ZWEITES KAPITEL

 

Hohe Antennenmasten rasterten den Horizont.

Juanitas Leute hatten ihr Zeltlager in einem Kilometer Entfernung vom Highway aufgeschlagen, auf einer niedrigen Anhöhe aus Kalkstein, von der aus man den vorbeikommenden Verkehr im Auge behalten konnte. Die Morgensonne schien auf ein Chaos runder, dickbäuchiger Zirkuszelte und kegelförmiger weißer Wigwams, aus denen Stangen ragten.

Juanita hatte die letzten zwei Fahrtstunden über gedöst und mit der Gier einer kurz vor dem Verhungern stehenden Frau, die Bratensoße von einem Teller stippt, ein wenig von REM-Phasen durchsiebten Schlaf ergattert. Nun beobachtete Alex voller Interesse, wie sich seine Schwester in eine andere Person verwandelte. In den letzten paar Minuten, als sie sich dem Camp näherten, wurde sie hellwach, angespannt, kämpferisch, nervös.

Juanita holte ein Sicherheitsarmband unter dem Beifahrersitz hervor und befestigte es sich sorgfältig am linken Handgelenk. Das Armband hatte eine Zeitanzeige und bestand aus dickem, dunkelbraunem, perlenverziertem und handvernähtem Leder. Ein paar Perlen fehlten, und das Leder war abgenutzt und fleckig, aber man sah Juanita an, daß sie sich mit dem Armband gleich viel besser fühlte.

Als wäre ihr gerade etwas eingefallen, reichte sie Alex ein schäbiges Plastikarmband mit einer billigen Uhr, die mit einer völlig nutzlosen Ansammlung verwirrender kleiner, oranger Knöpfe protzte. »Damit kannst du das Camp ungehindert

betreten und verlassen«, erklärte sie.

»Ah, ja. Großartig.«

Juanitas Wagen rollte über den letzten spärlichen Grasstreifen bergauf und hielt zwischen zwei elektronischen Begrenzungspfosten.

»Und jetzt?« fragte Alex.

»Ich muß mit Jerry reden. Über dich.«

»Wunderbar! Dann laß uns doch beide ein kleines Schwätzchen mit Dr. Jerry halten.«

Juanita maß ihn mit gereiztem Blick. »Ausgeschlossen! Erst muß ich mir mal überlegen, wie ich ihm die Situation verklickern soll… Siehst du die Leute dort drüben bei der Küchenjurte?«

»Was war das?«

»Beim großen runden Zelt. Die Leute mit dem Dreibein und dem Flaschenzug?«

»Und?«

»Geh rüber und sei nett zu ihnen. Ich hol dich später ab, wenn alles klar ist.« Juanita stieß die Wagentür auf, sprang hinaus und eilte im Laufschritt zur Mitte des Lagers.

»Ich habe keine Schuhe!« schrie Alex ihr nach, doch der Wind wehte seine Worte fort, und Juanita sah sich nicht um.

Alex überbedachte seine Lage. »Hey, Wagen«, meinte er schließlich. »Charlie.«

»Ja, Sir?« antwortete der Wagen.

»Kannst du mich zu der Gruppe von Leuten rüberfahren?«

»Ich verstehe nicht, was Sie mit ›Gruppe von Leuten‹ meinen.«

»Ich meine… äh… zwanzig Meter nordwestlich von hier. Kannst du dorthin fahren? Langsam?«

»Ja, Sir, das könnte ich tun, aber nicht auf Ihren Befehl hin. Die Anweisungen von Passagieren ohne Sicherheits-ID darf ich nicht befolgen.«

»Ich verstehe«, sagte Alex. »Sie hatte völlig recht mit deinem Interface. Du bist völlig daneben.«

Alex drehte sich auf dem Sitz herum und musterte das Wageninnere. Er entdeckte nichts, was auch nur von ferne einem Schuh geähnelt hätte. Dann fiel sein Blick auf das Handy am Armaturenbrett. Er nahm es, zögerte bei der Ziffer ›1‹, dann drückte er rasch die ›4‹.

Es meldete sich eine Frau. »Hier spricht Carol.«

»Hi, Carol. Gehörst du zu den Storm Troupern?«

»Yeah«, tönte es aus dem Telefon. »Wer bist 'n du?«

»Hältst du dich momentan in einem Camp auf einer Anhöhe auf, irgendwo in der Nähe des Highway 208 in Westtexas?«

»Ja. Das stimmt.« Sie lachte.

»Stehst du mitten in einer Traube von Leuten, die gerade eine Art Kadaver auf ein Dreibein zu hieven versuchen?«

»Nee, Mann, ich bin in der Werkstattjurte und repariere gerade einen kaputten Straßeninstandsetzungskoloß, aber ich weiß, wen du meinst, falls dir das weiterhilft.«

»Könntest du einen von ihnen bitten, mir ein paar Schuhe zu bringen? Größe acht?«

»Wer bist du eigentlich?«

»Ich heiße Alex Unger, komme gerade aus Mexiko und brauche ein Paar Schuhe, damit ich aus dem Wagen aussteigen kann.«

Carol zögerte kurz. »Warte einen Moment, Alex.« Sie legte auf.

Alex lehnte sich zurück. Nach einer Weile nahm er wieder das Telefon zur Hand und wählte die Nummer der Auskunft von Matamoros. Er erkundigte sich nach dem gegenwärtigen Decknamen eines seiner bevorzugten Kontaktleute und wurde auch problemlos durchgestellt. Mitten im Gespräch legte er jedoch auf, weil sich eine Frau dem Wagen näherte.

Die Fremde, eine Schwarze, hatte kurze, schwarze, mit Draht zusammengebundene Zöpfe und ein breites, windgegerbtes, fröhliches Gesicht. Sie war etwa fünfunddreißig. Bekleidet war sie mit einem Rettungsanzug aus Papier, den ein Farbdrucker mit bemerkenswertem Ergebnis bespritzt hatte.

Die Frau reichte Alex ein Paar Sandalen durch die offene Tür. Die Sandalen hatten flache Sohlen aus dickem, dunkelgrünem Vinyl, mit breiten, frisch angeklebten Schnallen aus weißem, elastischem Stoff.

»Was ist denn das?« fragte Alex. »Die sehen ja wie Duschschlappen aus.«

Die Frau lachte. »Du kannst eine Dusche gebrauchen, Mann. Zieh sie an.«

Alex ließ die Sandalen fallen und schlüpfte mit den Füßen hinein. Die Sandalen waren zwei Nummern zu groß, hatten aber mehr oder minder die richtige Form für seine Füße und würden wohl kaum abfallen. »Für zwei Minuten Arbeit gar nicht so schlecht, Carol.«

»Herzlichen Dank, Mann. Da du und deine Schwester beide reicher seid als Gott, darfst du mir ruhig ein paar tausend Dollar dafür geben.« Carol beäugte ihn mißtrauisch. »Mann, Jane hat wirklich nicht zuviel versprochen. Eher zuwenig!«

Alex ließ das so im Raum stehen. »Juanita hat gemeint, ich soll bei den Leuten dort drüben bleiben, bis sie zurückkommt.«

»Dann solltest du das besser mal machen, Mann. Aber sei so nett und stell dich nicht in den Wind.« Carol trat vom Wagen zurück. »Und spiel nicht mehr mit unseren Telefonen rum, okay? Peter wird echt nervös, wenn Amateure mit unseren Telefonen rummachen.«

»War nett, dich kennenzulernen«, sagte Alex. Carol winkte knapp und ging fort.

Alex setzte behutsam die Füße auf den Boden von Westtexas. Das schmalhalmige Präriegras wirkte ganz okay, aber ansonsten war der steinige Boden mit einer erschreckenden Vielzahl kleiner, zähstengliger Unkrautpflanzen übersät, alle gerammelt voller Kletten, Dornen und hautreizender giftiger Borsten.

Alex trippelte geziert zu der Gruppe mit dem Dreibein. Die Leute waren beschäftigt. Sie hatten den Hals eines Rehbocks mit purpurfarbenen Hörnern mit einem Flaschenzug verbunden, der an der Verbindungsstelle dreier hoher Zeltstangen befestigt war. Sie waren zu viert; zwei Männer in langärmliger Jagdkleidung und zwei abgebrühte Frauen in blutbeschmierten Papieranzügen und Geländestiefeln. Einer der Männer - er trug eine Brille - hatte ein elektrisches Gewehr umgeschnallt. Alle trugen sie Trouper-Armbänder.

»¿Que pasa?« fragte Alex.

»Wir nehmen Bambi aus«, antwortete der andere Mann und zog ächzend das Seil stramm.

Die Jäger hatten das Tier bereits unterwegs ausgeweidet.

Alex beäugte interessiert den schlanken, schwankenden, ausgeweideten Kadaver.

