für schuldig befunden werden könnten, friedlich unter der Erde ruhten. Wahrscheinlich würde es so sein wie damals, als endlich das kommunistische Regime in China gestürzt wurde. Zahllose Tribunale, geleitet von Anzugtypen, die schwere Anklagen gegen eine Unmenge Verstorbener vorbrachten.
»Also, man merkt schon, daß du was Brauchbares gelernt hast«, sagte Alex. »Ich hab nämlich noch nie jemanden so was essen sehen wie euch.«
»Die Erzeugnisse des Landes«, sagte Ellen Mae und nickte. »Leicht ist das nicht, das ist mal klar. Das alte Artengleichgewicht und die ursprüngliche Ökologie sind hier völlig auf den Hund gekommen. Glaub mir, die High Plains sind nicht mehr das, was sie mal waren, und werden es auch nie wieder sein. Überall diese fremdländischen Pflanzen, eingeschleppte Spezies, ausgelaugter Boden, und das Klima spinnt. Die Flora von Westtexas war aber schon immer gut an ein hartes Klima adaptiert. Deshalb findet man noch immer Komantschennahrung. Gänsefuß zum Beispiel. Mann, Gänsefuß ist ein Amarant, ein richtig nahrhaftes Getreide, aber er wächst aus jedem geborstenen Bürgersteig. Wenn man nicht drüber Bescheid weiß, würde man nie auf die Idee kommen, Gänsefuß zu essen.«
»Stimmt«, meinte Alex. Er hatte noch nie Gänsefuß gesehen - oder zumindest hatte er ihn nicht als solchen erkannt. Er verspürte die furchtbare Gewißheit, daß er über kurz oder lang welchen würde essen müssen.
»Es ist lange her, daß jemand herging und wildwachsende Nahrung gesammelt hat. Aber jetzt, wo die Begrasung aufgehört hat, ist der Druck von den einheimischen Pflanzen genommen. Es wird auch nicht mehr gepflügt, es gibt keine Getreidefelder, keine Herbizide und keinen Kunstdünger mehr. Daher entwickeln sich einige dieser einheimischen Pflanzen trotz des schlechten Wetters erstaunlich gut. So Zeug wie die Mohnmalve, oder Ackerhahnenfuß oder die Präriezwiebel. Für eine ganze Stadt würde es bei weitem nicht reichen. Aber für einen kleinen Stamm umherziehender Nomaden, die weite Gebiete abernten, nun, für den gibt es eine Menge Nahrung hier draußen, besonders im Frühjahr und im Sommer.«
»Ich schätze, die Truppe hat ziemliches Glück gehabt, daß du hier gelandet bist«, sagte Alex.
»Nein«, erwiderte Ellen Mae, »mit Glück hat das nichts zu tun.«
Nachdem Jerry und Sam über der Wettervorhersage gegrübelt hatten und nachdem Joe Brasseur eine legale Datenbank nach geeigneten Lagerplätzen durchforstet hatte, entschieden sie sich für ein Ziel und gaben die Route bekannt. Die Truppe brach das Lager ab.
Joe Brasseur, das älteste Gruppenmitglied, hatte das Abbrechen des Lagers einmal als ›arbeitsintensiv‹ bezeichnet. Jane fand diesen Ausdruck erheiternd altmodisch, verstand jedoch durchaus, was er bedeutete - diese Arbeit konnte man nicht auf Maschinen abwälzen, und daher mußten alle Beteiligten eben schwitzen.
Die Gruppenmitglieder holten sämtliche Teppiche aus den Zelten, klopften hunderte Kilos Staub heraus und rollten sie ordentlich zusammen. Sie ließen die Luft aus dem Bubblepak ab und rollte auch dieses zusammen. Peter, Martha und Rick machten sich energisch daran, die Masten abzubauen - was für die Zuschauer jedesmal eine nervenaufreibende Angelegenheit war -, während Greg, Carol und Mickey sich um die Instrumente und den Windgenerator kümmerten.
Dann mußten noch die Wigwams und Jurten abgebaut, zusammengelegt und verpackt werden, die Geräte mußten abgeschaltet, von Kabeln befreit und verstaut werden. Und dann stand noch ein Lagerfeuer an, die letzte große Mahlzeit im Camp und das rituelle Bad… Jane legte sich mächtig ins Zeug. Sie fühlte sich gut nach dem einen Tag Pause, sie fühlte sich hellwach und stark. Sie hatte Lust auf Arbeit, sie würde ihr Pensum mit angespannter, nervöser Energie angehen, und wenn sie fertig war, würde sie mit einem zufriedenen Gefühl im Truppenbus schlafen, der übers nächtliche Land fuhr.
Sie schleppte gebündelte Zeltstangen zu einem der Laster, als sie Alex vorbeischlurfen sah.
Zunächst hätte sie ihren Bruder fast nicht erkannt; eine seltsame, gebeugte, gnomenhafte Gestalt, die eher einem Kriegsgefangenen glich als einem Truppenbewerber. Er trug einen schmutzigen Papieranzug und einen großen Sombrero aus Papier und Karton und hatte sich eine große weiße Atemmaske über Nase und Mund gestreift.
Er hatte eine große Grabhacke dabei. Sie hatte noch nie jemanden eine Hacke mit weniger Begeisterung tragen sehen - Alex trug sie unbeholfen in Höhe des Oberschenkels, mit gestreckten Armen, als wäre sie eine Art Hantel.
Er stapfte langsam aus dem Lager hinaus. Jane rief ihm hinterher und winkte, dann trabte sie ihm nach, bis sie ihn unmittelbar hinter einem der Begrenzungspfosten eingeholt hatte.
»Was ist denn mit dir?« murmelte er.
»Wollte bloß mal sehen, wie's dir geht«, sagte sie. Sie blickte in seine hellen, blinzelnden Augen. »Würd's dir was ausmachen, die Maske mal für einen Moment abzunehmen?«
Alex zog unbeholfen die Maske nach unten. Von den dünnen, elastischen Haltebändern der Maske waren auf seinen geröteten Wangen vier schmale Streifen bleicher Haut übriggeblieben. »Ellen Mae möchte, daß ich eine Wurzel ausgrabe.«
»Ach.« Jane fand, Alex wirke wacklig auf den Beinen, und sie war sich ziemlich sicher, daß er noch nie im Leben eine Hacke angerührt hatte. »Bist du für die Art Arbeit denn schon fit? Du bist gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen.«
»Ich werd mich nicht anstrengen«, erklärte er geduldig. »Das ist doch bloß so ein Beschäftigungsscheiß. Ellen Mae will mich aus dem Weg haben, damit mir die großen Sendemasten nicht auf den Kopf fallen.«
»Kommst du gut mit Ellen Mae aus?«
»Ich komme schon klar.« Alex seufzte. »Deine Leute haben schon was. Irgendwie erinnern sie mich an Yoruba-Leute, die ich mal kannte, auf einem Rancho außerhalb von Matamoros. So 'ne Art Überlebenskünstler waren das. Die hatten Bunker, weißte, und Sicherheitssysteme und so Zeug… Allerdings waren diese Dope-Vaqueros viel härter drauf als die Typen hier.« Alex klopfte mit der Breitseite der Hacke gegen einen der Begrenzungspfosten. »Dieses Ding kann uns doch nicht belauschen, oder?«
»Also, eigentlich schon«, gab Jane zu, »aber Sprache zeichnen wir damit nicht auf. Das ist bloß ein Alarmgerät, mit ein paar Tasern, Schrotmunition und so Zeug. Wir können reden.«
»Kein Problem«, murmelte Alex, der beobachtete, wie ein paar Trouper die Papierwände von der Hangarjurte abnahmen. »Also, du brauchst dir wegen mir keine Sorgen zu machen. Nur zu, mach dich nützlich.«
»Geht dir jemand auf den Wecker, Alex? Rick, Peter oder sonst jemand?«
Alex zuckte die Achseln. »Du gehst mir auf den Wecker.«
»Sei doch nicht so. Ich will dir doch bloß helfen.«
Alex lachte. »Also weißt du! Du hast mich gewaltsam hierhergebracht, ich hab dich nicht drum gebeten. Ich hab Sonnenbrand und überall Mückenstiche, und ich bin total verdreckt. Das Essen hier ist beschissen. Es gibt nicht genug Wasser. Es gibt keine Privatsphäre. Es ist gefährlich! Ich trage Papierklamotten. Deine Freunde sind ein Haufen irrer Provinzler, abgesehen von deinem Macker, der ein großer Pappnasenindianer ist. Unter den gegebenen Umständen komme ich wirklich gut klar.«
Jane schwieg.
Er blickte ihr in die Augen. »Hör auf, dir um mich Sorgen zu machen. Ich mach schon keine Dummheiten. Wenn ich größer, stärker und netter war, würde ich mit deinem Freund mal ein ernstes Wörtchen über dein Gestöhn von letzter Nacht reden.« Er schüttelte den Kopf mit dem großen Papierhut. »Aber das werd ich nicht. Ich glaub, ich weiß, was für ein Typ dieser Mulcahey ist, und ich glaube, du bist verrückt, dich mit so einem Kerl einzulassen. Aber, na ja, mir steht da kein Urteil zu. Das ist dein Leben und deine Entscheidung.«
»Vielen Dank«, meinte sie spitz.