Die größere der beiden Frauen zog ein Bowiemesser aus eisblasser Keramik aus der Scheide und machte sich an die Arbeit. Sie packte beide Hinterbeine des baumelnden Rehbocks, dann schnitt sie zwischen den Haxen eine fleischige, übelriechende Drüse heraus. Sie warf die blutige Drüse beiseite, wischte das Messer ab, steckte es wieder in die Scheide und hob ein kleineres, etwa daumenlanges Messer vom Boden auf.

Der Mann mit dem Gewehr schenkte Alex einen gleichgültigen Blick. »Neu im Camp?«

»Yeah. Ich bin Alex. Juanita ist meine Schwester.«

»Wer ist Juanita?« fragte der Mann mit dem Gewehr. Der andere deutete mit dem Daumen auf die Jurte in der Mitte des Lagers. »Oh«, machte der Mann mit dem Gewehr. »Du meinst Janey.«

»Das darfst du Rick nicht übelnehmen«, sagte die größere der beiden Frauen. »Rick programmiert.« Mit einem raschen Schnitt fuhr sie um den Hals des Hirsches, dann schnitt sie am Hals entlang bis zur Brust und rechtwinklig weiter bis zum Ende beider Vorderbeine. Sie ging sehr geschickt dabei vor. Unterstützt von der anderen Frau machte sie sich daran, die Haut methodisch vom glänzenden, nackten Fleisch abzuziehen.

Alex rüttelte an einer der Stangen des Dreibeins. Sie wirkte äußerst stabil. Die Bambusstange war mit einem dieser modernen Lacke gefirnißt. »Wollt ihr das etwa essen? Ich glaube, ich habe noch nie Wild gegessen.«

»Wenn Ellen Mae in der Nähe ist, dann ißt du das verrückteste Zeug in ganz Texas«, sagte der andere Mann.

»Halt's Maul, Peter«, meinte Ellen Mae temperamentvoll. »Wenn du richtiges Essen nicht magst, dann bleib eben bei deinem Purina-Katastrophen-Fraß.« Sie schaute Alex an. »Diese großen Jäger machen sich nichts aus mir. Reich mir mal die Säge.«

Alex betrachtete Ellen Maes Metzgerwerkzeuge auf der Unterlage aus Rohleder. Er erkannte die Knochensäge an der langen, gletscherfarbenen, funkelnden Schneide. Er bückte sich und hob sie auf. Die Keramikschneide war dauerhaft von Blut verfärbt, der Griff mit Karomuster war abgenutzt, aber jeder einzelne Sägezahn war so scharf wie eine frische Glasscherbe. Es war ein wundervolles Werkzeug, dessen Wirkung man um alles in der Welt nicht am eigenen Leib erfahren wollte. Alex hieb versuchsweise ein paarmal durch die Luft, worauf die anderen zu seiner Verwunderung beiseite sprangen.

»Entschuldigung«, sagte er. »Megastarkes Ding.« Er faßte das Messer behutsam bei der Schneide und reichte Ellen den Griff.

Ellen nahm es ungeduldig und sägte die Beine des Hirsches an den Kniegelenken ab. Nach nur einer Minute war sie mit allen vieren fertig. Die andere Frau stapelte die abgetrennten Beine säuberlich aufeinander.

»Auf den ersten Blick siehst du Jane gar nicht so ähnlich, weißt du, aber jetzt allmählich fällt mir die Ähnlichkeit auf«, meinte Peter.

»Kann schon sein«, erwiderte Alex. »Bist du der Peter, der hier für die Telefone zuständig ist?«

»Yeah, das stimmt«, sagte Peter erfreut. »Peter Vierling. Ich zapfe die Masten an. Satelliten, Funkanlagen, die Relais, das ist alles mein Gebiet.«

»Gut. Dann haben wir beide was miteinander zu erledigen.«

Peter blickte ihn mit so unverhohlener Verachtung an, daß Alex erst mal sprachlos war. »Irgendwann nach dem Essen«, setzte er dann hinzu. »Hat keine Eile, Mann.«

»Was zu essen scheinst du wirklich nötig zu haben, Kleiner«, meinte Rick, der Programmierer. »Du brauchst wirklich mehr Fleisch auf den Knochen.« Er tätschelte seinen Rucksack. »Hab da was richtig Gutes für dich. Du kannst Bambis Leber haben.«

»Großartig«, sagte Alex. »Bambis Keulen und die Brust sehen ja ganz schmackhaft aus… Hat schon mal einer von euch Menschenfleisch probiert?«

»Was?« sagte Peter.

»Als ich das letzte Mal in Matamoros war, hab ich Menschenfleisch gegessen«, sagte Alex. »Ist im Moment ziemlich beliebt.«

»Kannibalismus?« fragte Rick.

Alex zögerte. Mit dieser heftigen Reaktion hatte er nicht gerechnet. »Meine Idee war's nicht. Ich bin halt irgendwie so reingeplatzt.«

»Davon habe ich schon mal gehört«, meinte Ellen Mae bedächtig. »Hat was mit Santeria zu tun, diesem Yoruba-Kult.«

»Nun, es ist ja nicht so, daß man ein großes Menschensteak vorgesetzt bekäme«, sagte Alex zurückhaltend. »Es wird in Würfelform serviert. Auf einem Silberteller. Wie Fondue. Roh essen sollte man es jedenfalls nicht, wegen dem Infektionsrisiko, wißt ihr. Daher gart man es auf diesen kleinen Gabeln.«

Lange Zeit sagte niemand was. Die beiden Frauen hielten sogar mit dem Abhäuten inne. »Und, wie schmeckt es?« fragte Rick.

»Na ja, macht nicht viel her, wenn man's erst mal gegart hat«, sagte Alex. »Es wurde in eine Art Fonduetopf getunkt und zum Abkühlen auf diese kleinen Gabeluntersetzer gelegt. Und dann haben wir die Fleischwürfel einen nach dem andern gegessen, und alle machten ein ziemlich ernstes Gesicht.«

»Wurden irgendwelche Gebete gesprochen?« erkundigte sich die andere Frau.

»An Gebete erinnere ich mich nicht mehr… Es hatte früher mal was mit Santeria zu tun, schätze ich, aber mittlerweile gehört es mehr zum Drogengeschäft. Viele Drogenleute sind nach der Legalisierung auf Organschmuggel und solche Sachen umgestiegen, daher schwirrt eine Menge… na ja, ihr wißt schon.«

»Eine Menge Ausschuß herum?« schlug Peter vor.

»Dieser Typ verarscht uns doch«, meinte Rick.

Alex schwieg. Seine Gastgeber in Matamaros hatten ihm gesagt, es sei Menschenfleisch, hatten aber keine frischen Knochen vorgezeigt, daher hätte es ebensogut Kaninchen sein können. Ein großer Unterschied war eh nicht zu erkennen, solange man nur glaubte, man äße Menschenfleisch…

»Das ist ein Grenzphänomen«, sagte er schließlich. »Una cosa de la frontera.«

»Treibst du dich wirklich mit Drogendealern herum?« fragte Rick.

»Aus Drogen mache ich mir nichts«, sagte Alex. »Ich stehe mehr auf medizinische Versorgung.«

Alle vier brachen in Gelächter aus. Aus irgendeinem Grund fanden sie die grundlegende Tatsache seines Lebens komisch. Alex schloß daraus, daß er es mit geistig zurückgebliebenen Provinzlern zu tun hatte, und nahm sich vor, sein Verhalten darauf einzustellen.

»Erzähl unserem Freund Alex von der Besichtigungstour«, meinte Rick drängend.

»Ja, klar«, sagte Peter. »Weißte, Alex, wir haben hier eine Menge Besucher. Besonders zur Hauptsaison im Frühjahr. Und wir haben festgestellt, daß die sich am leichtesten einen Überblick über unsere Tätigkeiten verschaffen können, wenn sie das Lager mit einem Ultralight überfliegen.«

»Ein Flieger«, sagte Alex. Er blickte Ellen und die andere Frau an, die sich ihm noch nicht vorgestellt hatte. Die beiden Frauen waren eifrig damit beschäftigt, die linke Schulter des Tieres abzutrennen.

»Yeah. Wir haben zwei bemannte Ultralight. Außerdem drei motorbetriebene Paraglider, aber die sind was für Experten. Interesse?«

»Hab's noch nie probiert«, sagte Alex.

»Der Ultralight ist mit einem eigenen Navigationssystem ausgestattet«, meinte Peter. »Genau wie ein Auto! Bloß sicherer, denn in der Luft gibt's keinen Verkehr und keine tückischen Straßenbedingungen. Du brauchst keinen Finger zu rühren.«

»Fliegt er richtig schnell?« fragte Alex.