Er lächelte sie an. »Du bist hier richtig glücklich, stimmt's?«
Sie wirkte überrascht.
»Ich hab schon ein paarmal erlebt, daß du ziemlich abgedreht warst, und ich glaube immer noch, daß du dich echt seltsam verhältst. Aber ich hab dich noch nie so glücklich erlebt.« Er lächelte wieder. »Du machst im Ödland Jagd auf Tornados! Aber dabei läufst du hier mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Lied im Herzen und einem kleinen Sträußchen Feldblumen rum… Das ist wirklich süß.«
Jane richtete sich zu voller Größe auf und blickte auf ihn hinunter. »Ja, Alex, ich bin hier glücklich. Mit allem, bloß nicht mit dir.«
»Du gehörst hier wirklich her. Du magst diese Leute.«
»Das stimmt. Das sind meine Leute.«
Alex kniff die Augen zusammen. »Dieser Typ, mit dem du da zusammen bist. Behandelt er dich gut? Er hat dich doch nicht etwa verprügelt oder irgendwas Krankes mit dir angestellt, oder?«
Schäumend vor Wut schaute Jane sich um, ob irgendwelche Zuhörer in der Nähe waren, dann faßte sie Alex in den Blick.
»Nein. Er schlägt mich nicht. Ich habe mit ihm gevögelt. Ich vögele gern mit ihm. Leidenschaftlich! Laut! Oft! Und ich schäme mich nicht deswegen, und du wirst mich auch nicht dazu bringen, daß ich mich schäme!« Ihre Wangen und Ohren waren gerötet. »Kapier das endlich! Das ist der Mann meines Lebens! Meine große Liebe.« Sie starrte Alex solange durchdringend an, bis er den Blick senkte.
»Ich habe nie geglaubt, daß ich so was mal erleben würde«, sagte sie. »Ich hab nie an die große Liebe geglaubt. Ich dachte, das war ein Hollywood-Mythos oder etwas aus der Zeit vor hundert Jahren. Aber jetzt erlebe ich eine große Liebe, und er ist mein Mann. Es wird nie einen anderen wie ihn für mich geben. Niemals!«
Alex wich einen Schritt zurück. »Okay, okay.«
»Wir bleiben zusammen, bis der Himmel einstürzt!«
Alex nickte rasch, mit aufgerissenen Augen. »Okay, schon kapiert, Janey. Beruhig dich.«
»Ich bin ruhig, du kleines Arschloch. Und das ist kein Witz. Du kannst das gar nicht ins Lächerliche ziehen, weil du nämlich überhaupt keine Ahnung hast. Ich liebe ihn, und ich bin mit ihm glücklich, und wir tun, was wir tun, und wir sind, was wir sind, und damit solltest du dich besser abfinden! Und vergiß niemals, was ich dir gerade gesagt habe.«
Alex nickte. Daran, wie er sich auf die Lippen biß, merkte sie, daß ihre Worte angekommen waren - ob zum Guten oder zum Schlechten, jedenfalls hatte sie ihn erreicht. »Ist schon gut, Janey. Ich beklag mich ja nicht. Ich bin froh, daß ich dich so erleben konnte, ja, wirklich. Das ist alles echt seltsam, aber erfrischend.« Er hob verlegen die Achseln. »Es ist bloß - du hättest mich nicht hierherbringen sollen. Ich bin anders als diese Leute. Du hättest mich einfach in Ruhe lassen sollen.« Er hob behutsam die Hacke hoch und legte sie sich auf die schmale Schulter.
»Wirst du eine Weile bei der Truppe bleiben, Alex?«
»Eigentlich sollte ich dich bitten, mich auf der Stelle nach Hause zu bringen.« Er balancierte den Hackenstiel auf seinem Schlüsselbein, unbeholfen und rastlos. »Aber ich habe im Moment kein Zuhause, wo ich hingehen könnte. Mexiko fällt aus naheliegenden Gründen flach. Zu Papa nach Houston will ich jedenfalls nicht. Papa behandelt mich noch merkwürdiger, als du es tust, und die Leute von der Klinik könnten nach mir suchen… Außerdem hat die Situation auch ihre Vorteile. Es ist dämlich, daß ich hierbleibe, aber ich glaub, eine Weile könnte ich's schon aushalten, wenn ich die Leute dazu kriege, daß sie mich möglichst wenig beachten. Vor allem dich.« Er wandte sich ab. »Alex«, sagte sie.
Er blickte sich über die Schulter um. »Was ist?« »Such dir irgendeine Beschäftigung. Wie alle anderen auch. Dann kommst du auch besser klar.« Er nickte. »Okay, Juanita. Ganz wie du willst.«
Alex folgte Ellen Maes präzisen, wenn auch total verwirrenden Anweisungen, verlief sich mehrmals und fand endlich den mit einem Papierfähnchen versehenen Stock, mit dem sie die Stelle im Erdboden markiert hatte. Das flatternde Papierfähnchen markierte eine krumme Wurzel im Boden. Das Schlinggewächs war etwa zwei Meter lang, hatte behaarte, spitze, konisch zulaufende Blätter und verströmte einen widerlichen Geruch. Es beherbergte eine große Kolonie kleiner, schwarz-orangefarbener Käfer. Es wurde Büffelkürbis genannt. Alex schob die Ranke mit der flachen Seite der Hacke beiseite, nahm den Schaft beidhändig in den Würgegriff und begann auf die gelbe Erde einzuhacken. Die Hacke sagte ihm zu. Das Gerät war gut ausbalanciert, scharf und in gutem Zustand. Leider war er nicht einmal annähernd kräftig genug, um es richtig einzusetzen.
Alex hackte, schabte und kratzte sich mehrere Zentimeter tief in den elenden, unnachgiebigen Boden vor, bis er schweißgebadet war und seine streichholzdünnen Arme zitterten.
Als er die vergrabene Wurzel des Büffelkürbis erblickte, starrte er sie verblüfft eine Weile an, dann ließ er die Hacke neben dem Loch liegen und ging langsam zum Camp zurück.
Carol Cooper hatte zwei Träger aus der Wand der Garagenjurte herausgezogen. Durch die neuentstandene Lücke rollte die Straßenwartungsmaschine hervor.
Carol schaute zu, wie die Maschine schwerfällig den Hügel hinunterrumpelte, und legte gleichzeitig die Holzstäbe zusammen und zurrte sie fest. Alex gesellte sich zu ihr und zog die Atemmaske herunter.
Die Maschine erreichte den Highway, zögerte kurz und rollte dann mit zehn Stundenkilometern nach Süden.
»Hoffentlich bekommt das arme Ding ein paar Straßenmarkierungen aufgemalt, bevor's wieder zusammengeschossen wird«, sagte Carol und stapelte die Stangen auf der Ladefläche des Lasters. »Was gibt's, Mann? Ich hab zu tun.«
»Carol, was ist das Abgefahrenste, was es hier gibt?«
»Was redest du denn da für einen Scheiß?«
»Gibt es irgend etwas wirklich Seltsames, mit dem sich sonst niemand hier beschäftigt?«
»Oh«, sagte Carol. »Jetzt kapier ich.« Sie grinste. »Etwas davon steckt in jedem Trouper. Diese altmodische Lust am Herumbasteln. Der alte Spieltrieb, stimmt's?« Carol blickte sich in der Garage um, schaute auf die Gerätehaufen, den Schraubstock, eine professionelle Klebstoffpistole. »Hast du Lust, mir beim Zusammenpacken zu helfen? Rudy und Greg kommen später.«
»Ich würd ja gern«, log Alex, »aber ich habe schon eine Verabredung.«
»Also, ich werd jedenfalls froh sein, wenn ich damit fertig bin. Wenn du spielen willst, dann kannst du dir dieses Scheißding vornehmen.« Carol ging zur Schweißbank und nahm einen langen, verstaubten schwarzen Schlauch herunter. Er sah aus wie die Sauerstoffzufuhr des Schweißbrenners, ein großer Haufen dünner, schwarzer Plastikschlauch. Als sie damit zu Alex hinüberging, bemerkte er, daß das, was auf den ersten Blick wie ein Schlauch ausgesehen hatte, in Wirklichkeit ein glattes, schwarzes, geflochtenes Seil war.
Das eine Ende des Seils endete in einem flachen Batteriegehäuse, daran befestigt waren ein Gürtelclip, ein kleiner Monitor und ein Steuerhandschuh.
»So was schon mal gesehn?«
»Na ja, 'ne Batterie und 'nen Steuerhandschuh seh ich nicht gerade zum erstenmal«, antwortete Alex.