»Nein, nein, überhaupt nicht.«

»Und in welcher Höhe? Fliegt er richtig hoch?«

»Nein, sehr hoch kommst du damit nicht.«

»Dann klingt es nicht besonders interessant«, sagte Alex. Er zeigte auf den Kadaver. »Was bedeutet eigentlich diese seltsame Verfärbung am Schulterblatt? Ist das normal?«

»Also«, schaltete Rick sich ein, »er kann verflucht hoch fliegen, aber dann müßtest du Sauerstoff mitnehmen.«

»Ihr habt Sauerstoff?«

Rick und Peter wechselten Blicke. »Klar.«

»Kann ich den Rundflug auslassen und bloß etwas Sauerstoff haben?«

»Warte, bis du die Maschine siehst«, meinte Peter ausweichend. »Wenn du die Maschine erst mal gesehen hast, kennst du bestimmt kein Halten mehr.«

Alex folgte den beiden durchs Camp, wobei er seine Schritte auf dem tückischen Boden vorsichtig setzte. Das wenige, das er vom Camp sah, wenn er einmal von seinen gefährdeten Füßen hochschaute, beeindruckte ihn nicht sonderlich. Die Atmosphäre hatte etwas Mönchisches an sich, eine Art militärischer Strenge. Vier skelettartige Masten beherrschten das Lager, gespickt mit Radarschüsseln, komplizierten Antennen, armdicken Kabeln, Kabelführungen und sich drehenden, schüsselförmigen Windmessern. Drei große verdreckte Busse waren unter einem Sonnenschutz aus Papier abgestellt, außerdem drei Robotbikes. Ein Traktor mit einer Planiervorrichtung und einer spiralförmigen Grabvorrichtung hatte eine Reihe großer Wasserdestillen errichtet, aus denen es in einen mit einem Hahn versehenen Plastikbehälter tropfte.

Die drei Männer blieben vor dem mit einem Vorhang verhängten Eingang einer anderen Jurte stehen. Zwei gewaltige Winschen, auf deren motorbetriebenen Walzen dünnes, verheddertes Kabel aufgerollt war, flankierten den Eingang.

Alex folgte den beiden Männer am dicken Vorhang vorbei ins Zeltinnere. Die Jurten bestanden aus wattiertem Papier, das über kreuzweise angeordnete, spreizbare Gitter aus lackiertem Holz gespannt war. Die diamantförmigen Ränder der Gitter waren akkurat und fest miteinander verbunden, und acht dieser Gitter bildeten, zu einem weiten Ring gebogen, die runde Wand der Jurte. Von den Spitzen der Gitter führten sechzehn gebogene, lackierte Bambusstangen zu einem Ring in der Mitte hoch und stützten das Kuppeldach aus weißem Papier.

Die Papierwände flatterten leicht im stetig wehenden Wind, doch im Innern herrschte ein erstaunlich kräftiges, perlmutt-farbenes Licht, und mit dem teppichbedeckten Boden wirkte die Jurte ausgesprochen wohnlich und stabil. Alex stellte fest, daß er sich in einem kleineren Flughafenhangar voller Flugdrachen, Rümpfe, Rundträger aus geschäumtem Metall und großen Bündeln verstärkten Segeltuchs befand. Ein Trouper war gerade bei der Arbeit und saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Kissen inmitten eines Durcheinanders von Spezialwerkzeugen. Sein Gesicht war hager und wettergegerbt, und sein Schädel, von dem ihm ein paar glatte, farblose Strähnen auf die Schulter hinunterhingen, war nahezu kahl und von Sommersprossen gesprenkelt. Er hatte ein schwarzes Trikot an und trug einen schwarzen Klumpen Metall an einem Rohlederriemen um den Hals.

»Na, wie läuft's, Bussard?« fragte Peter.

Bussard sah von einer Kabelverbindung auf, die er selbstvergessen betrachtet hatte. »Wer ist der Typ?«

»Alex Unger«, sagte Alex. Er näherte sich dem Mann über den gnädigerweise mit Teppich ausgelegten Boden und streckte ihm die Hand entgegen.

»Boswell Harvey«, meinte Bussard überrascht, ließ das ausgebaute Maschinenteil fallen, an dem er gearbeitet hatte, und ergriff Alex' Hand. »Ich mache mit… äh… ich mache mit Ornithoptern mm.«

»Buss, wir brauchen den Ultralight«, sagte Rick.

»Also, Amethyst ist da«, meinte Bussard.

»Beryll tut's auch«, sagte Peter.

»Oh«, erwiderte Bussard. »Ja, klar.« Alex bemerkte in seinen verschleierten Augen einen Schimmer des Begreifens. »Ich kann ihn von hier aus booten, an Ort und Stelle.« Er schlenderte zur anderen Seite der Jurte und ging vor einem verkabelten Laptop in die Hocke. Er klappte ihn auf, betrachtete die Anzeige und tippte auf das Keyboard ein.

Peter und Rick führten Alex nach draußen und zu einem nahegelegenen Sonnenschirm. Der Unterstand aus Papier mit seinen Bambusstangen wandte die Rückseite dem Wind zu und war fest im kalkhaltigen Boden verankert. Die darunter stehenden Ultralights, denen die Tragflächen fehlten, waren mit starken Seilen angepflockt. Wahrscheinlich für den Fall einer plötzlichen Bö.

Rick überprüfte eine Reihe von Steckverbindungen am Motorengehäuse, während Peter sich daran machte, die linke Tragfläche zu befestigen.

»Ich weiß, der Flügel sieht im Moment nicht allzu gut aus«, versuchte Peter Alex zu beruhigen, »aber in der Luft ist er äußerst aerodynamisch.«

»Kein Problem«, murmelte Alex.

»Guck dir mal an, was wir alles für die Sicherheit getan haben - Diamantbolzen und Nieten an jeder Spante! Mann, früher hatten wir überhaupt keine Diamantteile. Ich bin damals in der Gegend von Oklahoma auf den Fernsehmasten rumgeklettert, und die ganze Zeit mußten wir uns Sorgen machen wegen diesem mechanischen Stress«, meinte Peter lachend. »Manchmal kommt's mir ja wie Beschiß vor, daß wir die Diamanten in alles mögliche einbauen! Aber, verdammt noch mal, so ist es halt, Mann; wenn man so ein Zeug zur Verfügung hat, dann setzt man's halt auch ein.«

»Yeah«, überlegte Rick laut, »ich erinnere mich noch an diesen elementaren Reiz, der von der Hardware ausging, als Diamant wirklich billig wurde.«

»Yeah«, meinte Alex, »ich erinnere mich noch daran, daß meine Mutter über diese Entwicklung richtig sauer war.« Er untersuchte den Ultralight. Die Tragflächen wirkten unglaublich lang und dünn, doch als Peter die Verstrebung mit einer Knarre spannte, erschienen sie auf einmal ausreichend fest und steif. Das kleine Flugzeug hatte einen großen, gepolsterten Fahrradsitz mit Steigbügeln aus Schaummetall, außerdem eine gepolsterte Rücken- und Nackenstütze aus skelettartigem Schaummetall, einen stabilen Hüftgurt und Schultergurte. Motor und Propeller waren an der Rückseite in einem großen Plastikkäfig untergebracht.

In einen Plastikwulst zwischen den Knien des Piloten waren der Steuerknüppel und ein Trackball eingelassen. »Wo ist die Instrumentenanzeige?« fragte Alex.

»Im VR-Helm«, antwortete Peter. »Mit VR kennst du dich doch aus?«

»Klar. Wer nicht?«

»Na ja, ist auch nicht wichtig, denn du wirst dieses Ding sowieso nicht fliegen. Das wird vom Boden aus gesteuert.« Mit geübter Routine rieb Peter das Innenband des Helms mit  Reinigungsalkohol ab, dann putzte er von beiden Seiten das Visier. »Aber paß gut auf den VR-Helm auf, der ist nämlich doppelt soviel wert wie das Flugzeug.«

»Ach was, doppelt soviel, eher dreimal soviel«, meinte Rick. »Laß mich das machen, Peter.« Er paßte die Innengurte des Helms geschickt an Alex' schmalen Schädel an, dann setzte er ihn Alex auf den Kopf. Das fühlte sich an, als werde sein Kopf in eine leichte Bowlingkugel aus Plastik eingepaßt. »Siehst du, wenn du mit bloßen Augen gucken willst, dann läßt sich das Visier einfach so hochklappen… Fühlst du die Antenne hier hinten? Paß auf, daß du nicht dagegen stößt, wenn du dich mit der linken Hand am Holm festhältst, okay?«

»Ist gut«, sagte Alex. Obwohl Peter den Helm mit Alkohol ausgewischt hatte, ging immer noch abgestandener Schweißgeruch davon aus. Alex kam allmählich in Stimmung. Die Situation hatte ihren Reiz. Es hatte ihm schon immer Spaß gemacht, auf Gedeih und Verderb den Geräten anderer ausgeliefert zu sein.

Mit einem Einfallsreichtum, der ihn selbst überraschte, krempelte er sich die Hosenbeine des Papieranzugs bis zum Knie hoch und stopfte die provisorischen Sandalen in die bauschigen Papieraufschläge. Dann setzte er sich breitbeinig und mit bloßen Füßen auf den Sitz. Wenn man die Steigbügel und die Stützen ein wenig anpaßte, war der Sitz gar nicht so schlecht. »Wo ist der Sauerstoff?«

Sie beharrten darauf, daß er keinen Sauerstoff brauchen würde, doch Alex widersprach mit solch unerschütterlicher, dickköpfiger Hartnäckigkeit, daß sie schließlich nachgaben.