Sie reichte ihm das Gerät. »Yeah, das ist eine verdammt gute Batterie! Supraleitend. Mit dieser Batterie könnte man ein Motorrad antreiben. Und da steh ich nun und passe auf, daß die Batterie auch geladen ist - und niemand benutzt das Scheißding!« Sie runzelte die Stirn. »Wenn du die Batterie ruinierst, Kleiner, hab ich aber was bei dir gut.«
»Hast du, hast du«, versicherte ihr Alex. »Meine Leute in Matamoros haben eine Lieferung fertig, sie warten bloß noch darauf, daß wir ihnen die Koordinaten geben.«
»Normale Satellitenkoordinaten?«
»Die benutzen sie, stimmt«, sagte er. »Genau wie die Truppe, wie die Armee, wie überhaupt jeder.«
»Ich kann sie dir jederzeit geben, es ist ja schließlich kein großes Geheimnis, wo wir das Lager aufschlagen.«
»Das ist gut. Ich probier's mal und ruf sie an, wenn ich eine verschlüsselte Leitung kriege.«
»›No problema«, meinte Carol gelangweilt. Sie schaute zu, wie Alex das Seil hochhob und sich die Schlingen über die rechte Schulter legte. Offenbar drückten sie ihn nicht. Das Kabel wog nur ein paar Kilo, fühlte sich aber seltsam schlangenartig und geschmeidig an, trocken und schmierig zugleich. Es war so dick wie sein kleiner Finger und etwa zwanzig Meter lang. »Was ist das überhaupt?«
»Ein smartes Seil.«
»Und was ist smart daran?«
»Also, in dem Batteriegehäuse befindet sich ein Chip, der sich mit Knotentopologie auskennt. Weißt du, was Topologie ist?«
»Nein.«
»Das ist eine spezielle Mathematik, die sich mit der geometrischen Umformung des Raumes befaßt.«
»Na prima.«
»Jedenfalls ist das Seil aus einer Menge einzelner Kabel geflochten. Sensorkabel, Stromkabel, und das hier ist der Trick bei der Sache, die elektrisch reaktive Leitung. Okay? Es kann sich strecken und zusammenziehen - fest und schnell -, es kann sich biegen und überall hinwinden, so weit es reicht. Das verdammte Ding kann sich sogar selbständig verknoten.«
»Genau wie die smarte Drachenbespannung«, sagte Alex, »bloß daß es ein Seil ist, kein Stück Stoff.«
»Das stimmt.«
»Warum hast du dann versucht, mir mit diesem Topologikram einen Schrecken einzujagen? Man benutzt dazu den Scheißhandschuh, stimmt's?«
»Stimmt«, sagte sie. »Man muß dabei technisch werden, sonst kapierst du nicht, was du eigentlich tust.«
»Und? Wen juckt's?«
Carol seufzte. »Hör mal, nimm das Scheißding einfach mit und paß auf, daß du dir nicht damit weh tust. Ich will das Kabel nie wiedersehen, okay? Als ich das erste Mal davon hörte, dachte ich, das ist echt coole Hardware, und ich hab 'ne Menge von Janeys Geld dafür ausgegeben. Ich dachte, für ein smartes Seil müßte es in einem Lager doch zahllose Verwendungsmöglichkeiten geben, und, Shit, es gibt auch zahllose Verwendungsmöglichkeiten - so gottverdammt viele, daß es einfach nie jemand benutzt! Es denkt einfach nie jemand dran! Niemand mag es! Die kriegen davon alle eine Gänsehaut.«
»Okay!« meinte Alex erfreut. Die letzten Bemerkungen hatten ihm moralischen Auftrieb gegeben. Er mochte das smarte Seil bereits. Er war froh, es zu haben. Irgendwie bedauerte er, daß er nur eins hatte. »Ich werd wirklich gut drauf aufpassen. Und denk ans Telefon. Hasta la vista.«
Alex ging aus dem Zelt und schlurfte wieder aus dem Lager, zurück zu der verdammten Wurzel. Er schabte und schippte und grub eine Weile an der Wurzel herum, bis er wieder außer Atem war. Dann streckte er das Seil volle zwanzig Schritte lang auf dem unkrautbewachsenen Boden aus. Er schaltete den Strom ein.
Das Seil lag völlig reglos da. Auf dem kleinen Monitor war zu lesen:
INPUT-PARAMETER
FÜR HYPERBELKRÜMMUNG.
Er probierte den Steuerhandschuh an. An der Rückseite befanden sich die üblichen Knöchelsensoren, und entlang der Handflächen und Finger war er übersät mit zahllosen kleinen Druckzellen. Es war ein Rechtshänderhandschuh, und er paßte ziemlich gut. Die Fingerspitzen waren frei, und der Handschuh glitt sehr angenehm am Seil entlang, eine nette Mischung aus festem Griff und Glätte.
Alex tippte wahllos ein paar Zahlen in die Anzeige ein, dann schwang er das Seil mit dem Handschuh hin und her. Es passierte nicht viel. Er legte das Seil wieder weg und behielt den Handschuh an, als er mit der Hacke weitergrub. Der Handschuh verlieh ihm einen festen Griff und würde vielleicht verhindern, daß er an der Hand Blasen bekam.
Als die Sonne unterging, tauchten Peter und Rick auf. Sie trugen saubere Papierkleidung frisch von der Rolle, und sie hatten gebadet und sich gekämmt.
»Du solltest besser zurück ins Camp kommen, Pillenfreak«, sagte Peter. »Alle waschen ihre Klamotten, alle nehmen ein Bad, und bald gibt's auch was zu Essen.«
»Ich bin noch beschäftigt«, erwiderte Alex.
Rick lachte. »Beschäftigt womit?«
»Ziemlich große Sache«, antwortete Alex. »Mit einem Büffelkürbis. Ellen Mae hat gemeint, die Wurzel würde dreißig Kilo wiegen.«
»Eine Wurzel, die dreißig Kilo wiegt, gibt es nicht, Mann«, sagte Rick. »Nicht mal Bäume haben so schwere Wurzeln.«
»Wo ist die Pflanze?« fragte Peter.
Alex deutete auf die durchtrennte Ranke, die er beiseitegeworfen hatte. In der Sonne war sie bereits arg geschrumpft.
»Shit«, meinte Rick verächtlich. »Weißt du, das ist ein simples Naturgesetz. Es erfordert eine Menge Energie, eine Wurzel zu bilden - Stärke, Cellulose und dieses Zeug. Guck dir doch mal die Photosynthesefläche der Blätter an. Eine Pflanze mit so wenig Solarzellen kann unmöglich etwas bilden, das dreißig Kilo wiegt.«
Peter blickte in das flache Loch und lachte. »Ellen Mae hat dich ganz schön verarscht. Sie hat dich einen ganzen Tag für nichts und wieder nichts graben lassen. Mann, das ist hart.«
»Na ja, besonders hart gegraben hat er ja nun nicht gerade«, meinte Rick und tippte mit der Stiefelspitze gegen den kleinen Haufen kreidehaltiger Erde. »Da gräbt ja schon ein Präriehund einen größeren Haufen aus.«
»Was ist mit dem Seil?« fragte Peter.
»Ich hab mir gedacht, damit könnte ich vielleicht die Wurzel rausziehen«, log Alex schlagfertig. »Ich bekomme nicht mal dreißig Kilo hoch.«
Peter lachte erneut. »Das ist wirklich tragisch! Also hör zu, kurz nach Sonnenuntergang kommen wir wieder her. Du solltest machen, daß du zum Camp zurückkommst und dir eine Mitfahrgelegenheit besorgst.«
»Wo fährst du mit?« fragte Alex.
»Ich?« sagte Peter. »Ich fliege den Ultralight! Ich bin für die Eskorte eingeteilt.«
»Ich auch«, meinte Rick. »Mit 'nem Gewehr. Auf diesen Highways trifft man manchmal auf Banditen. Terrorgruppen, Guerillakämpfer. Meistens fahren sie in Konvois, so wie wir, und mit der ganzen tollen Ausrüstung, die die haben, stellen sie ein ganz schönes Risiko dar. Aber nicht für die Truppe. Die Truppe hat Luftunterstützung.«
»Terrorleute mit Luftunterstützung findest du so schnell nicht«, sagte Peter.
»Genau«, meinte Rick. »Man fliegt im Dunkeln hoch, ohne Lichter, lautlos, mit Infrarothelm und Schalldämpfergewehr mit Lasersucher - wenn's hart auf hart kommt, ist man der Tod auf leisen Schwingen.«
»Ein Schuß, ein Treffer, keine Ausnahmen«, sagte Peter.
»Panoptische Schlachtfeldüberwachung«, meinte Rick.
»Schweben wie ein Schmetterling, zustechen wie eine Wespe.«
»Gegenspionage aus der Luft - die einzige Art zu reisen.«
Alex blinzelte. »Das würde ich gern machen.«
»Klar«, sagte Peter.
»Du kriegst meine Wurzel dafür, Peter.«
Peter lachte. »Kommt gar nicht in die Tüte, Mann.«
»Lust auf 'ne Wette? Mach schon, wette mit mir.«
Peter blickte ins Loch. »Wetten, worum? Da drin ist nichts, Mann. Bloß dieser große Steinbrocken.«
»Der Steinbrocken ist die Wurzel«, sagte Alex. »Und nicht bloß dreißig Kilo schwer. Ich schätze die auf mindestens achtzig… Dieses armselige kleine Gewächs muß mindestens zweihundert Jahre alt sein.«
Rick starrte ins Loch, dann spuckte er in die Hände und hob die Hacke. »Er hat dich drangekriegt, Pete. Wenn er recht hat, und du hast dich geirrt, dann fliegt er Eskorte, und du guckst in die Röhre und fährst mit Janey im Bus.« Er lachte brüllend und ließ die Hacke niederkrachen.
Jane brannten vom Desinfektionsmittel immer noch die Augen. Baden tat immer weh. Anfangs hatte sie sich geweigert, antiseptisch zu baden, bis sie die Narbenkrater auf Joanne Lessards Schultern gesehen hatte. Joanne war zierlich, hatte helle Haut und wäre an den Staphylokokken-Beulen beinahe gestorben. Mit den Bombay-Staphylokokken IIb war nicht zu spaßen; über Breitbandantibiotika lachten sie sich bloß ins Fäustchen. Moderne Staphylokokkenstämme waren hervorragend ans Überleben auf der häufigsten, nahrhaftesten modernen Umgebung angepaßt; der weitläufigen Weidefläche der lebenden menschlichen Haut.
Jane brannten die Augen, und es juckte sie zwischen den Beinen, aber wenigstens war ihr Haar sauber, und sie roch gut. Das Gefühl von frischem, sauberem Papier auf ihrer feuchten Nacktheit, was dem Herumlaufen im Frotteemantel und mit einem Handtuch ums Haar im Truppenleben am nächsten kam, hatte sie sogar genossen. Draußen vor der Kommandojurte hallte das Camp von bestialischem Gebrüll wider, als Ed Dunnebecke einen weiteren Kessel kochendheißes Wasser in die Stoffwanne goß. Heißes Wasser fühlte sich so wunderbar an - zumindest solange, bis sich die Poren öffneten und Eds Desinfektionsmittel für Schafe zu brennen begann.
Die Datenübertragungssysteme der Truppe abzuschalten, war eine knifflige Arbeit. Selbst die untergeordneten Systeme wie beispielsweise die kleinen Telefonschalter arbeiteten mit einer Million Zeilen uralter Firmenshareware oder mehr. Die Software war im zwanzigsten Jahrhundert von riesigen Teams von Softwareentwicklern entworfen worden, von Mitarbeitern der vom Markt verschwundenen Telefonimperien AT&T und SPRINT. Jetzt war sie Freeware, weil die Software veraltet war und weil alle, die daran gearbeitet hatten, entweder tot oder woanders beschäftigt waren. Diese Heerscharen von Fernmeldetechnikern waren nun ebenso zerstreut und ausgelöscht wie die Rote Armee.
Diese Heerscharen von Telefonexperten hatten vor allem aufgrund der Automatisierung ihre Existenzgrundlage verloren und waren von immer leistungsfähigeren Spezialsystemen ersetzt worden, die sich nun um die Fehlersuche, Resets und Fehlerbehebung kümmerten. Heutzutage konnte jeder diese Technologie nutzen - jeder, der über einen Stromanschluß und einen Schreibtisch verfügte. Der Schweiß und das Talent zehntausender kluger Leute war in einen Kasten eingegangen, der in der Hand Platz hatte und den es auf dem Flohmarkt zu kaufen gab.
Die Umschaltstationen der Truppe waren lächerlich billige kleine Kästen aus recyceltem, kotzgrünem Kunststoff, made in Malaysia. Sie kosteten etwa soviel wie ein gutes Paar Schuhe.
Auf der ganzen Welt gab es keinen einzigen Menschen mehr, der vollständig begriffen hätte, was in diesen kleinen Kästen eigentlich vor sich ging. Genaugenommen hatte noch nie jemand die intellektuelle Struktur dieses komplizierten Geräts zur Gänze verstanden. Jedes Gerät, das mit einem Programm von über einer Million Zeichen lief, war dem unmittelbaren Begreifen entzogen. Außerdem war es einfach nicht möglich, auf einer intimen Zeile-für-Zeile-Basis dabei zuzusehen, wie diese modernen Wahnsinnschips den alten
Programmcode verarbeiteten. Das war, als wollte man jede einzelne Unterhaltung auf einer Cocktailparty belauschen, auf der mehr Gäste erschienen waren als Manhattan Einwohner hatte.
Als Einzelner konnte man nur auf einer sehr abgehobenen und abstrakten Ebene mit dem Programm kommunizieren - man mußte mit dem Programm sanft, höflich und geduldig verhandeln, so wie man im zwanzigsten Jahrhundert mit den Telefongesellschaften umgegangen sein mochte. Tatsächlich gehörte einem eine dieser alten Telefongesellschaften - alles, was dazugehörte, befand sich jetzt in dem Kasten.
Wenn man auf den Interfacestapeln immer höher kletterte, weg vom schlüpfrigen Urgestein der Hardware, die Einsen und Nullen zermahlte, war es, als ginge man auf Stelzen. Und dann auf Stelzen für die Stelzen, und schließlich auf Stelzen für die Stelzen der Stelzen. Man konnte einen Stecker in die Buchse an der Rückseite des Kastens stecken und loslegen wie ein Wirbelwind. Bis irgendwo etwas abstürzte, was das Betriebssystem des Systems des Systems nicht zu diagnostizieren, einzuengen und zu umgehen vermochte. Dann warf man den kleinen Kasten weg und stöpselte einen anderen ein.
Das System der Truppe war launenhaft. Was eher leicht untertrieben war. Zum Beispiel kam es auf die Reihenfolge an, in der man die Subsysteme ausschaltete. Es gab keine einfache oder direkte Erklärung dafür, warum das so war, aber darauf ankommen tat es.
Jane behielt die Systemunvereinbarkeiten und die Unmenge der gefühllosen High-Level-Knoten, Ticks und Spleens mit professioneller Aufmerksamkeit im Auge. Sie führte Buch mit Kugelschreiber und Papier, in einem kleinen, ledernen Loseblattnotizbuch, das sie seit dem College besaß. Mickey, der
Sysadministrator, und Rick, der Programmschleifer, hatten Jane besorgte Blicke zugeworfen, als sie sich zum erstenmal ernsthaft an den Truppencomputern zu schaffen gemacht hatte, doch seitdem hatte sie häufig genug bewiesen, was in ihr steckte. Sie hatte Abstürze, Aussetzer und Blockaden gemeistert, die bei Mickey heftiges Fluchen ausgelöst hatten und über denen Rick so tief im Programmcode versunken war, daß er wie volltrunken im Camp herumtaumelte.
Der Unterschied zwischen Programmieren und der Beschäftigung mit Interfaces war wie der Unterschied zwischen einem Soldaten und einem Diplomaten. Manche Krisen erforderten eben eine politische Lösung.
Jane verwahrte das Notizbuch in einem Kunststoffkasten, der unter Jerrys Vermittlungssimulator festgeklebt war. Dies war der sicherste Aufbewahrungsort im ganzen Lager, denn Jerrys Simulator war das wertvollste Gerät der Truppe. Der Simulator war der einzige Kasten, der Jane tatsächlich beeindruckte. Die US-Regierung hatte während des Ausnahmezustands einen Mordswirbel um Klimasimulatoren gemacht und in einem Tempo Geld in die globalen Klimamodelle gesteckt, daß sogar das Pentagon nur hatte staunen können. Geräte wie das von Jerry schienen Brobdingnag zu entstammen, dem Land der Riesen aus Gullivers Reisen - Jerrys Gerät verfügte über eine größere Rechenleistung, als der ganze Planet im Jahre 1995 besessen hatte.
Offiziell war Jerrys Gerät eine ›Leihgabe‹ des SESAME-Collaboratory, eines Forschungsnetzes, in dem Jerry einen ziemlich guten Stand hatte, dennoch war nicht damit zu rechnen, daß irgendwann jemand auftauchen und es wieder abholen würde. Im Grunde war Jerrys Kasten allen bis auf die Truppe scheißegal. Es war sonnenklar, daß die Probleme der
Klimamodelle mit bloßer Rechenleistung niemals zu lösen sein würden. Die Rechenleistung war gar nicht das Nadelöhr; das eigentliche Nadelöhr waren die Annahmen, die Näherungsverfahren, die Konzepte und die Programme.