Rick besprach sich über Gürteltelefon mit Bussard, bis er den verstaubten Sauerstoffbehälter ausfindig gemacht hatte.

Dann mußte die Atemmaske sterilisiert werden - reine Routine, versicherte ihm Peter, sie sterilisierten einfach alles, was mit Streptobazillen, Grippe- oder Tuberkuloseviren infiziert sein könnte… Schließlich wurde der chromgelbe Behälter ordentlich hinter dem Pilotensitz festgeschnallt, Alex bekam den Ziehharmonikaschlauch über die rechte Schulter gelegt, und das elastische Trageband der Maske wurde an seinem Hals befestigt.

Dann rollte man ihn, sicher in seinem Flugzeug verankert, aus dem Papierhangar hinaus. Das Flugzeug rumpelte auf seinem leichten Hohlfiber-Fahrgestell mühelos dahin. Nach achtzig Metern richteten die beiden Trouper die Nase des Ultralight in den Westwind.

Als Rick den Helm einschaltete, erschien am unteren Rand des Visiers ein unverständliches Pull-down-Menü virtueller Instrumentenanzeigen. Alex probierte ein bißchen mit dem Trackball und dem Click-Button herum. Das System schien zu funktionieren.

Angezogen von dem Wirbel, den sie machten, ließen sich fünf weitere Trouper blicken. Es handelte sich um drei Männer, eine Frau und, worüber Alex sich wunderte, einen Halbwüchsigen. Der Junge schleppte ein hundert Meter langes Zugseil zum Ultralight, dessen Ende am Bug des Flugzeuges eingeklinkt wurde. Zwei Männer verkeilten ein zehn Meter langes Zweibein aus Bambus unter dem Flugzeugbug.

Bussard schaute in der Ferne aus seiner Jurte hervor und zog das Schleppseil mit der Winsch straff, bis das Seil vor Spannung summte.

»Alles klar, Alex?« schrie Rick in Alex' Helm.

»Alles klar.« Alex nickte. »Fangen wir an.«

»Entspann dich einfach, es wird toll werden! Es wird dir gefallen!«

Alex klappte das Visier hoch und blickte Rick an. »Mann, hör endlich auf mit dem Gequatsche. Ich bin bereit, okay? Ihr habt mich angeschnallt, ich hab meinen Sauerstoff. Startet das Scheißding endlich.«

Rick machte ein langes Gesicht und trat zurück. Er entfernte sich aus der Reichweite der Tragflächen, dann nahm er das Gürteltelefon in die Hand und blaffte etwas hinein.

Ein Ruck ging durch das Seil, das Zweibein bohrte sich in den Kreideboden, und das Flugzeug wurde himmelwärts katapultiert.

Die Trommel wickelte das Seil mit wilder, singender Heftigkeit auf, und Alex kam sich vor wie auf einer Achterbahn, so steil ging es empor. Das Seil klinkte sich aus und fiel zu Boden, dann sprang der Motor an.

Das Flugzeug schwenkte herum, um dem Führungsseil an einem der größeren Masten auszuweichen. Dann gewann es, im Uhrzeigersinn kreisend, stetig an Höhe.

»Wie läuft's, Alex?« erkundigte sich Peter über Kopfhörer.

»Alles okay, schätze ich«, antwortete Alex. Unter sich sah er die Prärie, den schwarzen Streifen des Highways, ein paar kümmerliche Zedern bei der Mündung eines schmalen Tals. Die papierenen Anzugärmel flatterten im Wind wie billige Spielzeugfähnchen. Die metallenen Steigbügel schnitten in Alex' nackte Fußsohlen.

Alex warf sich mutwillig auf dem Sitz hin und her. Die Flügelspitzen des Ultralight reagierten entsprechend, wie die Enden einer Schaukel, richteten sich mit Unterstützung der Chip-Steuerung jedoch gleich wieder auf. Der Erdboden wich stetig zurück.

Alex war ein Spielball in den Händen eines unsichtbaren Riesen. Er ruhte in einem Liegestuhl am Geländer eines zwölfstöckigen Gebäudes. Wenn er wollte, konnte er die Gurte lösen, auf einen der Bügel treten, sich vorbeugen und so leicht und mühelos wie ein Meteor zur Erde niederstürzen. Der Tod war nah. Der Tod war nah...

Alex klappte das Visier hoch und fühlte, wie ihm der trockene Wind den Schweiß von den Wangen streifte. »Höher, Mann!«

»Wie du siehst, haben wir hier sechs größere Jurten und vier Fahrzeughangars«, erklärte Peter. »Drei der Masten sind der Fernmeldetechnik vorbehalten, außerdem gibt es noch vier kleinere Masten für die Wetterbeobachtung. Das schwarze Gitter neben dem Latrinenzelt, das sind Solarzellen.«

»Ja, ja«, knurrte Alex.

»Unseren Energiebedarf decken wir jetzt mit Solarstrom, aber die Windgeneratoren laufen ebenfalls rund um die Uhr.«

»Hm…«

»Die großen, weißen Stäbe, die das Camp umgeben, das sind Grenzpfosten. In erster Linie sind das Bewegungsmelder, aber es sind auch einige Sicherheitsvorkehrungen eingebaut; damit solltest du ein bißchen vorsichtig sein. Am Highway haben wir auch ein paar aufgestellt. Die großen, gelben Platten sind Moskitoköder. Die riechen genau wie menschliche Haut, und wenn eine Mücke darauf landet, ist es aus mit ihr.«

Alex klappte das Visier wieder herunter. Er bewegte den Trackball auf die Menüleiste, aktivierte das mit Kommunikation überschriebene Menü und schaltete auf Handy. Peters Stimme wurde mitten im Fremdenführerspiel ausgeblendet. Ein Telefonmenü mit fünfzehn Schnellwahlnummern rollte nach unten. Umsichtigerweise waren auch die Namen beigefügt.

 

  1 Jerry Mulcahey

  2 Greg Foulks

  3 Joe Brasseur

  4 Carol Cooper

  5 Ed Dunnebecke

  6 Mickey Kiehl

  7 Rudy Martinez

  8 Sam Moncrieff

  9 Martha Madronich

 10 Peter Vierling

 11 Rick Sedletter

 12 Ellen Mae Lankton

 13 Boswell Harvey

 14 Joanne Lessard

 15 Jane Unger

 

Das sah ganz nach digitaler Hackordnung aus. Es überraschte Alex, daß Juanita sich mit der Nummer fünfzehn beschieden hatte.

Er klickte die Fünfzehn an. Es meldete sich Juanitas VoiceMail mit dem üblichen Ich-bin-im-Moment-gerade-nicht-da-Spiel. Er unterbrach die Verbindung und klickte die Vier an. »Hier spricht Carol.«

»Ich schon wieder. Ich überfliege gerade euer Camp.«

Carol lachte ihm in die behelmten Ohren. »Ich weiß, Mann, so was spricht sich hier schnell rum.«

»Carol, gehe ich recht in der Annahme, daß das so 'ne Art

Initiierungsritual ist, mit dem man Neulinge durch den Kakao zieht? Und daß mir bald jemand sagen wird, in diesem Flugzeug sei ein schwerer Softwarefehler aufgetreten? Und daß ich ein paar wilde Überschläge und Loopings machen werde, oder wie das Zeug heißt?«

Carol schwieg einen Moment lang. »Für dein Alter bist du ganz schön helle.«

»Was meinst du, wie soll ich mich verhalten? Soll ich den Macho spielen? Oder soll ich mir über Funk die Lunge aus dem Hals schreien und so tun, als wär ich total in Panik?«

»Also, ich hab Zeter und Mordio gebrüllt und mich im Helm übergeben.«

»Dann also die Macho-Tour. Danke für den Rat. Bye.«

»Alex, leg nicht auf!«

»Was ist?«

»Ich glaube, ich sollte dir das besser sagen… Wenn du nicht schreist, und zwar ausgiebig schreist, dann werden sie den kleinen Vogel womöglich so hart rannehmen, bis die Tragflächen abbrechen.«

»Du hast schon interessante Freunde«, sagte Alex. Er unterbrach die Verbindung und schaltete wieder auf Funkverbindung.

»…unterstützen die Generatoren. Außerdem lassen sich die Ziegen damit gut im Auge behalten«, leierte Peter.

»Das ist wirklich hochinteressant«, versicherte ihm Alex. Er öffnete das Ventil der Sauerstoffmaske und drückte sie sich fest auf Mund und Nase. Einen Moment lang meinte er, man habe ihn beschissen, doch dann setzte die Wirkung ein. Der Sauerstoff drang tief in seine Lungen vor und entfaltete sich dort wie eine liebliche, dichte Matte aus kühlem, blauem Pelz.

Die Papierwände des Camps schrumpften unter ihm, als das Flugzeug seinen Aufstieg fortsetzte und sich mit der mathematischen Präzision einer Bettfeder weiter in die Höhe schraubte. Während reiner Sauerstoff bis in sein hellrotes Knochenmark strömte, wurde Alex auf einmal klar, daß er die ideale Methode entdeckt hatte, die texanische Hochebene zu erleben. Der Horizont hatte sich zu phantastischen, planetarischen, erhebenden Dimensionen erweitert. Nichts konnte Alex etwas anhaben.

Aus dieser Höhe betrachtet, zeigte die Luft in Bodenhöhe ihren wahren Charakter. Alex bemerkte den organischen Schmutz der bodennahen Atmosphäre, die den ganzen Horizont umspannte. Sie wies eine dauerhafte Sepiafärbung auf, ein natürlicher Smog aus Schmutzstoffen, Staub und Pollen, aus Moder und Gestank und die Atemwege verstopfenden organischen Ausdünstungen… Im Gegensatz dazu war die hohe, liebliche Luft, die ihn nun umgab, kühl und dünn und unwiderstehlich, ein erfrischender, galaktischer Äther. Alex hatte das Gefühl, sie wehte geradewegs durch ihn hindurch.

In der Ferne schraubten sich mehrere Bussarde auf der Suche nach Aas in einer thermischen Strömung nach unten.

Peters Stimme summte ihm in den Ohren.

Alex nahm die Maske ab. »Was ist?«

»Alles okay, Mann? Du antwortest nicht.«

»Nein. Ich meine, doch! Kein Problem. Es ist toll hier oben! Flieg höher!«

»Es sieht so aus, als hätten wir hier unten ein kleines Softwareproblem, Alex.«

»Tatsächlich?« meinte Alex erfreut. »Einen Moment…« Er preßte sich die Maske aufs Gesicht, sog dreimal scharf die Luft ein. Irgendwo in der tief in seinen Tuberkeln verborgenen teerigen Substanz sprühte auf einmal blauer Schleim wie ein Haufen Wunderkerzen. »Los!« brüllte er.

»Was?«

»Mach schon, Mann, leg endlich los!«

Peter verstummte.

Das Vibrieren der Tragflächen steigerte sich zu einem Rütteln. Auf einmal neigte sich das Flugzeug vornüber und stürzte dem Boden entgegen. Der Fall dauerte fünf nervenzerfetzende, magenumstülpende Sekunden. Das Blut wurde aus seinem Herzen gedrängt, augenblicklich brach ihm der Schweiß aus allen Poren, und er fühlte an Armen und Beinen den eiskalten Griff des Todes.

Dann fing sich das Flugzeug wieder mit heftig rauschender Verkleidung und durchflog den tiefsten Punkt einer Parabel. Alex' Kopf wurde so heftig gegen den Sitz geschleudert, daß er Sterne sah, und er fühlte, wie der Andruck das Blut in Hände und Füße preßte. Aus seiner Brust stiegen große, gummiartige Blasen empor.

Das Flugzeug strebte schwankend dem Zenit entgegen.

Alex preßte seine zitternden Blutwurstfinger auf die Atemmaske und inhalierte gierig frischen Sauerstoff.

Das Flugzeug flog nun in Rückenlage und durchmaß irgendeinen zeitlosen Gipfel gewichtslosen Nichts. Alex, dessen Kopf im Innern des Helms schwamm, betrachtete die gewaltige, jungfräuliche blaue Fläche, die unter seinen nackten Füßen ausgebreitet war, aus Augen, die tränende, verquollene Schlitze waren. Sich loszumachen und in dieses grenzenlose Wunder hineinzustürzen, wäre nicht nur ein, sondern ein Dutzend Leben wert gewesen.

Jane öffnete die Türklappe der Kommandojurte. Im Innern des großen Zeltes tigerte Jerry Mulcahey am Ende einer dicken Glasfaserleitung auf dem Teppich umher. Sein Kopf wurde umschlossen vom ultramodernsten VR-Helm der Truppe, und seine Hände steckten in wulstigen Datenhandschuhen. Jerry trug Papier, einen Rettungsanzug, der von regem Gebrauch kündete. Der rechte Papierärmel und beide Hosenbeine waren mit mathematischen Formeln bekritzelt.

Als Jerry sich umdrehte und auf Jane zukam, erspähte sie durch das dunkle Displayvisier undeutlich sein bärtiges Gesicht, die Augen mit sanft gekrümmten weißen Umrissen versehen.

Jerry hatte Zehn-Kilogramm-Gewichte an den Füßen befestigt, was ihm einen bleiernen, schwingenden Gang verlieh. Jane hatte ihn bei seinen virtuellen Marathonsitzungen schon häufig mit diesen Gewichten umhergehen sehen. Etwa jede Stunde blieb Jerry dann plötzlich stehen, hob die Gewichte hoch und schnallte sie dann an seinen behaarten Handgelenken fest.

Jane schloß hinter sich den Klettverschluß des Eingangs, damit der Westwind keinen Staub hereinwehte. Dann wartete sie mit vor der Brust verschränkten Armen, bis Jerry von ihrer Anwesenheit Kenntnis nahm und aus dem seltsamen Ozean des Cyberspace auftauchte, der seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte.

Schließlich wurde Jerry langsamer, die Karateschläge und balinesischen Gesten, die er mit den Datenhandschuhen vollführte, wurden ein wenig oberflächlicher, und schließlich kam er rutschend vor ihr zum Stehen. Er nahm den Helm ab, dessen Anzeigen verblaßt waren, stützte ihn auf die Hüfte und schenkte ihr ein bärtiges Lächeln.

»Wir müssen miteinander reden«, sagte Jane.

Jerry nickte knapp, dann hob er fragend die zottigen, blonden Brauen.

Jane wandte den Kopf zu den beiden angrenzenden Nebenjurten. »Sind Sam oder Mickey im Moment da?«

»Nein. Du kannst offen sprechen, Jane.«

»Also, ich bin nach Mexiko gefahren und hab Alex geholt. Er ist jetzt da.«

»Das ging aber schnell«, sagte Jerry. Er wirkte angenehm überrascht.

»Schnell und schmutzig«, sagte Jane.

Jerry legte den verkabelten Helm auf den Teppich, ging daneben in die Hocke und nahm schwerfällig Platz. »Also gut, erzähl's mir. Wie schmutzig war es?«

Jane setzte sich neben ihn und senkte die Stimme. »Also, ich habe die Stromversorgung der Klinik unterbrochen, dann, als alles dunkel war, bin ich in das Gebäude eingebrochen, habe Alex mit einer Taschenlampe gefunden und ihn auf dem Rücken rausgetragen.«

Jerry stieß einen Pfiff aus. »Verdammt noch mal! Das hast du ganz allein gemacht? Da haben wir ja ein Monster erschaffen!«

»Ich weiß, ich hab da eine Dummheit gemacht, aber wenigstens war alles schnell vorbei, und ich wurde nicht geschnappt, Jerry. Ich wurde nicht geschnappt, ich hab ihn rausgeholt, und es hat hervorragend geklappt!« Sie schauderte, dann sah sie ihm in die Augen. »Bist du stolz auf mich?«

»Aber sicher«, sagte Jerry. »Klar bin ich das. Ich kann gar nicht anders. Hat dich jemand gesehen?«

»Nein. Außer dir und mir weiß niemand davon. Carol und Greg wissen's auch, aber die würden niemals was sagen. Und Leo, natürlich.«

Jerry runzelte die Stirn. »Du hast Leo doch nicht etwa von dieser kleinen Eskapade erzählt?«

»Nein, nein«, versicherte ihm Jane. »Bis Leo Alex' Aufenthaltsort ausfindig gemacht hat, hatte ich keinen Kontakt zu ihm.« Sie zögerte, beobachtete aufmerksam Jerrys Gesicht. »Aber Leo ist schlau. Ich glaube, er hat rausbekommen, was ich vorhatte. Soviel konnte ich der Email entnehmen, die er mir geschickt hat.«

»Du solltest nicht versuchen, Leo zu durchschauen«, sagte Jerry. »Du kennst Leo nicht. Und ich möchte auch nicht, daß du Leo kennst. Solltest du Leo jemals kennenlernen, wird dir das noch einmal sehr leid tun.«

Sie wußte, daß Jerry ungehalten werden würde, wenn sie weiter in ihn drang, aber sie konnte nicht anders. »Ich weiß, daß du Leo nicht vertraust, und ich tu's auch nicht. Andererseits hat er uns oft geholfen. Es war bestimmt nicht leicht, Alex ausfindig zu machen. Bloß weil er dein Bruder ist, hätte Leo das für mich nicht tun brauchen. Aber er hat es getan, und er hat nie etwas von uns dafür verlangt.«

»Mein Bruder ist ein Gespenst, und Gespenster sind von Berufs wegen leutselig«, meinte Jerry. »Du hast deinen Willen gehabt. Laß Leo von jetzt an in Frieden. Dein Bruder ist eine Sache, aber mein Bruder ist eine andere. Es ist schlimm genug, daß dein Tunichtgut von einem Bruder im Camp aufgetaucht ist, aber wenn mein Bruder herkommen sollte, dann bricht das Chaos aus.«

Jane lächelte. »Weißt du, Jerry, es tut mir wirklich gut, daß du das sagst. Natürlich in einer total kranken, paradoxen Hinsicht.«

Jerry verzog das Gesicht und fuhr sich durchs rotblonde Haar. Es lichtete sich am Haaransatz, und der VR-Helm hatte die Frisur über den Ohren zerquetscht, wie bei einem kleinen Jungen. »Familie ist ein Alptraum.«

»Ganz deiner Meinung«, sagte Jane. Auf einmal fühlte sie sich ihm sehr nahe. Familienprobleme waren etwas, das alle Menschen gemeinsam hatten. Es war nett von ihm gewesen, daß er Alex' Aufnahme in die Truppe zugestimmt hatte, obwohl sie offen über die Unzulänglichkeiten ihres Bruders geredet hatte. Jemand anderem hätte Jerry diesen Gefallen bestimmt nicht getan. Sie verhielt sich dumm und leichtsinnig und war lästig, aber Jerry ließ es ihr durchgehen, als eine Art Geschenk. Weil er sie liebte.