Jane klappte ihren Lieblingslaptop auf, schleppte den angeschlossenen Monitor zu Mickeys Sysadministrationsmaschine und vergewisserte sich, daß sämtliche Geräte abgeschaltet waren. Peter, Greg und Martha hatten ihre Arbeit getan; abgesehen vom Telecom-Mast waren sämtliche Empfangsmasten nun offline und ausgeschaltet. Der Telecom-Mast blieb immer bis zuletzt stehen. Eigentlich wäre es vernünftiger gewesen, die Sicherheitssysteme als letzte abzubauen, aber die Begrenzungspfosten waren saudumme, paranoide kleine Gebilde, die jeden plötzlichen Datenverlust als glaubhaften Beweis für feindliche Sabotage betrachteten. Wenn man sie nicht vorher sanft einlullte, drehten die Pfosten durch.
Auf Janes Bildschirm erschien ein Icon. Ein Telefonanruf - unter ihrer Nummer. Überrascht nahm sie den Anruf entgegen.
In der oberen rechten Ecke des Laptops öffnete sich ein postkartengroßes Videofenster. Es war ein Fremder: glattrasiert, sandfarbenes Haar, eine distinguierte Erscheinung, etwa Ende dreißig. Nachlässige Eleganz, auf eine seltsam gepflegte Weise. Von ferne wirkte er vertraut. Er trug Hemd, Jackett und Krawatte.
»Hallo?« sagte der Fremde. »Spreche ich mit Juanita?«
»Ja?«
»Gut«, sagte der Fremde und blickte lächelnd auf seinen Schreibtisch hinunter. »Ich war mir nicht sicher, ob es klappen würde.« Er schien sich in irgendeiner Hotellobby zu befinden, vielleicht auch in einem sehr wohnlich eingerichteten Büro. Hinter seinem Kopf machte Jane eine Lithografie und den Zweig einer Topfpflanze aus.
Der Fremde sah von seiner Tastatur auf. »Ich bekomme kein Videosignal rein, soll ich meinerseits die Übertragung ausschalten?«
»Tut mir leid«, antwortete Jane und beugte sich zum Einbaumikrofon des Laptops vor. »Ich spreche über einen Laptop, ich habe hier keine Kamera.«
»Schade«, meinte der Fremde und rückte seine Krawatte zurecht. »Weißt du, Juanita, daß ich dich noch nie gesehen habe? Irgendwie habe ich mich drauf gefreut.«
Am Kopf des Fremden saßen Jerrys Ohren. Jane wäre nicht erstaunter gewesen, hätte er Jerrys Ohren an einer Schnur um den Hals getragen. Doch dann ließ der Schock nach, und Jane wurde erschauernd klar, wen sie da vor sich hatte. Sie lächelte verlegen den Laptop an, obwohl der Fremde sie nicht sehen konnte. »Du bist Leo, stimmt's?«
»Stimmt«, sagte Leo Mulcahey, lächelte sanft und zwinkerte ihr zu. »Können wir reden?«
Jane blickte sich in der Kommandojurte um. Mickey und Rick standen beide für ein Bad an. Normalerweise ließen sie sie erst eine Weile allein werkeln, bevor sie wieder auftauchten, die Diagnose durchführten und die Geräte zu den Wagen schleppten.
»Ja«, sagte sie. »Ich glaub schon. Wenn's nicht zu lange dauert.« Sie sah Jerrys Bruder jetzt zum ersten Mal. Leo wirkte älter als Jerry, seine Wangen waren schmaler und ein wenig faltig, und sie war überrascht, wie gut er aussah. Sein Kopf war genauso geformt wie der von Jerry, aber sein Haarschnitt war phantastisch. Normalerweise schnitt Jane Jerry das Haar, doch jetzt sah sie, daß sie als Hairdesigner ein totaler Versager war.
»Wie ich höre, hast du mit Mom gesprochen«, sagte Leo.
Jane nickte schweigend, aber Leo konnte sie natürlich nicht sehen. »Ja, hab ich«, platzte sie heraus.
»Ich halte mich im Moment gerade wieder in den Staaten auf. Mom hat mich über Jerrys Aktivitäten unterrichtet.«
»Ich hab mir nichts dabei gedacht«, sagte Jane. »Jerry ruft seine Mutter nur ganz selten an, aber er hat nichts dagegen, wenn ich es tue… Tut mir leid, wenn ich aufdringlich gewesen sein sollte.«
»Ach, Mom hält große Stücke auf dich, Juanita«, sagte Leo mit einem Lächeln. »Weißt du, Mom und ich haben Jerry noch nie so erlebt. Ich glaube, du mußt etwas ganz Besonderes sein.«
»Na ja«, meinte Jane. »Leo, mir ist grad was eingefallen - ich habe hier ein paar Fotos auf Platte, ich schau mal, ob ich sie aufrufen und dir schicken kann.«
»Das wäre nett.« Leo nickte. »Ist immer so ein komisches Gefühl, zu einem leeren Bildschirm zu sprechen.«
Jane rief das digitale Sammelalbum auf. »Ich wollte dir noch dafür danken, daß du mir geholfen hast, meinen Bruder zu finden… Alejandro.«
Leo zuckte die Achseln. »De nada. Ich habe für dich einen Hebel in Bewegung gesetzt. Na ja, zwei Hebel. Das ist halt Mexiko… eine Hand wäscht die andere… Ein interessanter Ort, eine erlesene Kultur.« Er senkte abermals den Blick. »Ah, ja. Das kommt sehr gut rüber. Ein hübsches Foto.«
»Ich bin die mit dem Hut«, sagte Jane. »Die andere Frau ist unsere Köchin.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Leo und richtete sich gespannt auf. Er wirkte ernsthaft interessiert. »Oh, das mit dir und Jerry ist sehr gut. Ich wußte gar nicht, daß er einen Bart hat. Aber der Bart steht ihm gut.«
»Er hatte den Bart schon, als ich ihn kennengelernt habe«, sagte Jane. »Tut mir leid, daß es… äh… na ja, daß es so lange her ist. Und daß ihr nicht besser miteinander auskommt.«
»Ein Mißverständnis«, meinte Leo, seine Worte sorgsam abwägend. »Du weißt ja, wie Jerry manchmal ist… sehr zielstrebig, hab ich recht? Wenn man dann ein Thema anspricht, das nicht ganz in seine Gedankengänge paßt… Er ist natürlich ein sehr intelligenter Mann, aber er ist Mathematiker und nicht sonderlich tolerant gegenüber Mehrdeutigkeit.« Leo lächelte traurig. Er hat eine gewisse Würde, dachte Jane. Jerrys magnetische Ausstrahlung und die gleiche Skrupellosigkeit.
Sie fand ihn äußerst attraktiv. Geradezu umwerfend. Sie konnte sich mühelos vorstellen, mit ihm zu schlafen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, mit beiden zu schlafen. Gleichzeitig.
Und wenn sie sich gegenseitig an die Kehle gingen, würde sie zwischen ihnen zerquetscht werden wie eine Maus zwischen zwei Ziegelsteinen.
Sie räusperte sich. »Also… kann ich irgend etwas für dich tun, Leo?«
»Doch, ich glaube schon«, antwortete Leo. »Übrigens, du hast doch nichts dagegen, wenn ich die Fotos ausdrucke, oder?«
»Von mir aus.«
»Es geht um diese komische Geschichte mit dem F-6«, sagte Leo, während sein Drucker ein wohlerzogenes Brummen von sich gab. »Ich hab mir gedacht, du könntest mir das vielleicht etwas näher erklären.«
»Na ja«, meinte Jane, »der F-6 ist so eine Theorie von Jerry.«
»Klingt irgendwie alarmierend, findest du nicht? Ein Tornado, der eine ganze Größenordnung größer ist als alles, was wir bisher erlebt haben?«
»Also, eigentlich wäre das gar kein richtiger Tornado - eher ein gewaltiger Wirbelsturm. Etwas kleiner als ein Hurrikan, aber mit einer anderen Entstehungsgeschichte und einer anderen Struktur. Und einem anderen Verhalten.«
»Stimmt es, daß dieses Ding zu einem permanenten Bestandteil der Atmosphäre werden soll?«
»Nein«, entgegnete Jane. »Nein. Ich meine, es gibt da schon einige Hinweise in den Modellen - wenn man die Parameter entsprechend wählt, deutet… äh… einiges darauf hin, daß ein F-6 unter bestimmten Umständen zu einer dauerhaften Einrichtung werden könnte… Sieh mal, Leo, wir heben diesen Aspekt nicht besonders hervor, okay? Es wimmelt doch nur so von abgedrehten Amateuren, die ihre selbstgebastelten Klimamodelle laufen lassen und alle möglichen Weltuntergangsmeldungen hinausposaunen. Es würde wirklich einen schlimmen Eindruck machen, wenn die Presse aller Welt erklären würde, Jerry sagte eine Art Riesensturm über Oklahoma voraus. Das wäre einfach unverantwortlich für einen Wissenschaftler. Auch ohne daß seine Glaubwürdigkeit beschädigt wird, hat Jerry schon genug Probleme mit den Laborkitteln am Hals.«
»Aber Jerry glaubt jedenfalls, daß es einen F-6 geben wird.«
»Ja, schon. Das glauben wir. Die mittelhohe Konvektionsströmung nimmt Gestalt an, das Bermuda-Hoch, der Jetstream… Ja, wir glauben, wenn überhaupt, dann passiert es in dieser Saison. Wahrscheinlich innerhalb der nächsten sechs Wochen.«
»Ein gewaltiger atmosphärischer Sturm von beispiellosen Ausmaßen. Mitten über den Vereinigten Staaten.«
»Ja, das stimmt. Genau so ist es.«
Leo schwieg und schaute ernst und nachdenklich drein.