»Wir sollten uns mal ein paar Gedanken machen«, meinte sie. »Die Truppe wird nicht besonders erfreut darüber sein. Alex ist kein Star-Rekrut, das ist mal sicher. Er verfügt weder über besondere Fähigkeiten, noch über eine gute Ausbildung. Und er ist ein Invalide.«

»Wie krank ist er eigentlich? Geht's ihm schlecht?«

»Na ja, ehrlich gesagt, hab ich seine Leiden immer zu neunzig Prozent seiner Hypochondrie zugeschrieben. Dad hat Tausende für ihn ausgegeben, aber man hat nie festgestellt, was eigentlich mit ihm los ist. Jedenfalls kann ich dafür garantieren, daß er keine ansteckende Krankheit hat.«

»Das ist immerhin etwas.«

»Aber er langweilt sich schnell, und dann wird er reizbar und bekommt diese Anfälle. Manchmal sind sie ganz schön schlimm. Aber das war schon immer so.«

»Wer bei der Truppe bleiben will, muß seinen Teil beitragen«, sagte Jerry.

»Das weiß ich, aber ich glaube nicht, daß er lange bleiben wird. Wenn er nicht von sich aus wegläuft, wird ihn die Truppe nach einer Weile rausschmeißen. Die fackeln nicht lange. Und wenn es eine Möglichkeit gibt, hier Ärger zu machen, wird das Alex nicht lange verborgen bleiben.« Jane zögerte. »Blöd ist er nicht.«

Jerry trommelte leise mit den Fingern aufs papierumhüllte Knie.

»Ich mußte das tun, denn er ist mein kleiner Bruder, und er war in ernsten Schwierigkeiten, und ich war mir sicher, daß er sonst gestorben wäre.« Jane wunderte sich, wie weh es tat, das auszusprechen, wieviel aufrichtigen Schmerz und Bedauern sie bei dem Gedanken an Alex' Tod empfand. So weit sie zurückdenken konnte, hatte sie sich über Alex geärgert, und sie hatte gemeint, dadurch, daß sie ihn rettete, einer lästigen familiären Pflicht nachzukommen. Nun aber spürte sie beim Gedanken an Alex' Tod eine brennende, tiefe, unvermutete Emotion, einen Schwall dumpfer Trauer und Panik. Sie war nicht vollkommen offen zu Jerry. Nun, das war schon öfter vorgekommen.

Sie atmete tief durch und faßte sich wieder. »Ich hab Alex aus dieser Scheiße rausgeholt, und ich wünschte, ich könnte Verantwortung für ihn übernehmen. Aber das kann ich nicht. Ich glaube an unsere Arbeit. Du weißt, daß ich daran glaube und mein Möglichstes tue. Aber jetzt habe ich etwas getan, das wirklich nicht gut für die Truppe ist. Ich habe eine Menge Ärger mitgebracht. Tut mir leid, Schatz.«

Jerry schwieg.

»Du bist doch nicht sauer auf mich, Jerry?«

»Nein, ich bin nicht sauer. Das kompliziert alles und bringt uns nicht weiter. Aber das Problem ist simpel, wenn man es simpel sein läßt. Für mich ist dein Bruder auch bloß wieder so ein Traumtänzer. Entweder er leistet seinen Beitrag, oder er fliegt raus.«

Sie sagte nichts.

»Wir schmeißen jedes Jahr Leute aus der Truppe raus. Das ist zwar häßlich, aber so was kommt vor. Falls es deinem Bruder passiert, mußt du dich eben damit abfinden. Bringst du das für mich fertig?«

Sie nickte zögernd. »Ich glaube, ja…«

Das brachte ihr einen von Jerrys berühmten Blicken ein. »Du solltest mir besser gleich sagen, ob du das schaffst. Falls nicht, dann wäre es für uns alle am besten, wenn ich ihn gleich rausschmeiße.«

»Also gut«, sagte sie rasch. »Ich schaff's, Jerry.«

»Vielleicht steht Alex ja seinen Mann. Wir werden ihm die Chance dazu geben.« Jerry stand auf, nahm den Helm in die Linke und ließ ihn an einem Riemen herunterbaumeln.

Jane erhob sich ebenfalls. »Ich bin nicht sonderlich optimistisch, aber vielleicht schafft er's ja, Jerry. Wenn du ihn ein bißchen unter deine Fittiche nimmst.«

Jerry nickte. Er schwang den Helm am Riemen hoch und fing ihn mit der anderen Hand auf. »Ich bin froh, daß du wieder da bist. Du hast dir einen guten Zeitpunkt ausgesucht. Morgen kann dein kleiner Bruder was erleben. Da geht's entlang der Trockengrenze von hier bis Anadarko los.«

»Phantastisch! Endlich!« Jane sprang mit einem Satz auf. »Ein megaschwerer?«

»Kein F-6, aber die mittlere Strömung hat einiges Potential. Wir werden Zacken jagen.«

»Das ist super!« Sie lachte laut auf.

Im Eingang der Jurte tauchte ein Schatten auf. Es war Rudy Martinez, der Mann aus der Werkstatt. Rudy stand verlegen da, anscheinend bedauerte er die Störung. Jane schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln, sie wollte ihm mitteilen, daß das Leben weiterging, daß die Truppe weiterzog, daß sie einen weiteren Trumpf im Ärmel hatte.

Jerry nickte. »Was gibt's, Rudy?«

Rudy räusperte sich. »Tune gerade alles für die Jagd… Was ist eigentlich mit dem Defekt in Charlies rechter Vordernabe?«

»Ach, verdammt«, sagte Jane. »Mist, Mist, Mist… Los, komm, Rudy, das kriegen wir schon hin. Schauen wir's uns mal an.«

 

Alex saß in einer wabbligen Plastikbadewanne und hatte einen tropfenden Schwamm auf dem Kopf. Er befand sich hinten in der Hangar-Jurte, wo Peter und Rick ihn hingeschleppt hatten, nachdem sie ihn vom Sitz des Ultralight losgeschnallt hatten, in dem er bewußtlos hing.

Bussard, durch den VR-Helm von allen weltlichen Dingen losgelöst, hockte mitten in der Jurte auf einem Kissen. Systematisch testete er die Ornithopter zur Vorbereitung auf die bevorstehende Jagd bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

Carol Cooper saß in der Nähe der Wanne auf dem Boden, damit beschäftigt, ein Paar Handgelenkschützer aus gegerbtem Hirschleder zu nähen.

»Könnte ich vielleicht noch etwas Wasser haben?« fragte Alex. »Vielleicht ein paar hundert Kubikzentimeterchen?«

Carol schnaubte. »Mann, du kannst verdammt froh sein, daß du überhaupt was bekommen hast. Meistens waschen wir uns hier mit ungefähr vier Eßlöffeln voll. Das heißt, falls wir uns überhaupt waschen.«

Ein Trouper in hellgelber Katastropheneinsatzkleidung betrat die Jurte, machte einen Bogen um den selbstvergessenen Bussard und reichte Carol eine Plastikspritzflasche und einen Pappkarton mit antiseptischen Handschuhen. »Ich bringe dir das Desinfektionsmittel.«

»Danke, Ed.« Carol zögerte. »Das ist Alex.«

»Hallo«, meinte Alex zurückhaltend.

Ed bedachte Alex wortlos mit einem taxierenden Blick, dann nickte er einmal kurz und ging wieder hinaus.

Alex nahm den Schwamm vom Kopf und betupfte sich damit die Achselhöhlen. »Wie ich sehe, steht die Intimsphäre bei euch hoch im Kurs.«

»Ed ist Arzt«, erklärte Carol. »Er hat dich eben schon untersucht, als du noch flach lagst und über und über mit Kotze bedeckt warst.« Carol verglich den ledernen Ausschnitt mit der Vorlage auf dem Bildschirm ihres Laptops, dann schnipselte sie mit dem Schneidstift noch ein Eckchen ab. »Beim Lagerleben kommt die Intimsphäre immer zu kurz. Wenn wir mal Lust auf Sex haben oder so, dann stehlen wir uns in eins der Wigwams und räumen das Gerümpel beiseite. Wenn man will, kann man auch bis hinter den Horizont fahren und eine Decke über einen Kaktus breiten.« Carol legte die Näharbeit beiseite und hob die Spritzflasche. »Geht's dir jetzt wieder besser, Alex?«

»Yeah. Glaub schon.«

»Und du wirst auch nicht wieder ohnmächtig werden?«

»Ich bin nicht ›ohnmächtig geworden‹«, erklärte Alex würdevoll. »Ich habe mich bloß auf die Erfahrung eingelassen, das war alles.«

Carol äußerte sich nicht dazu. »Dieses Zeug ist ein starkes Desinfektionsmittel«, sagte sie. »Ist so 'ne Art Entlausungsprozedur. Seitdem hier mal ein Staphylokokkenträger aufgetaucht ist und uns schlimme Geschwüre verpaßt hat, muß sich der jeder Kandidat unterziehen.«

Alex nickte. »Ich hatte schon mal Staph-Geschwüre.«

»Aber die Art Staph bestimmt nicht; das war wie eine der ägyptischen Plagen.«

»Ich hatte mal die guatemaltekischen Staph IVa«, meinte Alex. »Von den ägyptischen Plagen hab ich noch nie was gehört.«

Carol schaute ihn eine Weile nachdenklich an, dann zuckte sie die Achseln und wechselte das Thema. »Ich muß dich mit dem Zeug abwaschen. Es brennt ein bißchen.«

»Ah, gut!« sagte Alex und setzte sich gerader hin. Der Wanneneinsatz flappte im dünnen Metallgestell, und die jämmerliche Wasserlache am Boden bemühte sich nach Kräften, zu schwappen. »Weißte, Carol, es ist wirklich nett von dir, daß du dir soviel Zeit für mich nimmst.«

»Schon gut, Mann. Schließlich trifft man nicht alle Tage jemanden, dessen Kotze blau ist.« Sie zögerte. »Habe ich schon erwähnt, daß du noch den Helm saubermachen mußt?«

»Nein, das hast du nicht erwähnt. Aber sonderlich überraschen tut mich das nicht.«

Carol riß die Schachtel auf, nahm ein Paar dünner Plastikhandschuhe heraus und zog sie an. »Anfangs brennt das Zeug ein bißchen, aber keine Angst. Du darfst es bloß nicht in die Augen bringen. Schleimhäute greift es ziemlich stark an.«

»Hör auf, dich zu entschuldigen, und gieß es einfach auf den Scheißschwamm«, sagte Alex und hielt ihn ihr hin.

Carol tränkte den Schwamm mit dem Inhalt der Spritzflasche und goß den Rest in die Wanne. Alex begann sich abzuschrubben. Das seifige Gebräu war gar nicht so schlecht - ein widerlicher medizinischer Pfefferminzgeruch ging davon aus.

Dann fraß es sich allmählich in die Haut.

Alex biß mit tränenden Augen die Zähne zusammen, gab aber keinen Mucks von sich.

Carol beobachtete ihn mit einer interessanten Mischung aus Mitgefühl und unverhohlenem Vergnügen. »Verwandtschaft läßt sich nicht leugnen, stimmt's, Alex? Ich schwör dir, deine Schwester hat genauso geguckt. Mach die Augen zu, dann wasch ich dir Kopf und Rücken.«

Nach einer Weile hörte das scharfe Brennen des Desinfektionsmittels unter Carols gleichmäßigem Schrubben und in der blutfarbenen Dunkelheit seiner geschlossenen Augenlider auf, und er kam sich vor wie ein Kleidungsstück, das gewaschen, gespült und ein wenig allzu drastisch gebleicht wurde. Das Desinfektionsmittel hatte eine eigenartige Wirkung auf den verklebten Schweiß, den Talg und die Schuppen an seinen Haarwurzeln. Riesige Kolonien körpereigener Bakterien gingen unter mikroskopischen Qualen zugrunde.

Carol genehmigte ihm anschließend noch ein paar Tropfen sauberen Wassers, genug, um sich das Haar zu spülen und die Augen auszuwaschen. Jetzt war er mehr als sauber. Er war sauberer, als ihm lieb war. Er war verbrannte, rauchende Erde.

Juanita wählte ausgerechnet diesen Moment, um Hals über Kopf in die Jurte zu stürmen, in Stiefeln, Shorts, T-Shirt und großen, schmutzigen Arbeitshandschuhen, mit zusammengebissenen Zähnen, das Haar mit einem Taschentuch verknotet. In vollem Lauf sprang sie über die Glasfaser-Stolperdrähte von Bussards vernetzten Laptops hinweg. »Alex!« schrie sie. »Alles in Ordnung?«

Er blickte milde hoch. »Hast du das Handtuch dabei?«

»Ich hab gehört, diese Schufte hätten dich solange Loopings fliegen lassen, bis du bewußtlos geworden bist!« Vor der Badewanne kam sie abrupt zum Stehen. Sie schaute Carol an, dann wieder Alex. »Stimmt das?«

»Ich mag den Ultralight«, meinte Alex. »Interessante Dinger. Verschwinde aus meinem Bad.«

Carol brach in Gelächter aus. »Dem geht's gut, Jane.«

»Also, das hätten sie nicht tun dürfen! Wenn sie dir was getan hätten, dann hätte ich… na ja, du hättest ihnen sagen sollen, daß du auf keinen Fall…« Sie brach unvermittelt ab. »Scheiße! Ist ja jetzt auch egal. Wir müssen Stürme jagen. Wir müssen die Geräte kalibrieren.« Sie schlug sich mit einem der Arbeitshandschuhe an die schweißnasse Stirn. »Vergiß es… Alex, tu mir den Gefallen und versuch mal, für zehn gottverdammte Minuten keinen Ärger zu machen, okay?«

»Ich hab doch nur gemacht, was du mir geraten hast«, erklärte Alex erschöpft. »Können wir nicht darüber reden, während du ein Bad nimmst?«

»Alex, du machst mich noch rasend!« Juanita starrte ihn an. »Wenigstens scheint alles mit dir in Ordnung zu sein, hm? Weißt du, du siehst eigentlich gar nicht so schlecht aus! Du wirkst noch ein bißchen blaß und angegriffen, aber sauber gefällst du mir viel besser.«

Alex wechselte erbost ins Spanische über, das sie in ihrer Kindheit zu Hause gesprochen hatten. »Hör mal, alle Welt wird glücklicher sein, wenn du mir vom Leibe bleibst und mich in Ruhe läßt!«

Juanita wirkte überrascht. »Was? Beruhig dich.« Sie schüttelte den Kopf. »Okay, hab schon kapiert. Gut, ich gehe. Wie du willst.« Sie wandte sich mit finsterem Gesicht an Carol. »Peter und Rick! Für die beiden werd ich mir was Besonderes ausdenken.«

Carol schürzte die Lippen. »Sei lieb, Janey.«

»Ja, klar, schon gut.« Juanita ging hinaus.

Alex wartete, bis seine Schwester außer Hörweite war. »Viel verändert hat sie sich ja nicht«, sagte er dann. »Wie haltet ihr bloß diese Scheiße aus?«

»Ach, für uns ist sie ein Gewinn«, versicherte ihm Carol. »Ich mag Jane! Ich mochte sie sogar schon, als sie hier in dieser beschissenen Limousine aufgekreuzt ist! Ich steh auf deine Schwester.«

»Hm«, machte Alex. »Wenn du das so sehen willst, ist das wohl deine Sache.« Er säuberte sich die Arme, dann blickte er sich in der Jurte um. »Wie lange dauert's eigentlich, bis man den demütigen Kandidaten bei euch richtige Klamotten gibt?«

»Also, das ist deine Ansicht, Mann. Vielleicht laß ich mich ja überreden, dir einen Papieranzug zusammenzukleistern, der dir 'n bißchen besser paßt.« Carol zuckte die Achseln. »Aber dafür bist du mir was schuldig. Worauf stehst du?«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, auf welchem Gebiet bist du Experte?«

Alex überlegte. »Na ja, ich bin ziemlich gut darin, mit Kreditkarten komisches Zeugs zu bestellen. Das heißt, wenn ich 'ne verschlüsselte Telefonverbindung kriege.«

Carol kniff die Augen zusammen. »Ui.«

 

Charlies Schaden hielt sich in Grenzen. Ihm fehlte das, was man in dem Gewerbe als ›Gemüseklemmer‹ bezeichnete. Ein dünner Zweig westtexanischer Wilder Rose hatte sich bis in die Fulleren-Schmiere der rechten Vorderachse vorgearbeitet und war dort zu einer Masse aus verbranntem Karamel verflüssigt worden. Jane ging eine Weile Greg und Rudy zur Hand, kletterte auf Charlie hinauf und wieder herunter, unterzog Baker, das ältere Jagdfahrzeug, einem Diagnosecheck und hätschelte ein wenig Able, den dinosaurierhaften Strandbuggy mit Alkoholantrieb. Doch die Uhr tickte, während sich die beiden erfahrenen Mechaniker allmählich zu den komplizierteren Fehlern vorarbeiteten, und irgendwann spürte sie, daß deren Geduld mit ihrem Dilettantismus nachließ.