»Leo, man kann den Kohlendioxidanteil der Atmosphäre nicht verdoppeln, ohne daß seltsame Dinge passieren.«
»An seltsame Dinge bin ich gewöhnt«, meinte Leo. »Ich glaube bloß, an diese Vorstellung muß ich mich erst noch gewöhnen.«
»Jerry ist nicht als einziger dieser Meinung, weißt du. Er ist zwar abgehoben, aber nicht abgedreht. In Europa gibt es Paläoklimatologen, die glauben, gewaltige Stürme wären während der Eemian-Zwischeneiszeit in Europa ziemlich häufig gewesen. Dafür gibt es physikalische Hinweise in den fossilen Ablagerungen.«
»Ach, wirklich.«
»Außerdem ist dieses Jahr ein Artikel erschienen, worin es heißt, der sogenannte akkadische Vulkanismus sei überhaupt nicht vulkanisch gewesen, sondern die Staubschichten und die dreihundertjährige Trockenheit seien atmosphärischen Ursprungs gewesen. Das war die Kultur der Akkader im Zweistromland.«
»Wie bitte?«
»Die Akkader waren die erste Zivilisation - um 2200 vor Christus, in Mesopotamien, wenn ich mich nicht irre. Das war die erste Kultur, die entstanden war, und auch die erste, die aufgrund einer plötzlichen Klimaveränderung vernichtet wurde.«
»Stimmt«, sagte Leo, »ich bin sicher, diese Dinge wurden von unserer begnadeten und kämpferischen populären Presse bereits in allen Einzelheiten dargelegt. Und zwar zur vollen Zufriedenheit der wissenschaftlichen Gemeinde.« Er zuckte elegant mit den Achseln. »Ich weiß bloß, daß das Wetter im Moment verrückt spielt und daß das bis zu unserem Lebensende auch so bleiben wird. Ich begreife bloß nicht, warum Jerry dich da hineinzieht.«
»Mich?« fragte Jane. »Oh! Also, ich kümmere mich um die Interfacesoftware. Für die Truppe. Und eigentlich muß ich auch gleich wieder weiterarbeiten.«
»Juanita, du hast mich nicht richtig verstanden. Angenommen, es wird einen richtig großen Sturm geben. Angenommen, dabei handelt es sich um einen permanenten Wirbel in der Atmosphäre - in Jerrys Worten, um die irdische Version des Roten Flecks vom Jupiter. Um eine permanente planetarische Senke für überschüssige Treibhaushitze, angesiedelt irgendwo in der Nähe von Texas. Ich weiß, das klingt phantastisch, aber angenommen, es ist die Wahrheit.«
»Ja, und? Dann werde ich da sein und es mir anschauen.«
»Du würdest dabei umkommen.«
»Vielleicht. Gut möglich. Aber ich werde trotzdem da sein. Wir werden es dokumentieren.«
»Warum?«
»Warum? Weil wir es können! Weil wir das Know-how haben! Weil das unsere Arbeit ist! Wahrscheinlich tun wir es um der Überlebenden willen.« Jane fuhr sich mit unbewegter Miene durchs Haar. »Wenn der F-6 wirklich so schlimm wird, wie zu befürchten steht, dann werden die Überlebenden diejenigen sein, die man wirklich bedauern muß.«
Leo schwieg. Jane vernahm ein merkwürdiges Rumpeln, dann wurde ihr klar, daß er mit den Fingern auf den Schreibtisch trommelte.
»Ich muß jetzt Schluß machen, Leo. Es wartet ein Menge Arbeit auf mich.«
»Danke, daß du so offen zu mir warst, Juanita. Ich weiß das zu schätzen.«
»Meine Freunde nennen mich Janey.«
»Oh. Ja, klar. Hasta la vista, Janey.« Leo unterbrach die Verbindung.
Jane schauderte und blickte sich erneut um.
Soeben betrat Rick die Jurte.
»Ich laß den Pillen… ich meine, ich laß Alex heute nacht den Ultralight fliegen«, sagte er. »Er wollte unbedingt.«
Rick lächelte sie an. »Ich hab dir ja gesagt, daß es dem Kleinen echt gefallen hat.«
Alex war auf Nachtflug über Texas, sein Kopf steckte in einem Helm, und Sauerstoff umspülte sein Gesicht. Zwischen seinen Knien glomm ein kleines, bernsteinfarbenes Lämpchen, das Steuerknüppel und Trackball beleuchtete. Noch mehr Licht drang aus dem Visier des durchsichtigen VR-Helms, der wässrige Phantomschein der Menüleiste, der von Alex' Stirn auf die pechschwarzen Fugzeugflügel fiel.
Am Horizont sah man den hellen Funken eines globalen Beobachtungssatelliten. Über ihm waren eine Million Sterne, die Mondsichel, der galaktische Nebel der Milchstraße, ein paar hohe Wolkenwirbel. Der Propeller hinter seinem Rücken schob ihn beinahe lautlos voran, während er mit minimalem Energieverbrauch mit dem langsamen Überlandkonvoi der Truppe tief unter ihm Schritt hielt.
Falls es irgend etwas Schöneres gab, so hatte Alex es noch nicht entdeckt.
Diesmal durfte er die Maschine tatsächlich von Hand fliegen. Bussard hatte den Ultralight Beryl mit der obligatorischen Anfängersoftware gebootet. Jede abrupte Bewegung des Steuerknüppels wurde augenblicklich in ein sanftes, ungefährliches Auf und Ab übersetzt.
Diese Art zu fliegen erinnerte Alex stark an das Fahren in einem motorisierten Rollstuhl. Die gleichen Tipptasten, fast das gleiche leise Motorsummen und das gleiche Gefühl, von einem Übermaß an Sicherheitsvorkehrungen umgeben zu sein und sich in der Obhut einer smarten Maschine zu befinden. Alex hätte am liebsten irgendeine Dummheit gemacht, doch unter den gegebenen Umständen hielt er es für geraten, auf Dummheiten zu verzichten. Er würde solange warten, bis er ihr Vertrauen gewonnen hatte, bis sie ihm mehr Spielraum gaben. Dann würde er irgend etwas Dummes probieren.
Rick saß im Ultralight Amber und kundschaftete die Gegend hinter der Truppe aus. Rick hatte sein Gewehr dabei. Unmittelbar vor dem Start hatte Rick Alex einen haarsträubenden Vortrag über die Schlauheit und Brutalität der Hinterwäldlerbanditen und die Notwendigkeit gehalten, als ›Vorhut‹ stets wachsam zu sein.
Alex hatte schwer daran schlucken müssen - mindestens so schwer wie an den Nachtrationen, die aus einem widerlichen Chop Suey aus Kaninchenfleisch, geschmortem Mais und Büffelkürbiswurzel bestanden hatten. Jedenfalls war es eine Mordswurzel gewesen. Zwei Männer hatten sie tragen müssen, und sie schmeckte wie eine Kreuzung aus Sellerie und Bleistiftspänen. Es war die größte Wurzel, die die Truppe jemals ausgegraben hatte.
Alex empfand unwillkürlich Stolz. Und Eskorte für die Truppe zu fliegen, war wesentlich besser, als in einem der vollgestopften, überladenen Busse mitzufahren. Alex konnte sich bloß nicht vorstellen, daß das Eskortefliegen wirklich gefährlich sein sollte. Schließlich befuhren die Jagdteams der Truppe auch die einsamsten Feldwege von Westtexas und waren noch nie angehalten oder ausgeraubt worden.
Angenommen, es gab überhaupt Banditen in der Gegend, dann würden sie sich bestimmt nicht mit Juanita und ihrer kampferprobten springenden Höllenspinne anlegen wollen. Juanitas Verfolgungswagen verfügte über keinerlei Schußwaffen, aber er sah so aus, und wie er sich bewegte, ließ auch nichts Gutes ahnen. Der Aerodromtruck und der Radarbus stellten zwar große, leichte Ziele dar und waren bis zum Dach mit wertvollen Geräten vollgestopft, waren aber trotzdem noch nie behelligt worden.
Alex glaubte, daß die Banditen, wenn sie schon zu ängstlich und daneben waren, einen einzelnen Bus zu überfallen, bestimmt nicht den ganzen Konvoi angreifen würden. Der Konvoi lag jetzt hinter ihm und schlängelte sich langsam die stockdunkle Straße entlang. Zwei Verfolgungsfahrzeuge, zwei Robotbusse mit Anhängern, der Radarbus, der Aerodromtruck, ein alter Strandbuggy, zwei automatikgesteuerte Nachschubjeeps mit Anhängern, drei Dreiradmotorräder mit Beiwagen und ein kleiner Traktor.