Jane beschäftigte sich daraufhin eine Zeitlang mit dem Wartungskoloß, eine der strohdummen Maschinen, mit denen der Bundesstaat Texas seine Straßen instandhielt. Manchmal verdienten die Trouper ein wenig Geld damit, daß sie die kaputten Staatsroboter reparierten, außerdem hielten sie damit die Deputies des Sheriffs und die Texas Ranger bei Laune. Hier in Westtexas waren die Reparaturhöfe äußerst dünn gesät, obendrein hegten die Einheimischen aus irgendeinem Grund anscheinend eine Vorliebe für klobige HighwayMaschinen. Den Koloß in der Werkstatt hatte eine Salve aus einer Jagdbüchse von seinem Elend erlöst.

Jane befolgte etwa eine Stunde lang die Reparaturanweisungen eines staatlichen Online-Expertensystems und führte Carols Schweiß- und Klebarbeiten fort, bis sie auf ein Kabelgewirr stieß, dem sie nicht gewachsen war.

Sie trat aus der Werkstattjurte. Der Wind hatte bereits zugenommen und verwirbelte den Mesquitrauch, der aus dem Abzugsloch im Kuppeldach der Küche quoll. Nun, da es auf den Abend zuging, hatte der trockene Wind aus dem kontinentalen Hochland die morgendlichen Kumuluswolken in ausgedörrte Fetzen zerrissen - die Trockengrenze drängte ostwärts.

Jane betrat die Kommandojurte - von Jerry nichts zu sehen - und wandte sich zum Nebenzelt zur Linken, das Kommunikationsbüro.

Sie nahm den unbenutzten Laptop zwischen den behelmten Köpfen von Mickey Kiehl, dem Netzwerk-Sysadministrator der Truppe, und Sam Moncrieff, Jerrys Meteorologie-Schüler. Zunächst loggte sie sich in das truppeneigene lokale Netz ein, dann in das bundesstaatliche SESAME-Netz.

Als erstes ein rascher Blick aufs Satellitenbild. Es sah äußerst vielversprechend aus. Texas war zur Hälfte vom typischen Frühlingsschwall feucht-stickiger Stratuswolken aus dem Golf von Mexiko überschwemmt.

Sie scrollte nordwärts. Bis jetzt sah es nicht danach aus, als ob 2031 ein El-Nino-Jahr werden würde, was in letzter Zeit nur noch selten vorkam. Der hohe, mittelkontinentale Jetstream zeigte sich mehr oder weniger von seiner gemäßigten Seite und stellte nur ein paar seltsame Verrenkungen am Rand der Kaltfront über Iowa an.

Jane wechselte vom Satellitenbild zum Komplex der am Boden stationierten Doppler-Lidars über. Sie sah sogleich, was Jerry mit dem mittelhohen lokalen Luftstrom gemeint hatte. Am Rande der träge übergreifenden Feuchtigkeit befand sich ein großes, flaches Band von Auswurf; um San Antonio herum zerhackte es die vordringenden Stratuswolken zu Walzenmessern.

Aus dem Lautsprecher des Laptops ertönte Mickeys Stimme. »Was meinst du, Jane?«

Sie schaute zu Mickey hinüber. Mickey saß auf dem Teppich und fuchtelte mit den behandschuhten Händen in der Luft herum, Kopf und Gesicht unter seinem persönlichen VR-Helm verborgen. Das abblätternde Helmlogo stellte eine Spottdrossel dar, die auf einem Blitzstrahl saß. Auf einmal kam es Jane ein wenig seltsam vor, daß sich jemand, der nur drei Schritte von ihr entfernt saß, über eine glasfaseroptische Netzwerkverbindung an sie wandte, obwohl er ebensogut das Visier hätte hochklappen und mit ihr reden können. Aber so war Mickey eben.

Sie klickte sich geduldig durch drei Ebenen von Pull-down-Menüs in den Chat-Modus und beugte sich auf das bescheuerte kleine Mikrofon des Laptops hinunter. »Also, Mickey, ich glaube, wenn die mittelhohe lokale Strömung auf die Trockengrenze prallt, wird's ganz schön hoch hergehen.«

»Ich auch«, sagte Mickey mit blecherner Stimme. Die Akustik innerhalb des Helms war wie auf dem Boden eines Fasses. »Gehst du morgen auf Jagd?«

»Klar geh ich, Mann, ich übernehme doch immer die Verfolgung!«

»Südlich von Paducah sind zwei Relais von SESAME ausgefallen, daher müssen wir die Übertragung entweder umleiten oder unser eigenes Relais aufstellen.«

»Mist«, sagte Jane. »Ich hasse diese bescheuerten Vandalen!« Sie blickte auf den Bildschirm des Laptops. »Also, mir scheint jedenfalls, es wird ein gutes Stück südlich von Paducah losgehen. Was meinst du, Sam?«

Sam Moncrieff hob das Visier und blickte sie völlig verwirrt an. »Hä? Hast du gerade eben was gesagt?«

Sie zögerte. »Ja, hab ich. Wo wird's losgehen?«

Sam beschrieb mit der Hand drei Kreise in der Luft, stach einmal mit dem Zeigefinger zu. »Stonewall County. Wumm!«

»Verdammt dicht über uns«, sagte Jane.

Sams sommersprossiges Gesicht strahlte vor Zufriedenheit. »Jerry tippt nicht oft daneben.« Er ließ das Visier wieder zuschnappen.

Die truppeneigene Software machte Jane im lokalen Netz ausfindig und sich selbst bemerkbar. Jane war ziemlich stolz auf diese Software. Es war die einzige Gruppensoftware, die sie jemals installiert hatte - ja, die einzige überhaupt -, die tatsächlich funktionierte, in dem Sinne, daß sie der Gruppe wirklich half, anstatt die User in den Wahnsinn zu treiben. Unglücklicherweise war das Programm Kryptware - es verschlüsselte sich automatisch jeden gottverdammten Monat und mußte bezahlt werden, bevor es wieder lesbar wurde -, aber sie bezahlte die Leasinggebühr aus eigener Tasche, obwohl ihr die archaische Notwendigkeit, für ein Programm gutes Geld bezahlen zu müssen, völlig gegen den Strich ging.

Jane klickte das Programm mehrmals an. Es öffnete sich. Auf dem Bildschirm erschienen Jerrys Anweisungen.

 

Kalibrierung heute 2100 HQ-Jurte

 

11. März 2031

ABLE: Greg Foulkes, Carol Cooper

BAKER: Rudy Martinez, Jane Unger

AERODROMTRUCK : Boswell Harvey, Martha Madronich, Alex Unger

RADARBUS: Peter Vierling, Joanne Lessard

NAVIGATION, NACHSCHUBJEEPS: Joe Brasseur

RESERVETEAM: Ellen Mae Lankton, Ed Dunnebecke, Jeff Lowe

NETZWERKKOORD: Mickey Kiehl

 

Das ABLE-Team bricht um 0630 auf, stellt entlang Unwetterverlauf Monitore auf und deckt Nordflanke ab. Der Radarbus startet um 0700, stellt Drachenrelais auf und deckt das Kaff Paducah rund ums SESAME-Netz ab. Baker startet um 0800 und kümmert sich den Vormittag über um die Masten an der linken Flanke. AERODROM startet hinter Trockengrenze um 0900 und kümmert sich um Düppelstart und VR–Ornithopter. Charlie startet gegen 1200 und kümmert sich um Sekundär-Übertragungsmasten.

 

Also fuhr sie mit Rick. Wie reizend. Wie es aussah, würde man Alex hinten im Aerodromtruck verstauen. Falls Alex meinte, Kunstflug im Ultralight sei eine haarige Sache, würde ihn Bussard schon noch eines Besseren belehren, wenn er auf die Tube drückte und ihn mit dem Ornithopter über VR in den Kern hineinschickte…

Janes Laptop gab ein blechernes Klingeln von sich. Sam und Mickey rissen sich gleichzeitig die VR-Helme vom Kopf. »Verdammt noch mal!« sagte Mickey und rieb sich die Ohren. »Das sollte sie besser mal bleiben lassen!«

Sam stand mit belämmertem Gesichtsausdruck auf. »Wenn Ellen Mae möchte, daß man essen kommt, dann sollte man schleunigst die VR verlassen und essen gehen, mehr kann man dazu nicht sagen.«

»Mir wär's lieber, sie würde was anderes nehmen als 'ne Bohrfutter-Triangel von fünfzig Dezibel, Mann.«

Jane lächelte still vor sich hin. Es machte Spaß, für die gute alte Ellen Mae ein bißchen im Netz herumzuspielen.