In der ganzen Kolonne war kein einziger Scheinwerfer eingeschaltet. Alle bewegten sich im Dunkeln, was angeblich sicherer war. Die smarten Verfolgungswagen fuhren an der Spitze und kundschafteten die Straße mit Radar aus. Hin und wieder flammte in einem Bus- oder Lasterfenster kurz ein Licht auf - wenn irgendein Trouper einen Laptop-Monitor aufklappte und entweder arbeitete oder sich mit Spielen die Zeit vertrieb.
Als Alex den VR-Helm auf Infrarot umschaltete, wirkte der Konvoi noch interessanter. Aus den Auspuffen der alkoholbetriebenen Busse und des alten Strandbuggys quoll körnige, gepixelte Hitze hervor. Und aus dem Traktor ebenfalls. Alle anderen Fahrzeuge liefen mit Batteriestrom. Aus den Fenstern der Busse drang der schwache Lichtnebel menschlicher Körperwärme. Es war eine kalte Frühlingsnacht auf den High Plains, und die Busse waren gut besetzt.
Alex hatte kein Gewehr. Irgendwie war er auch froh darüber, daß die Truppe nicht mehr Gewehre ausgeteilt hatte. Seiner Erfahrung nach wurden auffällige soziale Minderheiten mit vielen Schußwaffen leicht von nervösen Sondereinsatzkommandos zerrieben, denen die Kugeln locker saßen. Daher hatte er keine Waffe. Er hatte sechs verstaubte, nicht mehr funktionsfähig wirkende Leuchtfackeln für den Notfall und eine große Taschenlampe.
Rick hatte ihm heimlich ein Ibogain-Kaugummi zugesteckt, das optimale Einsatzbereitschaft gewährleisten sollte. Alex hatte den Kaugummi noch nicht probiert. Er war noch nicht müde. Außerdem mochte er Ibogain nicht besonders.
Im Kopfhörer knackte es. »Hier Rick. Wie läuft's? Ende.«
»Gut. Ganz behaglich. Ich hab den Sitz zurückgestellt, Ende.«
»Wie hast du das denn gemacht?«
»Ich bin aufgestanden, hab mich in die Fußbügel gestellt und den Bolzen rausgezogen.«
»Das hättest du nicht tun sollen.«
»Rick, hör mir mal zu. Wir beide sind ganz allein hier oben. Niemand hört uns zu. Ich fall schon nicht runter. Eher würde ich von 'nem Gemüsekarren fallen.«
Rick schwieg eine Weile. »Mach bloß keine Dummheiten, okay?« Er schaltete ab.
Alex flog weiter, fast eine Stunde lang. Das machte ihm nichts aus. Eine Stunde mit Sauerstoff war niemals langweilig. Er versuchte, den Sauerstoff zu strecken, indem er nur hin und wieder einen Zug aus der Flasche nahm, wußte jedoch, daß die Flasche leer sein würde, wenn er landete. Anschließend würde er irgendwie neuen Sauerstoff beschaffen müssen.
Er würde damit anfangen müssen, Zeug für die Truppe zu kaufen.
All ihren Reden zum Trotz, war Alex doch klar, daß dies der eigentliche Knackpunkt war. Die gleiche stillschweigende Übereinkunft galt im wesentlichen auch für Juanita. Diese Leute hingen nicht deshalb mit Juanita herum, weil sie sich groß was aus bombastischen Cyber-Art-Diplomen gemacht hätten. Sie mochten Juanita, weil diese Zeug für sie kaufte und sich um ihre zahlreichen Bedürfnisse kümmerte. Juanita war ihre Gönnerin. Und er, Alex, war gerade im Begriff, in ihre Fußstapfen zu treten.
Trotzdem war da noch diese erstaunliche Sache mit Jerry Mulcahey. Am Ende lief bei der Truppe alles auf Mulcahey hinaus, weil jeder Trouper, der den Typ nicht fürchtete, liebte und verehrte, schnellstens den Laufpaß gekriegt hätte. Alex war sich über Mulcaheys wirkliche Motive noch nicht recht im klaren. Mulcahey war ein wahrhaft undurchsichtiger Typ. Alex hatte sich Mulcahey genau angeschaut, und in zweierlei Hinsicht meinte er sich sicher zu sein: (A) Mulcahey verfügte über irgendeine geniale Begabung, und (B), Mulcahey hatte keine große Ahnung, was Geld eigentlich bedeutete. Wenn er und Juanita gemeinsam in Erscheinung traten, dann behandelte Mulcahey sie mit geradezu archaischer Höflichkeit; er ließ sie als erste am Lagerfeuer Platz nehmen, er half ihr anschließend auf die Beine, er fing erst nach ihr an zu essen, halt so was. Beide machten kein großes Aufhebens um diese stillschweigenden kleinen Aufmerksamkeiten, aber Mulcahey ließ kaum eine Gelegenheit dazu aus.
Und wenn es zu irgendwelchen Streitereien kam, überließ Mulcahey häufig das Reden Juanita. Während sie dann in Fahrt geriet und sich ereiferte, wurde er abstrakt und reserviert und hörte mit versteinerter Miene zu. Es war fast so, als ließe er seine Emotionen stellvertretend durch sie ausleben. Mit diesem Arrangement schienen sich beide wohl zu fühlen. Hin und wieder führte er unvermittelt einen Satz für sie zu Ende, worauf alle zusammenzuckten.
Mulcahey zeigte die seltsamsten Symptome, wenn Juanita ihn nicht beobachtete. Wenn sie irgendwelche gymnastischen Übungen machte, sich beispielsweise in ihrem dünnen Papieranzug vorbeugte und anschließend streckte, dann bekam Mulcahey auf einmal diesen gierigen Gesichtsausdruck. Als wäre er am Verhungern und sie ein teures Cordon Bleu, und als versuchte er sich wirklich zu beherrschen, könnte sich aber nur mit Mühe davon abhalten, ihr das Tischtuch herunterzureißen und auf allen vieren vom zerbrochenen Porzellan zu essen. Der Ausdruck verlor sich rasch wieder, und Mulcahey setzte sein übliches Pokerface auf, aber der Ausdruck war zweifellos immer noch vorhanden. Mit so was kannte ein Mann sich einfach aus.
Alex war sich nicht sicher, worauf das alles für Juanita hinauslaufen würde. Sie kannte den Typ jetzt seit mindestens einem Jahr, und es war schon ziemlich seltsam für ein Liebespaar, wenn es in diesem Zeitraum nicht ein wenig abgekühlt war. Aber vielleicht waren sie ja schon abgekühlt. Was wiederum auf einen höchst seltsamen Anfang schließen lassen würde.
Alex blickte auf die unter ihm ausgebreitete Landschaft hinunter. Vom Konvoi nichts zu sehen. Er war so sehr ins Grübeln gekommen, daß er den Konvoi aus den Augen verloren hatte. Höchste Zeit, kehrtzumachen und ein Stück weit zurückzufliegen.
Als er den Ultralight mit maschinenhafter Vorsicht eine Kehre fliegen ließ, kam er dicht am Hang eines Hügels vorbei. Im Infraroten glühte der Highway - zufällig war die Fahrbahn hier geteert - noch ein wenig von aufgespeicherter Tageshitze, aber auf dem Hang war ebenfalls eine Menge Wärmestrahlung.
Alex brach das Manöver ab und beschloß, sich das genauer anzusehen.
Zunächst meinte er, auf der Straße stünde eine ganze Armee. Mindestens hundert Leute. Dann wurde ihm klar, daß die meisten der glühenden Flecken auf allen vieren standen. Rotwild. Nein, Ziegen.
Jemand hatte eine Herde Ziegen auf dem Highway stehen.
Alex schaltete das Funkgerät ein. »Hier Alex«, sagte er. »Rick, Mann, die Straße ist ja voller Ziegen, Ende.«
»Verstanden, Alex. Siehst du jemanden?«
»Yeah - glaub schon. Ist so von oben schwer zu erkennen. Rick, warum sollte jemand mitten in der Nacht mit Ziegen auf der Straße unterwegs sein?«
»Da bin ich überfragt, Mann.«
»Vielleicht wandern sie nachts, weil es da sicherer ist, genau wie wir.«
»Bewegen sie sich?«
»Nein, Mann. Die rühren sich nicht vom Fleck.«
»Könnten Pharmaziegen sein, und die Typen sind Viehdiebe, die auf einen Fleischtransporter aus der Stadt warten.«
»So was gibt's? Ziegendiebe?«
»Manche Leute tun für Geld einfach alles, Mann.« Alex hörte, wie Rick seinen Muntermacherkaugummi vor dem Mikrofon zerplatzen ließ. »Oder sie blockieren die Straße absichtlich mit den Ziegen und warten im Hinterhalt, Ende.«
Alex klappte das Visier hoch und schaute mit bloßen Augen hinunter. Im Dunkeln ließ sich nur schwer etwas erkennen, aber es sah ganz danach aus, als wären beide Seiten der Straße stark mit Mesquit bewachsen. Noch dazu mit ziemlich großem Mesquit, mehrere Stockwerke hoch. Darin hätte sich ein ganzer Stamm Komantschen verbergen können.
»Vielleicht solltest du besser herkommen, Rick.«
»Kommt nicht in Frage, Mann, jetzt, wo ein Überfall droht, kann ich den Konvoi doch nicht ohne Nachhut lassen.«
»Aber du hast das Gewehr, Mann.«
»Ich werd doch niemanden erschießen, bist du verrückt? Wenn das richtige bandidos sind, drehen wir um, machen, daß wir wegkommen und rufen die Texas Ranger!«
»Schon klar«, sagte Alex. »Der ›Tod auf leisen Schwingen‹. Hab ich mir gedacht.« Er lachte.
»Jetzt hör mir mal zu, Pillenfreak, wenn's sein muß, schieße ich auch. Aber wenn wir erst mal anfangen, mitten in der Pampa aus heiterem Himmel irgendwelche Leute umzulegen, dann sind wir es am Ende, denen die Texas Ranger das Fell über die Ohren ziehen.«
»Oh.«
»Stell den Motor ab und geh runter, sieh dich mal um.«
»Ist gut«, sagte Alex. »Hab verstanden.«
Er nahm mehrere tiefe Züge Sauerstoff. Das Gefühl war wundervoll. Dann stellte er fest, daß sich der Motor nicht ausschalten ließ. An der Automatiksteuerung kam er nicht vorbei. Auch gut. Es war sowieso kein besonders lauter Motor.
Er ließ sich fast bis auf Höhe der Baumwipfel absacken und überquerte von rechts nach links die Straße. Die Ziegen ließen sich anscheinend nicht stören, oder sie bemerkten ihn nicht. Allerdings machte er am Rande der Mesquitbäume den intensiven Infrarotschein eines rauchlosen elektrischen Kochers aus. Da waren auch Leute - mindestens ein halbes Dutzend. Und sie standen auf.
Er ging wieder auf Sendung. »Hier Alex. Ich zähle etwa achtzig Ziegen und mindestens sechs Typen am Rande der Bäume. Sie sind wach. Ich glaub, die haben irgendwas gekocht, Ende.«
»Das gefällt mir nicht, Ende.«
»Mir auch nicht. Shit, man muß schon ganz schön hart drauf sein, um Leute zu beklauen, die in so einer gottverdammten Gegend Ziegen züchten.« Die Intensität seiner Wut überraschte Alex. Aber verdammt noch mal - er hatte schon selber Ziegen gehütet. Dadurch hatte er ein richtiges Zugehörigkeitsgefühl zu den Ziegenranchern entwickelt.
»Okay.« Rick seufzte. »Dann woll'n wir mal sehen, wer im Konvoi noch wach ist.«
Alex umkreiste langsam die Herde. Weitere Zweifüßer tauchten auf, diesmal an der anderen Straßenseite.
»Greg meint, du sollst eine Leuchtfackel abwerfen und die Situation auskundschaften«, meldete Rick.
»Ist gut«, meinte Alex.
Er zog eine Leuchtfackel aus der Plastikhalterung an der rechten Verstrebung. Die Fackeln waren alt, verstaubt und mit kyrillischen Zeichen bedeckt. Er glaubte nicht, daß sie gut funktionieren würden, aber wenigstens waren sie problemlos einzusetzen.
Er riß die Spitze ab. Die Fackel ploppte, begann zu qualmen, dann wurde es blendend hell. Alex ließ die Fackel überrascht fallen.
Die Fackel beschrieb eine ordentliche Parabel, landete neben der Ziegenherde, die sogleich in Panik geriet, auf dem Highway und sprang mehrmals hoch. Die Ziegen kamen allerdings nicht weit; sie hatten alle Fußfesseln.
Vom Straßenrand ertönte mehrfaches scharfes Knallen. Alex blinzelte, bemerkte mehrere Männer mit großen Hüten und schäbiger, fransenverzierter Kleidung.
»Rick«, sagte er, »die schießen auf mich.«
»Was?«
»Die haben Gewehre, Mann, die schießen auf mich.«
»Mach, daß du wegkommst!«
»Ist gut«, murmelte Alex. Er bemühte sich, an Höhe zu gewinnen. Der Ultralight reagierte mit der schwerfälligen Behäbigkeit eines Sofas, das eine Treppe hochgeschleppt wird. Geblendet vom hellen Schein der Fackel konnten ihn die Fremden bestimmt nicht gut sehen. Das Schießen klang abgehackt, und sie benutzten altmodische, laute Explosivgeschosse. Wenn sie nur lange genug schössen, würde das keinen Unterschied machen.
Auf einmal war Alex fest davon überzeugt, daß er getroffen werden würde. Der Tod war nah. Er verspürte ein so intensives Entsetzen, als wäre er tatsächlich getroffen worden. Die Kugel würde ihn unmittelbar über dem Hüftknochen treffen und einen grellroten, brennenden Katheter durch seine Eingeweide ziehen, und er würde blutend und kotzend in den Gurten sterben. Er würde im festen Griff einer smarten Maschine mitten in der Luft verbluten. Die Truppe würde den Flieger landen lassen, und man würde ihn angeschnallt auf dem Sitz vorfinden, kalt und grau und blutig und tot.
Jetzt, wo er der irrationalen Überzeugung war, daß sein Leben zu Ende ging, empfand Alex auf einmal eine so furchtbare Genugtuung, daß es ihn ganz benommen machte. Von bewaffneten Banditen erschossen. Das war erheblich besser als die Todesarten, die er sich immer vorgestellt hatte. Er würde sterben wie ein normaler Mensch, als hätte sein Leben irgend etwas bedeutet und als hätte es zum Sterben eine wirkliche Alternative gegeben. Er würde sterben wie ein Trouper, und alle, die von seinem Tod erfuhren, würden bestimmt meinen, er sei vorsätzlich so gestorben. Als wäre er für ihre Arbeit gestorben.
Einen wahnsinnigen Moment lang glaubte Alex tatsächlich an die Arbeit, aus ganzem Herzen. Alles in seinem Leben hatte auf diesen Moment zugesteuert. Und nun würde er sterben, und das Schicksal hatte es so bestimmt, und alles hatte von Anfang an so sein sollen.
Die Männer mit den Gewehren verfehlten ihn jedoch. Und nach einer Weile hörte das Schießen auf. Und dann rannte ein Mann in zerlumpten Kleidern gebückt auf die brennende Fackel zu und trat sie aus.
Alex wurde bewußt, daß Rick ihm schon seit einer ganzen Weile in die Ohren krächzte.
»Alles okay!« sagte Alex. »Tut mir leid.«
»Wo steckst du?«
»Hmmmm… zwischen den Banditen und dem Konvoi. Ziemlich hoch. Ich glaube, die bringen die Herde jetzt von der Straße. Schwer zu sagen…«
»Du bist nicht verletzt? Was ist mit dem Flieger?«
Alex blickte sich um. Vom Ultralight war so gut wie nichts zu sehen. Er zog die Taschenlampe aus der Halterung und schwenkte den Strahl über die Flügel, den Bug, das Propellergehäuse.
»Nichts«, sagte er und steckte die Lampe wieder weg. »Keinerlei Schäden, die haben mich um zehn Kilometer verfehlt, die wußten gar nicht, wo ich war.« Alex lachte schrill, hustete und räusperte sich. »Verdammt noch mal, das war Klasse!«
»Wir drehen jetzt um, Mann. Es gibt da noch eine andere Route… komm zurück zum Konvoi.«
»Soll ich nicht noch eine Fackel abwerfen?«
»Shit, Mann, bloß nicht! Bleib bloß weg von diesen Arschlöchern.«
Auf einmal wurde Alex von wilder Wut gepackt. »Die Typen bringen's einfach nicht, Mann! Die sind verrückt, ein Scheißdreck! Wir sollten sie in den Arsch treten!«
»Alex, beruhig dich, Mann. Das ist Aufgabe der Ranger. Wir jagen Stürme, keine Banditen.«
»Wir könnten sie auf der Stelle auslöschen!«
»Alex, sei mal vernünftig. Ich hab dir gesagt, es gibt noch eine andere Route. Wir fahren ein paar Kilometer zurück und nehmen eine andere Straße. Das kostet uns eine halbe Stunde. Was wäre dir denn lieber - eine halbe Stunde zu verlieren, oder mitten in ein Feuergefecht hineinzumarschieren und ein paar deiner Freunde zu verlieren?«
Alex brummte etwas.
»Das ist der eigentliche Grund für die Lufteskorte, Mann«, sagte Rick und ließ den Kaugummi knallen. »Du hast deine Sache gut gemacht. Und jetzt entspann dich.«
»Okay«, meinte Alex. »Klar, schon kapiert. Wenn's so ist, sicher. Ganz wie du willst.« Er war immer noch am Leben. Er war am Leben und atmete. Er lebte, lebte, lebte…